Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!
Bo-bomm!
Bomm!
Von irgendwo läßt sich ein sanftes Trommeln vernehmen. Zuerst nur ganz leise, doch dringt es, sich in seiner Vehemenz beharrlich durchsetzend, lauter und lauter durch die Schleier hindurch, die der Schlaf um mich gewoben hat, bis sich diese endlich verflüchtigen und mich aus meinen Träumen in die reale Welt zurückführen. Noch wehre ich mich dagegen, doch schließlich kann ich nicht mehr umhin, die Traumwelt endgültig zu verlassen und meine Aufmerksamkeit diesem unablässigen Trommeln zuzuwenden.
Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!
Ein Weile lausche ich dem Geräusch, das mich aus dem Schlaf geholt hat. Was könnte das sein? Ein tropfender Wasserhahn vielleicht? Nein, dazu ist es zu vielfältig. Das müßten schon mehrere Wasserhähne zugleich sein, die da so stetig vor sich hin tropfen. Und es kommt ja auch gar nicht aus dem Badezimmer. Nein, das Geräusch kommt definitiv von draußen. Es dringt durch das geöffnete Fenster und zwischen den schweren Vorhängen hindurch, die das Zimmer in einem beständigen Halbdunkel halten. Nur durch den schmalen Spalt zwischen ihnen fällt ein wenig Licht des bereits angebrochenen Tages. Von dort kommt auch das ewige Trommeln.
Mein Gehirn kommt nur langsam in die Gänge. Doch schließlich findet es den Gedanken, nach dem es gesucht hat, seit ich von dem Geräusch geweckt worden bin: Regen! Das muß Regen sein.
Auf einmal erscheint mir das Bett als ein ausgesprochen sympathischer Aufenthaltsort für den Tag. Ich könnte mich ja nochmal auf die andere Seite drehen und eine weitere Runde schlafen…
Andererseits ist das Verschlafen des hellichten Tages keine Option, die sehr unterhaltsam und interessant klingt. Und so wirklich müde bin ich eigentlich auch nicht mehr…
Ach, was soll’s! So ein bißchen Regen wird mir nicht den Tag verderben. Und wer weiß, vielleicht hört er ja auch bald auf. Entschlossen schlage ich die Decke zurück und stehe auf. Zunächst will ich mir doch einmal ansehen, was denn das eigentlich für ein Regen ist, der da vor meinem Fenster herumtrommelt. Ich tappe durch das Halbdunkel des Raumes um das Bett herum und ziehe die Vorhänge zurück. Licht strömt ins Zimmer, doch ist es nicht gerade blendend. Dafür ist der Tag, der vor dem Fenster herumlungert, viel zu grau. Und naß.
Das Trommeln, das mich geweckt hat, kommt von irgendwo dort draußen, ohne daß ich genau ausmachen kann, woher eigentlich. Es hört sich so an, als befände sich an irgendeiner Stelle des Hauses in der Nähe meines Fensters ein Blech, auf das Wasser tropft. Daß es der feine Regen ist, der unaufhörlich herniederströmt, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Offenbar sammelt er sich jedoch irgendwo und verursacht stetig fallende Tropfen. Den Klängen nach an gleich mehreren Stellen.
Egal. Ich bin wach. Laß es tropfen.
Ich suche nicht weiter. Stattdessen starte ich frohen Mutes in den Tag. Von dem bißchen Regen lasse ich mir nicht die Laune verderben. Zunächst stehen Waschen, Zähneputzen und Frühstücken auf dem Programm. Und wer weiß, wenn ich damit fertig bin, hat der Regen ja vielleicht auch schon aufgehört.
Tatsächlich ist das der Fall. Als ich den Frühstücksraum meiner Pension verlasse, auf mein Zimmer zurückkehre und einen Blick aus dem Fenster werfe, sind die Regenschleier verschwunden. Der Himmel sieht zwar immer noch so aus, als habe er sich heute in Asche gewandet, doch das stört mich nicht weiter. Solange es einigermaßen trocken ist, wird mich nichts davon abhalten, vor die Tür zu gehen. Allerdings erscheint es mir klug, dem regenschwangeren Wetter doch Rechnung zu tragen und keine Ausflüge in Gegenden zu unternehmen, in denen es vor vom Himmel herniederstürzendem Wasser keinerlei Schutz gibt. Da kommt es mir sehr zupaß, daß sich auf der Liste meiner Ausflugsziele für diesen Urlaub noch eines findet, das sich ganz wunderbar für solch einen Tag eignen könnte: Barth. Die auf dem Festland am südlichen Ufer des nach ihr benannten Boddens gelegene Kleinstadt ist, orientiert man sich an ihrer ersten urkundlichen Erwähnung, fast so alt wie Berlin. Tatsächlich ist sie älter, denn in eben jener Urkunde aus dem Jahr 1255 ist bereits von einer Stadt die Rede. Das könnte also ein für mich als an Geschichte Interessiertem ein lohnendes Ziel sein.
Auch sagen mir meine Erinnerungen, daß wir in unseren Urlauben zu den Zeiten meiner Kindheit und Jugend mehrfach in Barth gewesen sind. Ein Besuch dort gehörte in jedem Jahr einfach dazu. Vieles habe ich zwar mittlerweile vergessen, doch an die bereits geschilderte Fahrt über die Meiningenbrücke erinnere ich mich noch gut. Auch die Passage einer engen Durchfahrt durch eine Art Stadttor taucht aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf, wenn ich an Barth denke; und aus irgendeinem Grund weiß ich noch, daß wir pro Besuch stets nur ein einziges Mal hindurchfuhren. In die Gegenrichtung führte der Weg immer an dem Stadttor vorbei, wohl weil es so eng war. Zwar erinnere ich mich noch gut, daß ich das jedesmal irgendwie enttäuschend fand, doch könnte ich heute nicht mehr sagen, ob das auf der Fahrt in die Stadt hinein gewesen ist oder beim Verlassen derselben. Nun, das werde ich ja vielleicht ergründen können, wenn ich mich jetzt auf den Weg dorthin mache.
Ein kurzer Blick auf den Busfahrplan, den ich über mein Smartphone abrufen kann, belehrt mich, daß ich mehr als ausreichend Zeit habe. Und weil ich weder große Lust verspüre, diese auf meinem Zimmer zu verbringen, noch ein langes Herumstehen an der nahegelegenen Bushaltestelle im Zentrum des Ortes sonderlich verlockend finde, entschließe ich mich zu einem Spaziergang zur Hafenstraße, wo sich, wie ich von meinem Prerow-Rundgang ein paar Tage zuvor weiß, eine weitere Busstation befindet. Bis ich dort bin, dürfte die Zeit bis zur Abfahrt des Busses schon fast heran sein.
Vorüber an den bunten Prerower Wegweisern, die ich dieses Mal allerdings lediglich zu fotografischen Zwecken beachte, da ich sie zum Auffinden des mir bereits bekannten Weges nicht benötige, spaziere ich durch Berg- und Lange Straße der Hafenstraße entgegen.
An selbiger angekommen, habe ich wider Erwarten doch noch mehr Zeit übrig als erwartet. Eine reichliche Viertelstunde muß ich noch auf den Bus warten. Angesichts des nach wie vor tiefgrauen Himmels und der sich beharrlich hinter der Wolkendecke verbergenden Sonne erscheint es mir nicht sehr sinnvoll, diese Zeit mit Herumstehen an der Haltestelle zu verbringen, denn ohne die wärmenden Strahlen der Sonne wird mir an diesem Apriltag doch recht schnell recht kühl. So spaziere ich ein wenig in der Gegend herum und nehme sie in Augenschein. Zunächst fällt mir erneut das Wartehäuschen auf. Mit mir warten einige Personen, die trotz dieses sauertöpfischen Tages recht fröhlich gestimmt scheinen. Ein junges Mädchen in rotem T-Shirt und knielanger blauer Sommerhose, ausgestattet mit Sonnenbrille und Strohhut sitzt auf seinem blauen Koffer direkt neben drei Sitzen, die sämtlich frei sind. Auf deren anderer Seite steht eine junge Familie mit zwei Kindern. Die Eltern tragen beide lange blaue Hosen und schulterfreie Tops, die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, stehen brav vor ihren Eltern und sind ebenfalls recht sommerlich angezogen. Etwas abseits wartet noch ein junger Mann mit Vollbart, der einen Rucksack über die Schulter geworfen hat und einen Koffer in der Hand trägt. Auch er ist lediglich mit knielangen Hosen bekleidet. Daß diese Gesellschaft Wartender bei diesem kühlen Wetter nicht friert und auch die freien Sitze beharrlich meidet, hat seinen Grund. Denn genau wie die Fenster des Häuschens sind alle diese Personen lediglich auf dessen Wand aufgemalt. Eine hübsche und durchaus passende Gestaltung für eine Bushaltestelle.
In Berlin versucht man dergleichen auch immer wieder einmal, doch leider erweist sich ein solches Unterfangen stets als verlorene Liebesmüh, die Perlen vor die Säue streut, denn innerhalb kürzester Zeit sind tumbe Graffiti-Schmierfinken zur Stelle, um die mit viel Liebe gestalteten Wandbilder mutwillig zu beschmieren und so zu zerstören. Und das ist nicht nur in Berlin so. Auch andere der größeren deutschen Städte haben mit diesem Problem zu kämpfen. Es ist mir unbegreiflich, warum es nicht möglich ist, das in den Griff zu bekommen. Andere Städte dieser Welt schaffen das doch schließlich auch. Weder in Singapur noch in Auckland, Sydney, Melbourne, Adelaide oder auch Vancouver und Quebec habe ich derartiges in dem Ausmaß zu Gesicht bekommen, wie es in den Städten unserer heimischen Gefilde gang und gäbe zu sein scheint. Wenn es sich dabei wenigstens um Bilder mit zumindest etwas gestalterischem Anspruch handeln würde, ließe sich noch trefflich darüber streiten, ob das nun Ausdruck einer Art Subkultur oder einfach nur Geschmiere und Sachbeschädigung fremden Eigentums ist. Doch schaut man sich an, was da beispielsweise in Berlin an Hauswänden, Brückenpfeilern, Mauern, auf Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs und an sonstigen Flächen aufgesprüht wird, handelt es sich meist um irgendwelches unentzifferbares Gekrakel, mit dem seine Verursacher vermutlich lediglich eine Marke setzen wollen, die ihr Revier kennzeichnen oder auch nur ein profanes „Ich bin hier gewesen“ mitteilen soll. Am Ende ist es auch wieder nur eine neue Form des heute so allgegenwärtigen Hangs zur Selbstdarstellung. Solche Graffitis offenbaren lediglich die Geist- und Ideenlosigkeit ihrer Urheber. Vermutlich von ihnen ungewollt, doch dafür um so entlarvender. Besonders dreist und unverschämt wird es natürlich, wenn sie dabei die ästhetisch schönen und wertvollen Werke wirklicher Könner auf diesem Gebiet zerstören. Der Stadt und ihren Verantwortlichen scheint es egal zu sein. Ihnen fehlen ganz offenbar nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch der Wille, dies wirksam zu unterbinden. Doch wahrscheinlich ist dies nicht nur ein administratives, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Man kann wohl mit einigem Fug und Recht davon sprechen, daß eine Gesellschaft, die Derartiges widerspruchslos geschehen läßt, sich selbst längst aufgegeben hat – eine Feststellung, die ich einmal irgendwo gelesen habe, wobei mir leider entfallen ist, wo das gewesen ist und von wem sie stammt. Trotzdem erscheint sie mir wahr.
Auf meinem kleinen Streifzug durch die Umgebung der Bushaltestelle bin ich mittlerweile an der Straßenkreuzung angekommen, an der Hafen- und Strandstraße einander begegnen. Als ich ein paar Tage zuvor auf meinem Rundgang durch Prerow hier vorübergekommen war, hatte ich mich nicht allzu lange aufgehalten, denn viel gibt es wirklich nicht zu sehen. Der große Parkplatz, der nur eine zerfahrene Wiese ist, gegenüber die Darss-Passage mit dem Supermarkt und die Straßenkreuzung, an der sich ein kleiner Imbißstand befindet, der sich De lütt Eck nennt und als Prerows Snackbar bezeichnet. Viel mehr ist da nicht. Und doch, nun, da ich hier gewissermaßen die Zeit totschlagend herumlungere, bemerke ich zu meinen Füßen am Straßenrand, zwischen Fahrbahn und Gehsteig, eine Reihe von Blumenrabatten, die ganz offensichtlich liebevoll gepflegt werden und den Frühling in den Ort einladen. Und der hat das Anerbieten dankend angenommen und ist mit einer Reihe von Narzissen als Frühlingsboten in Prerow eingezogen, die mit ihren üppigen gelben Blüten dem heutigen Grautag einen willkommenen Farbtupfer bescheren.
Und als ich gerade noch sinnend auf die hübschen Blumen herunterschaue, entdecke ich ein Stück voraus in Richtung Ortsausgang den Bus. Die Tatsache, daß ich mich ein Stück von der Bushaltestelle entfernt befinde, muß mich allerdings nicht in Hektik versetzen, denn mittlerweile bin ich nach mehreren bereits absolvierten Busfahrten gut darüber informiert, wie sich die Sache mit den Fahrten des öffentlichen Personennahverkehrs in Prerow verhält. Zunächst wird der Bus die Haltestelle an der Hafenstraße ignorieren und direkt ins Zentrum fahren. Nachdem er alle dort wartenden Fahrgäste aufgenommen hat, wird er wenden und schließlich hierher zurückkommen, einen kleinen Abstecher zur Haltestelle an der Hafenstraße einlegen und mir so die Möglichkeit geben, ebenfalls zuzusteigen und die Fahrt nach Barth anzutreten. Bis dahin bin ich ganz gemütlich und in Ruhe zu der Haltestelle zurückgelaufen. Und genauso geschieht es dann auch.
Die Fahrt ist mir bereits hinlänglich bekannt. Wieder einmal passiere ich den Prerower Hafen, den Alten Bahnhof, die Hohe Düne, die Engstelle zwischen Ostsee und Prerower Strom und die Haltestelle Prerow Hertesburg, an der es auch heute keinen Halt gibt. Dann bin ich auch schon wieder in Zingst. Von hier aus geht die Fahrt weiter zur Meiningenbrücke, die wir überqueren, um über Bresewitz und Pruchten schließlich nach Barth zu gelangen. Nun, da ich nach meiner zwischenzeitlichen Beschäftigung mit der Darßbahn und ihrer früheren Route weiß, worauf ich zu achten habe, gelingt es mir, ihre einstige Trasse während der Fahrt nahezu die gesamte Wegstrecke über in der Landschaft auszumachen, folgt die Straße in ihrem Verlauf doch im wesentlichen dem der einstigen Darßbahn. Ab Bresewitz ist das sogar bedeutend leichter, da hier zu großen Teilen noch die alten Gleise liegen. Von Barth bis Bresewitz war die Bahn noch einige Jahre länger in Betrieb gewesen, bis dieser 1947 auch hier eingestellt wurde und man die Gleise entfernte. Allerdings hatte, wie ich bereits weiß, die Nationale Volksarmee der DDR genau zwanzig Jahre später diesen Abschnitt wiederaufgebaut, um ihn für Truppen- und Materialtransporte zu nutzen. Dafür errichtete sie nahe Bresewitz eine Laderampe, über die ihr Übungsplatz in den Sundischen Wiesen und ihr Stützpunkt in Zingst versorgt werden konnten. Bis zur sogenannten Wende im Jahre 1989 blieb die Strecke in Betrieb und ist daher heute noch samt Gleisen vorhanden. Als mein Bus Bresewitz im Süden des Ortes verläßt, kann ich auf der rechten Seite den einstigen Darßbahn-Haltepunkt des Ortes erkennen, an dem es zwar kein Bahnhofsgebäude gibt, wohl aber drei alte Güterwaggons, die dort noch herumstehen und langsam vor sich hinrotten. Und auch das alte Bahnhofsschild und ein Formsignal sind noch vorhanden.
Rund fünfundvierzig Minuten dauert die Fahrt. Als wir die Barthe, einen in den Barther Bodden mündenden, knapp fünfunddreißig Kilometer langen Fluß, überqueren und kurz darauf die ersten Häuser Barths erreicht haben, beginne ich zu überlegen, wo genau ich aussteigen will. Ich beschließe, nicht bis zum Bahnhof mitzufahren, sondern möglichst nah am Zentrum der kleinen Stadt auszusteigen. Gespannt warte ich darauf, irgendwo voraus das alte Stadttor zu entdecken, das heute morgen bereits aus meinen Erinnerungen aufgetaucht war. Werden wir hindurchfahren? Oder drumherum?
Kurz darauf habe ich die Antwort. Gerade als ich durch das Frontfenster des Busses weit voraus ein hohes turmartiges Gebäude mit einer Toröffnung am Boden ausmachen kann, schwenkt der Bus nach links, verläßt die darauf zuführende Straße und umfährt das Zentrum der Stadt weiträumig in Richtung Bodden. Wenige Minuten später kommt er an der am Hafen der Stadt gelegenen Haltestelle zum Stehen. Die Türen öffnen sich und ich steige aus.
Just diesen Moment sucht sich der Himmel aus, um den Regen wieder einsetzen zu lassen. Zwar nieselt es nur leicht, doch ich verspüre dennoch nur wenig Lust, draußen herumzulaufen, während unablässig Wasser von oben auf mich herunterfällt. Wollte ich lediglich ein paar Besorgungen machen, wäre das nicht weiter schlimm, doch für einen Stadtbummel eignet sich Regenwetter eher weniger. So beschließe ich, den Hafen später einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen, und mache mich auf den Weg zum nahegelegenen Marktplatz, wo, wie ich weiß, die Sankt-Marien-Kirche zu finden ist. Eine eingehende Besichtigung des Gotteshauses sollte dem Himmel ausreichend Gelegenheit geben, den Regen wieder einzustellen. Stadt und Hafen würde ich danach noch ausgiebig besichtigen können.
Von der am Hafen vorüberführenden Straße, in der der Bus gehalten hatte und die passenderweise den Namen Hafenstraße trägt, biege ich in die Fischerstraße ein. Bereits nach wenigen Metern passiere ich die einstige mittelalterliche Stadtmauer, was allerdings kaum zu bemerken ist, da sie nicht mehr steht. Lediglich die hier die Fischerstraße kreuzende Mauerstraße erinnert mit ihrem Namen an das historische Bauwerk, das die Stadt einst vollständig umgeben hat. Genau hier hat sich auch eines der vier Tore befunden, die damals Zugang zur Stadt gewährten. Im Pflaster der Straße hat man dessen Standort markiert, indem man links und rechts der mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Fahrbahn die diese begrenzenden Mauern des Turms angedeutet hat. Warum man dafür auf der rechten Straßenseite allerdings erhöhte, in die Fahrbahn hineinragende und sie so verengende Bordsteinkanten verwendet hat, während sich die Markierung auf der linken Seite eben in das Straßenpflaster einfügt, erschließt sich mir nicht so ganz. Aber wie heißt es doch: Die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben. Ich muß unwillkürlich schmunzeln, als mir diese Redewendung aus vergangenen DDR-Tagen durch den Kopf geht.
Die meisten Häuser in der Fischerstraße haben drei Stockwerke, deren oberes durch ein Spitzdach nach oben hin abgeschlossen wird. Bis auf wenige wenden sie ihre Giebelseite der Straße zu. Die Fassaden sehen nahezu alle wie aus dem Ei gepellt aus. Hier hat man in den letzten Jahren und Jahrzehnten ganz offensichtlich viel gemacht. Die Häuserfronten sind sauber verputzt, allerdings meist in nur einer Farbe, was sie ein wenig langweilig macht. Einige wenige Häuser durchbrechen dieses Einerlei jedoch. Eines präsentiert stolz seine Ziegelfassade, ein anderes zeigt sich in schlichtem Fachwerk. Und eines ist dabei, das wohl als das schwarze Schaf der Straße bezeichnet werden muß, denn es scheint ihm nicht gelungen zu sein, es zu etwas zu bringen. Der Putz ist fleckig braun und bröckelt hier und da bereits ab, wodurch er die darunter liegenden Ziegel freilegt. Die Fenster im Erdgeschoß hat man mit Brettern und Sperrholzplatten verrammelt, in den oberen Stockwerken ersetzen, wie es scheint, blinde Plastiktafeln die Scheiben der ansonsten leeren Fenster. Und an der Giebelspitze bröckelt bereits die Dachkante nach und nach weg. Hier wohnt ganz offensichtlich niemand mehr.
Als ich das Ende der Fischerstraße erreicht habe, stehe ich an der nordöstlichen Ecke des Marktplatzes. Sein großes Areal wird an allen vier Seiten von ebensolchen Häusern umstanden, wie ich sie bereits in der Fischerstraße angetroffen habe, allerdings mit dem Unterschied, daß den hiesigen ein viertes Stockwerk gestattet wurde. Doch auch hier sehen allesamt so aus, als seien sie nagelneu. Der Markt besitzt eine rechteckige Grundform, wobei die Ost-West-Ausdehnung die größere Länge aufweist. Nord- und Südseite werden jeweils von einer Baumreihe gesäumt, wobei man die Bäume so zurechtgestutzt hat, daß sie nicht nur einheitlich hoch sind, sondern daß ihre Kronen auch an der Unterseite eine gerade Linie bilden. Zwar sind die Äste um diese Jahreszeit noch kahl, doch wird trotzdem sehr deutlich, daß die Baumreihen wie zwei große, auf mehreren Baumstammstelzen ruhende Balken aussehen. Es ist mir ein ewiges Rätsel, warum sich Menschen die Mühe machen, Pflanzen in ihrem Wachstum so zu dressieren, daß sie strenge Formen und Linien, einheitliche Höhen und strikte Symmetrie einhalten. Das ist in meinen Augen nicht nur gemein, sondern auch ausgesprochen langweilig anzusehen. Mehr Glück hatte da der Baum, der auf der Ostseite des Marktes allein stehen darf. Ihm ist es gestattet, so zu wachsen, wie er will. Der Verzicht auf jegliche Symmetrie, jede Beschränkung in Breite und Höhe und die Wahrung irgendeiner vorgegebenen Form läßt ihn trotz seiner momentanen Laublosigkeit ungleich viel interessanter aussehen als seine bedauernswerten in Reih und Glied gezwungenen Artgenossen an den Seiten des Platzes.
Aufgrund des regnerischen Wetters wirkt der Platz heute etwas trist. Weil er, sieht man einmal von dem einzelnen Baum, dem achteckigen Brunnen mit den drei auf einer Ziegelsäule aufragenden Fischen in der Mitte und ein paar vereinzelt parkenden Autos ab, weitgehend leer ist, dominiert sein rotes Ziegelpflaster das Erscheinungsbild des Platzes. Es glänzt in der Nässe, die der Regen ausgiebig darauf verteilt. Kaum eine Menschenseele ist zu sehen. Wie es scheint, haben es die meisten Bewohner der Stadt vorgezogen, sich im Inneren der Häuser aufzuhalten, wo es warm und trocken ist. Nur wer unbedingt muß, ist jetzt draußen unterwegs. Und ich.
Über den Dächern der Häuser an der Westseite des Marktes, meinem Standort genau gegenüber, kann ich das Dach und den Turm der Sankt-Marien-Kirche aufragen sehen, die sich dahinter befindet. Und weil ich angesichts des Regens keine Veranlassung sehe, mich länger als unbedingt nötig draußen aufzuhalten, lenke ich meine Schritte zielstrebig dorthin. An der Nordwestecke des Marktes angekommen, gehe ich an den Häusern vorbei in die Papenstraße hinein und bin nach wenigen weiteren Schritten an der nördlichen Längsseite der Kirche angekommen.
Eine kleine Grünanlage trennt die Kirche von der ebenfalls mit Kopfsteinen ausgelegten Fahrbahn der Straße. Direkt an der Wand des Gotteshauses führt ein Weg entlang, den ich einschlage. Links neben mir ragen die Backsteinmauern des Kirchengebäudes in die Höhe, die in regelmäßigen Abständen von riesigen, dreigeteilten und nach oben hin in einem spitzen Bogen auslaufenden Kirchenfenstern unterbrochen werden – unmißverständliche Hinweise auf den Baustil der norddeutschen Backsteingotik, der dem Bau zugrundeliegt.
Wann der Grundstein für die Sankt-Marien-Kirche, die das bedeutendste Gotteshaus Barths ist, gelegt wurde, weiß man nicht genau. Vermutet wird, daß es um das Jahr 1250 herum geschah. Aus dieser Zeit stammt der Chor der Kirche, an dem ich als erstes vorübergekommen bin, denn er ist dem Marktplatz zugewandt. Den Namen Sankt-Marien-Kirche trug das in Bau befindliche Gotteshaus damals noch nicht. Dessen erste urkundliche Erwähnung findet sich erst 1340. Gebaut hat man gute zweihundert Jahre. Mit der Vollendung des Turms waren die Bauarbeiten im 15. Jahrhundert schließlich abgeschlossen. Zu dieser Zeit war die Kirche natürlich noch katholisch, schlug doch Martin Luther seine 95 Thesen erst im Jahre 1517 an die Tür der Wittenberger Schloßkirche, womit die Reformation offiziell begann. Und da die Bürger der Stadt damals recht wohlhabend waren und die katholische Kirche gegen Prunk nichts einzuwenden hatte, war die Innenausstattung des Gotteshauses zu jener Zeit noch recht prachtvoll. Das änderte sich jedoch, als die Reformation schließlich auch nach Vorpommern kam und Fuß zu fassen begann. Offiziell eingeführt wurde sie hier um 1535. Das hatte eine erste und gleichzeitig radikale Umgestaltung des Kircheninneren zur Folge. Entsprechend den neuen Ansichten hatte die Ausstattung einer Kirche schlicht zu sein. So entfernte man die prächtige Innenausstattung, die die Bürger der damals reichen Hafenstadt über die Jahre der Kirche hatten angedeihen lassen, und ersetzte sie durch eine bedeutend einfachere Ausgestaltung.
Als sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Aufklärung auch in den deutschen Landen durchzusetzen begann, erfuhr das Gotteshaus eine weitere Umgestaltung. 1820 wurde sie im Stil der Aufklärung renoviert und erhielt eine neue Orgel, die der Berliner Orgelbauer Johann Simon Buchholz gemeinsam mit seinem Sohn Carl August Buchholz schuf. Fast vierzig Jahre später kam es dann zu einer erneuten gravierenden Veränderung. Seit dem Jahre 1815 gehörte Pommern zum Königreich Preußen, dessen König Friedrich Wilhelm IV. der Provinz immer wieder einmal einen Besuch abstattete. Als er bei einer dieser Reisen auch einmal nach Barth kam und die Sankt-Marien-Kirche aufsuchte, mißfielen ihm deren in schlichtem Weiß gehaltene Innenbemalung und die nüchterne Ausstattung offenbar derart, daß er im Jahre 1857 eine umfassende Neugestaltung des Gotteshauses veranlaßte. Den Auftrag dazu vergab er an keinen Geringeren als den Architekten Friedrich August Stüler, einen Schüler Karl Friedrich Schinkels. Berliner sollten ihn als den Schöpfer des Neuen Museums, der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoje, der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel sowie der Kuppel des Berliner Stadtschlosses kennen. Passend zum gotischen Baustil des Kirchengebäudes verhalf Stüler dessen Innenraum zu seinem heutigen Erscheinungsbild, das er im Stile der Neugotik entwarf. Dieses selbst in Augenschein zu nehmen, bin ich mehr als gespannt.
Mittlerweile habe ich eine genau in der Mitte der Nordseite des Kirchenschiffes gelegene zweiflügelige Eingangspforte erreicht, deren Tür sich bei einem Druck auf die Klinke als offen erweist. Somit steht einem Besuch des Inneren der Sankt-Marien-Kirche nichts mehr im Wege und ich trete ein[1]Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende … [Weiterlesen].
Hatte ich erwartet, in einen von Dämmerlicht erfüllten Kirchenraum zu gelangen, so bin ich einigermaßen überrascht, als ich mich stattdessen in einem Kirchenschiff wiederfinde, das zwar von Licht nicht gerade überflutet wird, doch einen ausgesprochen hellen und freundlichen Eindruck macht. Verantwortlich dafür sind nicht nur die hohen, dreiteiligen und nach oben spitz zulaufenden Bogenfenster in den beiden Seitenschiffen, sondern auch die farbenprächtige Gestaltung des Raumes. Die Wände und die mächtigen, die drei Schiffe voneinander trennenden und das Gewölbe der Decke tragenden Pfeiler sind in einem hellen, sandsteinfarbenen Ton gehalten. Die einander kreuzenden Rippen dieses Gewölbes sind ebenso wie die spitz zulaufenden Bögen zwischen den Pfeilern rot und blau bemalt und teilweise mit Ornamenten verziert.
Auf dem Boden des Hauptschiffes stehen die Kirchenbänke, die zwischen den Pfeilern bis in die Seitenschiffe hineinragen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einfache, hintereinander aufgereihte lange Bänke, wie man sie aus vielen Kirchen kennt. Zwar sind die hiesigen, in hellem Grau gehaltenen Sitzgelegenheiten ebenfalls aus Holz und sehen mit ihren senkrechten Lehnen, die in strengen rechten Winkeln zur Sitzfläche stehen, auch genauso unbequem aus wie anderswo, doch hat man hier jeweils mehrere dieser Bänke zu Blöcken zusammengefügt, eingefaßt von hölzernen Wänden, die die gleiche Höhe wie die Banklehnen aufweisen und in denen Türen den Zugang zu den einzelnen Bänken gewähren. Es handelt sich um ein sogenanntes Kastengestühl.
Über dem Mittelgang, der zwischen den Kirchenbänken durch das gesamte Hauptschiff verläuft, hängen drei große Kronleuchter aus einem Metall, das ich für Messing halte. Der mittlere, heißt es, sei eine Stiftung Kaspar Kümmelbergs gewesen, der von 1577 bis 1655 lebte und in Barth Bürgermeister war. Die anderen beiden Leuchter hat der Stralsunder Gelbgießer Dominicus Slodt in den Jahren 1589 und 1590 geschaffen. Das Material dafür gewann man aus dem Deckel des Tauffasses, der dafür eingeschmolzen wurde.
Dieses Tauffaß ist ebenfalls noch in der Kirche vorhanden. Ich entdecke es direkt vor der Kanzel, die sich an der nördlichen Längsseite des Hauptschiffes am vom östlichen Ende aus zweiten Pfeiler befindet. Taufbecken habe ich in Kirchen schon viele gesehen, doch ein Tauffaß wie dieses noch nie. Auch als Tauffünte bezeichnet, gehört es zu den ältesten Stücken des Kircheninventars. Vollständig aus sogenanntem Rotmessing beziehungsweise Bronze bestehend, wurde es in der Zeit nach 1360 geschaffen. Daß mir ein so altes Taufbecken aus Metall ungewöhnlich erscheint, kommt nicht von ungefähr. Der ansonsten gebräuchliche Begriff Taufstein hat schließlich durchaus seinen Grund. Und tatsächlich ist das hiesige Exemplar die einzige erhaltene Bronzetaufe in ganz Vorpommern. Im Grundriß achteckig, zeigt das Faß, dessen Höhe ich auf etwa einen Meter und zwanzig Zentimeter schätze, an seinen acht Seiten jeweils zwei übereinanderliegende Reliefbilder. In jedem von ihnen stehen immer zwei Personen, die dem Kreis der Apostel, der christlichen Heiligen und der Figuren biblischer Geschichten entstammen. Am oberen Rand ragt an jeder der acht Kanten ein kleiner Kopf hervor. Menschen und Tiere sind dabei bunt gemischt. Unten ruht das Faß auf einem großen Fuß, dessen Standfläche den achteckigen Grundriß wiederholt. An vier der acht Seiten stehen darauf Figuren, die so gestaltet sind, daß sie das Faß auf ihren Schultern zu tragen scheinen.
An dem Pfeiler, vor dem das Tauffaß steht, windet sich eine steinerne Treppe zum Korb der Kanzel hinauf. Dieser zeigt an seinen Außenseiten in Feldern mit gotischen Formen als Relief gestaltetes steinernes Blattwerk. Die Felder wurden mit einem tiefblauen Hintergrund versehen, über dem sich die Ranken zu winden scheinen. Während an der unmittelbaren Vorderseite des Kanzelkorbes ein aufgeschlagenes Buch mit den beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega in das Blattwerk eingearbeitet wurde, sind es an den Seiten links und rechts davon Spruchbänder, ein Engel und ein Kelch. Am unteren Rand des Kanzelkorbes, der auf einem mächtigen Sockel ruht, blicken kleine Engelsköpfchen dem Betrachter entgegen. Nach oben hin wird die Kanzel durch eine Abdeckung abgeschlossen, die die Form eines gotischen Turmes besitzt und reich gegliedert ist. Im Gegensatz zum steinernen Kanzelkorb besteht diese Abdeckung aus tiefdunklem Holz.
Ausmalung und ornamentale Gestaltung wurden ebenso wie die Kanzel und die Emporen im Zuge der von Stüler vorgenommenen Umgestaltung entweder erneuert oder gänzlich neu geschaffen. Die Emporen befinden sich an den Seitenwänden der äußeren Kirchenschiffe sowie am westlichen Ende des Hauptschiffs. Während erstere aus Holz bestehen und nur eine Etage besitzen, ist die Westempore aus Stein gemauert und weist zwei Ebenen auf, von denen die obere die Orgel trägt. Das bereits vorhandene gewaltige Instrument hatte Stüler mit einem neuen Prospekt versehen lassen, der seinem Gesamtkonzept entsprechend im Stile der Neugotik geschaffen wurde. So bilden insbesondere Kanzel und Orgel eine gestalterische Einheit.
An einem der Pfeiler, deren Grundriß im übrigen ebenfalls achteckig ist – das scheint ein wiederkehrendes Motiv zu sein -, hat man an fünf seiner Seiten lange Tafeln angebracht, deren Form ebenfalls Elemente der Neugotik aufweist. Die darauf zu lesenden langen Namenslisten weisen sie ebenso wie die am oberen Ende sichtbaren Darstellungen von Kränzen und Eisernem Kreuz als Erinnerungsstätte für im Krieg gefallene Soldaten aus. Die Daten aus den Jahren 1914 bis 1918 zeigen, daß es sich um Soldaten handelt, die ihr Leben im Ersten Weltkrieg verloren und sicherlich alle aus Barth stammten. Insgesamt sind es 286 Namen, die für jedes Jahr nach den Ländern gruppiert sind, aus denen ihre Träger nicht zurückkehrten. Frankreich, Flandern, Rußland, Rumänien, Mazedonien – der Orte sind viele. Und wo man kein Land zuordnen konnte, hat man Gruppen wie „Lazarett“ oder „Auf See“ verwendet. Fast dreihundert Männer, an die der damalige Kriegerverein der Stadt mit diesen Tafeln erinnern wollte. Liest man anderswo, daß der Weltkrieg Millionen tote Soldaten zeitigte, ist das stets eine Größenordnung, die nur schwer Eingang in die eigene Vorstellungskraft findet. Doch die Zahl Dreihundert in Bezug zu einer Kleinstadt wie Barth läßt mit einem Mal deutlich werden, wie groß die Verluste an Menschenleben in diesem Krieg wirklich waren und wie sehr sie die Bevölkerung des Landes betrafen. Männer, die in fremde Lande auszogen, um dort irgendeinen Kampf zu kämpfen, der sie und ihr Leben eigentlich nicht betraf, und aus denen sie niemals zurückkehrten – zu ihren Familien, ihren Frauen und Kindern, ihren Müttern und Vätern, ihren Geschwistern, die von nun an ohne sie weiterleben mußten, betroffen von dem Verlust und dem vielleicht nie ganz zu verwindenden Schmerz darüber. Und dennoch wird die Menschheit nicht klüger. Dennoch werden bis zum heutigen Tage immer wieder Kriege geführt, in denen sich Soldaten gegenüberstehen und gegenseitig töten, die sich nicht einmal kennen und einander vorher nie etwas zuleide getan haben, die jedoch durch Kriegspropaganda so aufgehetzt wurden, daß sie ernsthaft glauben, sie kämpften für irgendeine gerechte Sache oder gegen einen bösartigen Feind und helfen, den Frieden zu sichern, indem sie Gewalt ausüben und töten. Und die Bevölkerung zu Hause wähnt sich derweil an der Heimatfront und übt sich in Haß auf den Gegner, in dem sie das personifizierte Böse zu erkennen glaubt, weil es in den Medien der Mächtigen tagtäglich so steht oder gesagt wird. Und keiner erinnert sich daran, was die älteren Generationen über vergangene Kriege erzählten, wieviel Leid sie brachten, wieviel sie unwiederbringlich zerstörten und welche Lehren man doch einst daraus gezogen zu haben glaubte, als man aus voller Überzeugung „Niemals wieder!“ gelobte. Hassen ist ja so einfach, besonders, wenn man über den vermeintlichen Gegner so gut wie nichts weiß, doch alles glaubt, was einem über ihn gesagt wird. Und so kommen zu den vergessenen Denkmälern vergangener Kriege nach und nach neue hinzu, wenn es denn nach den nächsten Kriegen noch Orte gibt, an denen man sie aufstellen kann, und wenn dann noch jemand da ist, der es tut. Nach dem zweiten der großen Weltkriege war das wohl schon nicht mehr der Fall, denn ein ähnliches Denkmal für die darin zu Tode gekommenen Männer Barths findet sich in der Kirche nicht. Vielleicht gab es einfach nur keinen Kriegerverein mehr, der das hätte tun können. Vielleicht waren es auch einfach zu viele Namen, die man hätte auflisten müssen, als daß sie an einen Pfeiler gepaßt hätten. Und wer weiß – wenn es demnächst erneut zu einem großen Krieg kommt, weil die Deutschen wieder einmal glauben, gegen den Russen in den Kampf ziehen zu müssen, weil die Medien ihnen das gesagt haben, dann wird es in dieser Kirche vielleicht nicht einmal mehr einen Pfeiler geben, an dem man ein weiteres Denkmal für die Gefallenen anbringen könnte…
Ich wende mich von den Tafeln mit den Namenslisten ab und gehe den Mittelgang des Kirchenschiffs entlang in Richtung des Chores, der sich am Ostende des Gotteshauses befindet. Ganz traditionell steht hier der Altar. Handelt es sich dabei zumeist um einen großen, mit einem Tuch verhängten Tisch, auf dem ein Kruzifix und vielleicht ein paar Kerzen stehen, so ist dieser hier etwas ganz Besonderes. Zwar gibt es auch hier einen großen Altartisch, doch ist dieser nicht komplett verhängt. Das große weiße Tuch, das ihn bedeckt, hängt nur an den Schmalseiten wenige Zentimeter herunter, doch insbesondere die Vorderseite läßt es frei. Hier hängt lediglich ein etwa ein Meter breites, hellgraues Leinentuch herab, auf dem ein goldfarbenes Kreuz und darüber eine ebensolche Krone eingestickt sind. Links und rechts davon kann man an den beiden seitlichen Enden des Tisches die beiden steinernen Säulen sehen, die ihn tragen, während die hintere Seite von einer massiven Rückwand abgeschlossen wird. Da diese lediglich unter der Tischplatte zu sehen ist und somit in tiefem Schatten liegt, kann ich leider nicht erkennen, ob sie aus Holz oder Stein besteht. Dafür ist die Kante der Altarplatte um so besser zu erkennen. Sie ist mit dicht aneinandergereihten goldenen Sternen verziert. Auf dem Altar stehen zwei große Kerzen auf schwarzen Leuchtern, zwischen denen man eine Vase aufgestellt hat, in der einige dicht mit weißen Blüten besetzte Zweige stecken. Hinter der Vase ragt ein übermannshohes Kruzifix mit einer marmornen Jesusfigur auf. Das beeindruckendste Accessoire des Altars ist jedoch der hohe Sandsteinbaldachin, der ihn überwölbt. Auf vier in einem Quadrat angeordneten starken Pfeilern ruhend, ist er ebenso wie Kanzelhaube und Orgelprospekt im neugotischen Stil gestaltet und sieht aus wie eine kleine Kirche in der großen. An jedem der vier Pfeiler befindet sich am Ansatz des Baldachin-Daches eine steinerne Statue. Die vier Seiten sind mit großen, spitz zulaufenden Bögen versehen, über denen sich jeweils ein dreieckiger Giebel befindet, auf dessen Spitze eine Engelsfigur steht. Im Inneren des Baldachins ist das Dach als Gewölbe gestaltet, dessen in der Mitte befindlicher Schlußstein die Figur einer weißen Taube trägt. Die Felder des Gewölbes sind mit tiefem Blau ausgemalt, auf dem sich eine Vielzahl goldfarbener Sterne befindet, was den schönen Eindruck erweckt, der Tisch des Altars befände sich unter einem prächtigen Sternenhimmel.
Einen solchen sogenannten Ziborium-Altar hatte Stüler ein paar Jahre zuvor bereits in der alten Berliner Garnisonkirche gestaltet[2]Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler … [Weiterlesen]. Dort war es ihm allerdings nicht möglich gewesen, ihn freistehend in der Mitte des Raumes zu plazieren, wie er das hier getan hatte, so daß der Altar gewissermaßen das Zentrum des Chorraumes bildet. In der Garnisonkirche hatte er ihn stattdessen mit der Rückseite an eine Wand anschließen müssen, was ihm andererseits jedoch die Möglichkeit geboten hatte, den Altar mit einem großen Altarbild über dem Tisch zu versehen. Heute wäre es sicher interessant, diese beiden Werke Stülers miteinander zu vergleichen, doch leider ist die Berliner Garnisonkirche im Zweiten Weltkrieg untergegangen – ein Schicksal, das ihr Ziborium-Altar teilte, auch wenn er sich zu dieser Zeit bereits nicht mehr im Kirchenraum befunden hatte, da er bei einem Umbau im Jahre 1899 von dort entfernt worden war.
Die Wände des Chorraums sind mit Scheinemporen versehen. Im unteren Bereich reihen sich als Spitzbögen ausgeführte Felder aneinander, die von als runde Säulen gestalteten Pilastern voneinander getrennt werden. Darüber ist eine Balustrade zu sehen, die den Anschein erweckt, als befände sich darüber eine Empore. Tatsächlich setzen sich jedoch, sieht man einmal vom ersten Drittel des Chorraumes ab, wo das tatsächlich der Fall ist, die Wände unmittelbar fort. Sie zeigen lebensgroße Darstellungen der zwölf Apostel, die der Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, der in hiesigen Gefilden auch als Barths Michelangelo bezeichnet wird, im Rahmen der von Stüler konzipierten und geleiteten Neugestaltung der Kirche geschaffen hat. Die Freskenmalereien sind von beeindruckender Natürlichkeit und wirken regelrecht lebensecht. Die Apostel sind dabei jeweils paarweise angeordnet und scheinen in von gotischen Baldachinen überdachten Nischen zu stehen, die jedoch ebenfalls aufgemalt sind. Jeder von ihnen ist an charakteristischen Gegenständen zu erkennen, mit denen er in der biblischen Geschichte verbunden ist und die er in der hiesigen Darstellung bei sich trägt. Jacobus der Ältere beispielsweise trägt die Jakobsmuschel sowie Pilgerhut und -stab, während Petrus an dem Schlüssel zu erkennen ist. Paulus hält das Schwert und Johannes der Evangelist den Kelch mit der Schlange. Bei einigen von ihnen bedarf es allerdings der Kenntnis ihrer Attribute nicht, denn ihre Namen sind in die steinernen Sockel zu ihren Füßen eingemeißelt.
Die östliche Rückwand des Chores wird in der Mitte von einem riesigen Fenster eingenommen. Es ist wohl das einzige Buntglasfenster der Kirche und vorwiegend mit roten und blauen Ornamenten gestaltet. Nur in seiner Mitte ist eine große Mandorla[3]Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt. zu sehen, in deren Innerem sich das Bildnis Der auferstandene Christus befindet. Es wurde im Jahre 1889 nach Entwürfen von Professor Andreas Müller geschaffen.
Als ich den Chorraum wieder verlassen will, komme ich an einem kleinen Ständer vorüber, der ein einfaches Textblatt trägt. Es weist mich auf zwei weitere von Karl Gottfried Pfannschmidt geschaffene Bildnisse hin, die sich im sogenannten Gurtbogen des Chores befinden. Der Gurtbogen ist der große steinerne Bogen, der gewissermaßen den Eingang in den Chor bildet und diesen vom Kirchenschiff abtrennt. Da ich meinen Blick beim Betreten des Chores auf den in dessen Zentrum befindlichen Altar gerichtet hatte, waren mir die beiden Gemälde völlig entgangen, obwohl sie sich doch in Augenhöhe und damit bedeutend tiefer als die Apostelfresken befanden. Aus dem Text erfahre ich, daß die Nordseite des Bogens Die Menschwerdung Christi zeigt, während auf der Südseite Die Auferstehung Christi zu sehen ist. Folgerichtig ist auf ersterem Gemälde die von den Hirten umgebene Maria zu sehen, die den neugeborenen Jesus auf ihrem Schoß hält, während das letztere den auferstandenen Heiland zeigt. Die Wahl der Themen für die beiden Gemälde, so heißt es in dem Text, geht auf Pfannschmidt selbst zurück, der sie vorschlug, nachdem Stüler im Anschluß an die Besichtigung der gerade fertiggestellten Apostelfresken angeregt hatte, daß man doch auch den unteren Teil des Gurtbogens noch mit weiteren Malereien Pfannschmidts versehen solle, um zu ermöglichen, daß die großartige Malkunst des Künstlers auch aus der Nähe gesehen werden könne. Und tatsächlich, so beeindruckend und schön die Darstellungen der Apostel im Chor der Sankt-Marien-Kirche auch sind, erst die Betrachtung dieser beiden Gemälde, die ich gewissermaßen direkt vor Augen nehmen kann, läßt mich die großartige Malkunst des Barther Michelangelo so richtig würdigen. Derart lebensechte Darstellungen habe ich in einer Kirche auf den dort üblichen Bildwerken selten zu sehen bekommen. Meist scheinen mir die Malereien religiös stark überhöht, die Figuren entrückt und weit jenseits gewöhnlicher Menschen zu sein. Ein Eindruck, der wahrscheinlich durchaus gewollt ist. Hier jedoch kann ich nicht umhin zu meinen, ganz gewöhnliche Menschen – im besten Sinne – vor mir zu sehen, wie man sie in jenen Zeiten allerorten hätte treffen können. Und doch strahlen die Gemälde gleichzeitig etwas Erhabenes aus, jedoch auf eine Weise, daß man sich als Betrachter nicht klein und weit davon entfernt fühlt.
Über ihren Schöpfer, den Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, erfahre ich später noch, daß er, der ursprünglich aus Mühlhausen in Thüringen stammte, sein Leben in meiner Heimatstadt Berlin beendet hat und auf dem Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof bestattet wurde, wo sein Grab seit 1984 ein Ehrengrab der Stadt Berlin ist. Zu seinen Lebzeiten hatte er gemeinsam mit Peter von Cornelius an der Ausschmückung der Vorhalle des Alten Museums gearbeitet und mit Wilhelm von Kaulbach die Ausmalung des Treppenhauses des Neuen Museums vorgenommen. Manchmal muß man erst ein Stück in die Ferne reisen, um etwas über die eigene Heimat zu erfahren.
Ich bewundere die Bildnisse, den Altarraum und die gesamte Kirche noch eine Weile, doch schließlich habe ich alles eingehend in Augenschein genommen, so daß es Zeit ist, das Gotteshaus wieder zu verlassen. Langsam begebe ich mich zum Ausgang, wo ich durch ein Hinweisschild noch auf die Bibliothek der Kirche aufmerksam werde, die sich in der nördlichen Seitenhalle des Turmes befindet. Sie wurde bereits im Jahr 1398 erstmals erwähnt und umfaßt etwa viertausend vorwiegend kirchengeschichtliche Werke – Handschriften, Bücher und Drucke. Darunter sind nicht nur die umfangreiche Sammlung des Barther Reformators Johannes Block, sondern auch die Erstausgaben sämtlicher Schriften Martin Luthers sowie einige Schriften Philipp Melanchthons. Zwei Weltkriege hatten ihr glücklicherweise nichts anhaben können, so daß sie heute weitgehend vollständig erhalten ist. Leider ist sie nicht öffentlich zugänglich, so daß ich sie nicht selbst in Augenschein nehmen kann.
Als ich schließlich durch die seitliche Kirchentür, durch die ich hereingekommen war, wieder ins Freie trete, muß ich feststellen, daß der Wettergott die Zeit weidlich genutzt hat, um den Regen noch zu verstärken. Nun nieselt es nicht mehr nur, sondern pladdert regelrecht. Zwar kann ich auf dem Straßenbelag noch keine Blasen sich bilden sehen, doch kann das auch daran liegen, daß dieser hier konsequent aus Kopfsteinpflaster besteht, von dem ich nicht weiß, ob Regen darauf üblicherweise Blasen bildet.
Nun, das ist weniger schön. Doch will ich mich davon nicht abschrecken lassen. Das wäre ja noch schöner, denke ich. Wie heißt es doch so treffend? Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unangepaßte Kleidung. Genau! Das bißchen Regen wird mich nicht davon abhalten, mir die Stadt anzusehen.
Mutig laufe ich los. Zunächst geht es zur Westseite der Kirche, denn in dieser Richtung muß, wie ich weiß, das alte Stadttor liegen. Schließlich war mein Bus vorhin von Westen aus in die Stadt hineingefahren. Dort angekommen, finde ich mich vor einem großen Eingangsportal wieder, dessen Spitzbogen von einer dreifach abgestuften Ziegeleinfassung gebildet wird und das damit dem Seitenportal, durch das ich die Kirche zuvor betreten hatte, recht ähnlich ist. Dort waren es allerdings vier Abstufungen gewesen. Die große, zweiflügelige Holztür ist fest verschlossen. Hier kommt niemand hinein oder hinaus. Glücklicherweise hatte ich den an der Nordseite gelegenen offenen Eingang zur Kirche bereits vorher gefunden.
Das Kopfsteinpflaster der Papenstraße, auf der ich unterwegs bin, glänzt vor Nässe, die vom niederprasselnden Regen beständig erneuert wird. Nur wenige Schritte weiter stoße ich auf eine Kreuzung, an der die Papenstraße auf die Dammstraße trifft. An der Ecke steht ein Wohnhaus, dessen prächtige rote Fassade aus einfachen Ziegeln besteht. Über und unter den Fenstern hat man mittels gelber Steine Verzierungen eingemauert. Und zwischen der oberen Etage und dem Erdgeschoß verläuft ein breiter Streifen aus ebensolchen gelben Ziegeln, als habe man das Gebäude mit einer Art zick-zack-gemusterten Bordüre versehen wollen. Das Haus ist der Länge nach entlang der Papenstraße ausgerichtet und wendet der Dammstraße seine schmale Giebelfront zu. Es wirkt mit seinen Verzierungen sehr hübsch, strahlt aber gleichzeitig mit seiner rohen Ziegelfassade eine gewisse Rustikalität aus. Obwohl seine sich in der Dammstraße anschließenden Nachbarhäuser alle eine ähnliche Form aufweisen, ist es leider nur noch eines von zweien unter ihnen, die über eine Backsteinfassade verfügen. Alle anderen Häuser wurden von ihren Besitzern verputzt. Zum Teil hat man dabei auch die klassische Aufteilung in Fensterachsen aufgegeben und stattdessen großformatige Fensteröffnungen geschaffen, die derart riesige Ausmaße haben, daß an den schmalen Giebelfronten nur je eine pro Etage Platz gefunden hat. Dafür ist jedes der Häuser in einer anderen Farbe gehalten, was dem Anblick eine angenehme Buntheit verleiht. Jedes der Gebäude wird nach oben hin durch einen dreieckigen Giebel abgeschlossen. Während sich einige dabei an die klassische geometrische Form halten, bevorzugen andere abgestufte Treppengiebel.
Der Blick in die Straße hinein offenbart mir nicht nur, daß ich weit und breit der einzige Mensch zu sein scheine, der bei diesem Wetter in der Stadt unterwegs ist, sondern auch die Richtigkeit meiner Annahme, daß sich in dieser Richtung das alte Stadttor befinden müsse, kann ich es doch weiter hinten aufragen sehen. Es nimmt die ganze Breite der schmalen Straße ein.
Es sind nur wenige Schritte zu gehen, dann habe ich das Tor auch schon erreicht. Steht man unmittelbar davor, wirkt es in seiner Wuchtigkeit unglaublich beeindruckend. Trotzig ragt der fünfunddreißig Meter hohe Torturm in den grauen, wolkenverhangenen Himmel auf. Die Straße führt direkt auf ihn zu. Nur widerwillig scheint er ihr Durchlaß gewähren zu wollen, denn die spitzbogige Toröffnung ist, obwohl schon die kopfsteingepflasterte Fahrbahn nicht eben breit genannt werden kann, noch einmal schmaler als diese. Darüber ragt die glatte, aus Ziegeln festgefügte Turmwand auf, bis sich im dritten Stock endlich zwei kleine Bogenfenster zeigen. Ob sie über Fensterscheiben verfügen oder einfach die schwarzen Löcher sind, als die sie von hier unten erscheinen, kann ich nicht erkennen. Der vierte Stock tut es dem dritten gleich, allerdings scheinen hier die Fenster schmaler zu sein. Die fünfte Etage besitzt anstelle von Fensteröffnungen nur mehr ein kleines Guckloch, das sich in einem Erker befindet, dessen unteres Ende ebenfalls eine Öffnung zu haben scheint. Und in der Tat – diese sogenannten Trauferker, von denen es an jeder Seite des Turmes einen gibt, waren als sogenannte Pechnasen gestaltet, durch die man auf etwaige Angreifer hätte siedendes Pech hinabgießen können. Darüber erhebt sich das Spitzdach des Turmes, das von einer Wetterfahne bekrönt wird und an jeder Ecke ebenfalls einen Erker aufweist. Diese vier weiteren Vorsprünge sind diagonal ausgerichtet, besitzen ihr eigenes kleines Spitzdach sowie Gucklöcher.
Natürlich war dieser Turm einst nicht als Einzelstück errichtet worden. Vielmehr war er Bestandteil der mittelalterlichen Stadtmauer, in der er gemeinsam mit seinen vier Kameraden, dem Langen Tor im Süden, dem Wiecktor im Osten und dem Fischertor am Hafen im Norden, einen gesicherten Durchgang in die Stadt bot. Er selbst trägt den Namen Dammtor, der auf den Hochwasserschutzdamm Bezug nimmt, der unmittelbar vor ihm begann. Errichtet wurde das Dammtor um das Jahr 1425 herum. Was man von außen natürlich nicht sehen kann, ist der Umstand, daß es im Inneren des Stadttores keine Treppen gab. Von Etage zu Etage gelangte man nur über Leitern, die man jeweils hochziehen mußte, wollte man die nächste Ebene erreichen.
Heute ist nur noch der trutzige Torturm erhalten. Zu Zeiten der Stadtmauer hatte das Dammtor jedoch noch ein vorgelagertes Vortor besessen, von dem der Weg bis zum eigentlichen Haupttor durch Mauern eingefaßt wurde. Auch einen doppelten Wassergraben hatte es gegeben, der vor der Stadtmauer lag und auf dem Weg vom Vor- zum Haupttor überquert werden mußte. Davon ist heute leider nichts mehr zu sehen. Vielmehr wirkt es so, als hätte jemand einst einen großen Turm errichten wollen, sich aber nicht sonderlich darum geschert, ob er mit ihm jemanden behindern oder stören würde, und ihn so mitten auf der Straße plaziert. Weder Stadtmauer noch Vortor noch Wassergraben sind heute noch vorhanden. Lediglich ein paar Reste schmiedeeiserner Torangeln in den Mauern der Durchfahrt zeugen davon, daß diese nicht immer so offengestanden hatte wie heute, sondern mit schweren Holzbohlentoren verschlossen werden konnte.
Warum das Dammtor nicht wie seine anderen drei Pendants und die Stadtmauer insgesamt im 19. Jahrhundert abgerissen wurde, scheint heute nicht ganz klar zu sein. Die an seinen Mauern angebrachten Texttafeln, die ein wenig aus der Geschichte der Barther Wehranlagen plaudern, wissen dazu leider nichts Genaueres zu berichten. Noch im 20. Jahrhundert hatte man Pläne dafür gemacht, doch letztlich lediglich ein paar angrenzende Häuser abgerissen. So blieb das Dammtor als einziges der einstigen vier Stadttore Barths bis zum heutigen Tag erhalten. Daß hier allerdings der Bus, der mich in die Stadt gebracht hatte, nicht versuchte, durch die Toröffnung zu fahren, leuchtet mir angesichts ihrer Enge unmittelbar ein. Er wäre, hätte er es getan, wohl geradewegs steckengeblieben. Mit unserem kleinen Trabant 601 S war das hingegen damals kein Problem gewesen, und so ist mir die Durchfahrt durch das Tor nach wie vor in Erinnerung. Heute kann ich immerhin hindurchlaufen. Und das tue ich auch. Schon, um wenigstens für ein paar Sekunden einmal nicht im Regen zu stehen.
Da es in der Barthestraße, die die Dammstraße auf der anderen Seite des Torturms fortsetzt, nichts weiter zu sehen gibt, was für mich von Interesse wäre, wende ich mich wieder um und gehe in die Stadt zurück. An der Ecke Dammstraße und Papenstraße würdige ich noch einmal den prachtvollen Anblick der Sankt-Marien-Kirche, von dem ich vorher, als ich in der Gegenrichtung unterwegs gewesen war, keine Notiz genommen hatte.
Ich gehe nun auf dieser, der Südseite der Kirche entlang, die ebenfalls durch eine kleine Grünanlage von der Straße getrennt ist. Auch hier gibt es ein in der Mitte der Kirchenwand gelegenes zweiflügeliges Portal, das den anderen beiden stark ähnelt, sich andererseits jedoch von ihnen dadurch unterscheidet, daß auf den Türflügeln zwei große preußische Kreuze zu sehen sind. Auch ist der Spitzbogen hier wieder mit vier Abstufungen versehen. Die Prüfung, ob die Tür offen oder verschlossen ist, spare ich mir diesmal allerdings und gehe weiter an der Grünanlage entlang. An ihrem östlichen Ende stoße ich auf einen großen metallenen Gegenstand, der hier auf der Rasenfläche abgelegt worden ist. Es handelt sich um eine große Glocke, die bei mir mit ihren beeindruckenden Ausmaßen einigen Eindruck schindet.
Eine Grünanlage scheint mir allerdings ein eher ungewöhnlicher Aufbewahrungsort für eine Kirchenglocke – denn um eine solche handelt es sich bei dem guten Stück unzweifelhaft – zu sein. Ganz sicher wird sie hier an diesem Ort keinen Ton mehr produzieren. Doch das muß sie auch nicht, denn sie ist eine der beiden Eisenglocken, mit denen man im Jahre 1925 die zwei kleineren der insgesamt drei Glocken der Kirche ersetzte. Weil Eisen jedoch als Glockenmaterial nicht sonderlich gut geeignet ist, da es nach nicht allzu langer Zeit ermüdet, mußte man die beiden Glocken bereits runde siebzig Jahre später stillegen. Das war 1997. Während die eine von ihnen im Stockwerk unterhalb der Glockenstube in der Kirche verblieb, legte man die andere an dieser Stelle vor der Kirche ab. Die dritte im Bunde, die große Glocke, wurde im Jahre 1911 gegossen, wobei man sich allerdings – wie bereits zweimal zuvor – an der 1585 gegossenen ersten Glocke orientierte. Vielleicht wollte man neben der Rücksicht auf Traditionen auch den mit ihr verbundenen Superlativ nicht verlieren, ist sie doch die zweitgrößte Bronzeglocke Vorpommerns.
Nach wie vor prasselt der Regen ununterbrochen hernieder. Und wie ich mir nun eingestehen muß, ist es ihm mit seiner unverminderten Stärke mittlerweile gelungen, meinen Trotz, den ich ihm zuvor beim Verlassen der Kirche entgegengebracht hatte, Stück für Stück aufzuweichen. Zwar hält ihn meine Regenjacke nach wie vor wirksam von mir ab, doch erweist sich ein Stadtbummel bei Dauerregen dann doch als wenig erbauliche Angelegenheit, zumal inzwischen auch die Kälte beginnt, vom Boden aufzusteigen, meine Schuhe und Strümpfe zu überwinden und meine Beine hinaufzuklettern. So erkenne ich denn zähneknirschend den Sieg des Wetters über meine Pläne und meinen Willen, ihm zu trotzen, an und beschließe schweren Herzens, meinen Ausflug abzubrechen und zurückzufahren.
Ist eine Entscheidung, so ungeliebt sie auch sein mag, einmal gefallen, setzt sie doch neue Energie frei. Und auch das Denken und die eigene Stimmung passen sich unmittelbar daran an, wie ich interessiert an mir selbst beobachten kann. War ich zuvor noch voller Enthusiasmus gewesen, mir alles in der Stadt anzusehen, Neues zu entdecken oder auch auf alte Erinnerungen zu stoßen, so bin ich nun, da ich beschlossen habe, den Regen Regen sein zu lassen und nach Prerow zurückzukehren, nur noch daran interessiert, zu einer Bushaltestelle zu gelangen, wo ich mich in einen Bus setzen und Kälte und Regen für eine Weile entkommen kann. Nun, vielleicht ist es aber auch das Mißempfinden, das mich angesichts fortdauernder Nässe und aufsteigender Kälte befallen hat, das es mir jetzt verleidet, irgendwo noch einmal anzuhalten und eine schöne Hausfassade oder einen anderen interessanten Ort zu bewundern. Nicht gerade mißmutig, doch konsequent verfolge ich mein neues Vorhaben und gehe raschen Schrittes zurück zum Marktplatz und von dort durch die Lange Straße direkt zum Bahnhof. Ich hätte auch zurück zum Hafen gehen können, was vielleicht geringfügig näher gewesen wäre, doch erscheint mir das Warten auf den Bus am Ufer des Boddens, wo der Wind ungehindert wehen und mir den Regen um die Ohren schlagen kann, als die weniger attraktive Alternative.
Von der Langen Straße registriere ich auf meinem Weg eigentlich nur noch, daß sie wohl die Hauptgeschäftsstraße der Stadt ist, denn ich komme an einer Vielzahl von Geschäften aller Art vorüber. Auch daß es hier einige sehenswerte Gebäude gibt, deren eingehendere Betrachtung sich lohnen würde, bemerke ich zwar durchaus wohlwollend, doch weil der Regen seine Intensität nun sogar noch einmal verstärkt hat, weiche ich von meinem gefaßten Entschluß dennoch nicht ab. Ihre Besichtigung wird einem zukünftigen weiteren Besuch in Barth ebenso vorbehalten bleiben müssen wie die des Hafens, den ich eigentlich nach meiner Besichtigung der Kirche noch einmal hatte aufsuchen wollen. Ich setze daher gedanklich einen weiteren Barth-Besuch auf die Liste meiner zukünftigen Vorhaben.
Am Ende der Langen Straße angekommen, befinde ich mich direkt am Bahnhof. Ich setze mich in eines der Wartehäuschen, die sich an dem angeschlossenen großen Parkplatz befinden. Als einige Zeit später der Bus vor mir hält, steige ich ein und fahre den Weg zurück, den ich gekommen bin. Der Regen hört während der gesamten Fahrt nicht auf und prasselt auch auf mich herunter, als ich in Prerow von der Bushaltestelle im Zentrum des Ortes zu meiner Pension gehe. Wie es scheint, umfaßt das Regengebiet mittlerweile nicht nur Barth, sondern die gesamte Region der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst.
Es ist früher Nachmittag, als ich schließlich mit leidlich nasser Regenjacke, doch nicht durchnäßt durch die Tür meines Zimmers trete. Ich werde wohl den Rest des Tages hier verbringen müssen. Nun gut, dann soll es eben so sein.
Ich verfolge einige Zeit das Fernsehprogramm, das mir eindrücklich vermittelt, warum es vor einigen Jahren eine ausgesprochen gute Idee war, den Fernseher aus meiner Wohnung zu verbannen. Was man dort an einem Nachmittag wie diesem geboten bekommt, ist kaum anders zu bezeichnen als mit Volksverblödung.
Da gibt es Quizsendungen, in denen die Fragen entweder so trivial sind, daß man sie auch noch beantworten kann, wenn man sein Gehirn im Tanzbein aufbewahrt, oder so abgehoben, daß selbst ein Hochschulstudium einem keine Chance einräumt, über derartiges Nischenwissen zu verfügen.
Auf einem anderen Kanal läuft eine Sendung, in der sich die Protagonisten redlich mühen, eine Gerichtsverhandlung zu simulieren. Weil das aber so billig wie nur irgend möglich produziert wird, sind die Darbietungen der Darsteller, bei denen es sich ganz offensichtlich um Laienschauspieler handelt, derart schlecht, daß jede Schulaufführung dagegen als hohe Schauspielkunst durchgeht. Von der hanebüchenen Story gar nicht zu reden. Wäre diese wirklich wahr, wie man offenbar den Anschein erwecken möchte, müßte man sich als Zuschauer ernsthaft fragen, ob es bei der Polizei eigentlich noch Ermittler gibt, die ihren Beruf verstehen. Offenbar nicht, denn in jeder dieser simulierten Gerichtsverhandlungen müssen die Anwälte und Richter es übernehmen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, was ihnen natürlich stets durch ihre überragenden Fragen gelingt. Und wo die doch einmal nicht weiterhelfen, tritt garantiert irgendein unglaublicher Zufall auf den Plan, der sich natürlich immer genau zum Zeitpunkt dieser Gerichtsverhandlung ereignet. Der Stuß könnte größer nicht sein und beleidigt die Intelligenz des Zuschauers.
Der Rest des Angebots fällt allerdings auch in diese Kategorie oder, was noch schlimmer ist, in die der regelrechten Menschenverachtung. Wer will, kann dabei zusehen, wie Leute aus den untersten Schichten der Gesellschaft, die dafür wahrscheinlich ein paar dürftige Euro kriegen, vor die Kamera gezerrt und bloßgestellt werden. Hier versuchen schwer Übergewichtige abzunehmen und scheitern dabei, dort probieren notorisch Abgebrannte dies und das, um ihre Schulden zu vermindern, was ihnen jedoch nicht gelingt. Und stets sind scheinbar selbstlose Helfer zur Stelle, die letztlich jedoch nichts anderes tun, als diese Menschen vorzuführen und der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben.
Und dann sind da noch die ganzen anderen Formate, die als Realitätsfernsehen beziehungsweise Reality TV angepriesen werden und doch nur aus einer Aneinanderreihung genauso gestellter Szenen bestehen, wie es bei den Gerichtsshows bereits der Fall ist. Da kann man als Zuschauer Polizisten auf Streife begleiten oder Anwälten bei ihren Ermittlungen über die Schulter sehen, die sie mit der Hilfe von Privatdetektiven offenbar selbst anstellen müssen, weil die Polizei dafür keine Zeit mehr hat, da sie doch das Fernsehen auf Streife mitnehmen muß.
Das Nachmittagsprogramm des deutschen Fernsehens ist nach meinem Empfinden mittlerweile durch die Bank so dämlich, daß es definitiv besser ist, man schaltet den Fernseher umgehend wieder aus. Und weil es mit dem Programm zu anderen Tageszeiten nicht viel besser aussieht, habe ich den Fernseher bereits vor einigen Jahren komplett aus meinem Leben verbannt.
Nachdem ich mich nun also davon überzeugt habe, daß es in der Zeit seitdem mit dem Fernsehen nicht besser, sondern eher noch schlimmer geworden ist, schalte ich den Kasten, der heute ja keiner mehr ist, sondern genauso flach wie das Programm, das er zeigt, aus. Mir gefällt der Gedanke, daß sich das Empfangsgerät gewissermaßen dem Inhalt angepaßt hat.
Ich greife zu einem guten Buch und verbringe den Rest dieses regnerischen Tages zufrieden und ohne Gram über die widrigen Umstände in dem Zimmer meiner Pension. So ein Nachmittag der Ruhe ist ja eigentlich auch mal ganz schön…
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Referenzen
↑1 | Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende verkündet: „Ton-, Film-, Foto- und Videoaufnahmen sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Die Veröffentlichung von Aufnahmen, auch im Internet, ohne Genehmigung ist verboten!“ So muß in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln. |
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↑2 | Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler geschaffenen Ziborium-Altars nebst einem Bild findet sich im fünften Teil der Serie, der den Titel Die zweite Garnisonkirche: Neuanfang und Wiederaufstieg trägt. |
↑3 | Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt. |
Ein Gedanke zu „Barther Kirchentag“
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