„Wir haben zwei Leben und das zweite beginnt, wenn du erkennst, daß du nur eins hast.“
(Mário Raul de Morais Andrade, brasilianischer Schriftsteller und Musikforscher)
Dieser wunderbar kluge Satz bildet die Schlußaussage des Gedichtes „Meine Seele hat es eilig“, von dem es eine sehr schöne Rezitation auf der Website von Gunnar Kaiser gibt. Es stamme, so heißt es mancherorts, eigentlich von dem brasilianischen Theologen Ricardo Gondim. Tatsächlich findet sich auf dessen Website ein sehr ähnlicher Text unter dem Titel „Tempo que foge!“ – „Zeit, die vergeht!“
Schickt man diesen durch einen Übersetzer – ich verstehe leider kein Portugiesisch -, findet man in der Tat weitgehende Übereinstimmungen, aber auch über das Gedicht von Andrade hinausgehende Passagen. Der eingangs zitierte Satz findet sich bei Gondim allerdings nicht. Interessant ist hingegen, daß Gondim in seinem Text Andrade zitiert.
Ob nun Gondim die Gedanken des 1945 verstorbenen Andrade weiterführt beziehungsweise dessen Gedicht verarbeitet hat oder ob sein Text in verkürzter und gleichzeitig erweiterter Form durch’s Internet geistert und Andrade fälschlicherweise zugeschrieben wird – für mich spielt das gar keine so große Rolle. Mögen sich andere darüber den Kopf zerbrechen und dies ausdiskutieren…
Für mich ist die Aussage, die das Gedicht und insbesondere dessen Schlußsatz treffen, von viel größerem Interesse, spiegelt sie doch ziemlich genau das wider, worüber ich mir am aktuellen Punkt meines Lebens und insbesondere in dieser gerade immer dunkler werdenden Zeit vermehrt Gedanken mache:
Was hat Bedeutung in meinem Leben? Was nicht?
Wer ist mir wichtig? Und wem bin ich es?
Wo stehe ich? Was ist erreicht? Was noch nicht?
Was möchte ich vom Leben? Wovon träume ich noch?
Was macht mich glücklich?
Was fehlt noch, damit ich ohne Bedauern und Reue gehen könnte, wenn morgen das Leben vorüber wäre?
Habe ich das zweite Leben schon begonnen? Oder bin ich noch dabei, das erste hinter mir zu lassen?
Zeit nachzudenken. Und zu leben…