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Ein Ort auf dem Darß

Dieser Beitrag ist Teil 2 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Rauh weht der Wind, von Westen über das Meer kommend, über die Dünen, auf denen die Halme des Strandhafers seinem Druck nachzugeben gezwungen sind und sich tief hinunterbeugen, so tief, daß sie mit ihren Spitzen fast den Sand berühren, auf dem sie stehen. Dicke graue Wolken jagen, vom Wind getrieben, über den Himmel und auf das Land zu, wo sie dem Wald, der hinter den Dünen starrsinnig dem Druck der Lüfte trotzt, eine düstere Aura verleihen. Doch auch den Kiefern mit ihren harten Stämmen bleibt angesichts der auf sie wirkenden Kräfte nichts anderes übrig, als diesen nachzugeben. Gemeinschaftlich wenden sie sich vom Meere ab, so als wollten sie sich tiefer ins Innere des windgepeitschten Landes zurückziehen, wo es vielleicht ein wenig ruhiger zugehen mag als hier an der rauhen Küste. Doch vergebens, sie kommen ja nicht vom Fleck. Einige ihrer ganz mutigen Vertreter haben sich ein wenig vor den Rand des Waldes gewagt und den dem Meer abgewandten Hang der Dünen erobert – ein Unterfangen, für dessen Verwegenheit sie nun bitter zu bezahlen haben, sind sie doch recht einsam und allein dem Ansturm des Windes ausgesetzt, der sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften schüttelt und zaust. Ihre Äste in Richtung des nahen Meeres auszustrecken, ist ihnen nicht gelungen, und so stehen sie nun da, mit stark landeinwärts gebogenen Stämmen, die Äste ausschließlich in die gleiche Richtung gestreckt, und wirken so, als wollten sie von dem Platz, den sie sich so mühsam erobert, doch lieber wieder flüchten, um dem Winde endlich zu entkommen. Doch sie müssen verharren und für ihren kecken Vorstoß auf die Dünen Zeit ihres weiteren Lebens Widerstand leisten, wollen sie es nicht vorzeitig beendet wissen.

Und das Meer? Es ist in Aufruhr. Ob seine Wut, mit der es an den Strand brandet, sich gegen den Wind richtet, der seine Wasser so unerbittlich dem Ufer entgegenpeitscht, oder ob es mit diesem gemeinsame Sache macht, um auf das unbeweglich-gleichmütige, düstere Land einzuschlagen, ist schwer zu entscheiden. Unermüdlich rollen seine hohen, schaumbekrönten Wellen dem Strand entgegen, wo sie sich, sobald sie ihm zu nahe kommen, überschlagen und brechen, ein wütendes Rauschen ausstoßend, das, sich mit dem Stöhnen des Windes verbindend, die Luft erfüllt. Der so heftig heimgesuchte sandige Strand ist über und über mit rundgeschliffenen Steinen bedeckt, viele klein wie Kiesel, andere so groß wie eine Faust und einige wenige von größerem Umfang. Doch alle rollen sie, von der unbändigen Kraft des Wassers getrieben, unablässig hin und her, sobald eine Welle sie trifft und überspült. Diejenigen, die erst in jüngerer Vergangenheit die Oberfläche des Strandes erreicht haben, ob vom Meere angeschwemmt oder aus dem Sand herausgespült, sind meist noch unregelmäßig geformt, mit eigenwilligen Ecken und Dellen, mittels derer sie der Kraft des Wassers zu widerstehen scheinen. Doch wie die Windflüchter auf den Dünen, die dem Winde trotzen wollten, müssen auch sie für ihre Widerborstigkeit bezahlen. Jede Welle prügelt auf sie ein, immer wieder werden sie aneinandergeschlagen, bis Teile von ihnen abplatzen oder sie zerbrechen. Andere Steine aber, die es schon vor langer Zeit hierher verschlagen hat, sind im Laufe der Jahre auf diese Weise rundgeschliffen worden, haben ihre Ecken und Kanten nahezu vollständig verloren und lassen sich bereitwillig hierhin und dorthin tragen, wohin auch immer das anbrandende Wasser sie schubst. Ihr Widerstand ist ihnen längst ausgetrieben worden.

Ein solches Bild habe ich in etwa vor Augen, als ich mich am Morgen meines zweiten Urlaubstages in Prerow – des ersten nach meiner gestrigen Ankunft – auf den Weg mache, um, wieder auf den Spuren meiner Erinnerung wandelnd, dem Weststrand entgegenzuwandern. Daß meine damit entsprechend verknüpften Erwartungen sich eventuell nicht gänzlich erfüllen werden, dafür gibt es angesichts des strahlend blauen Himmels und der freundlich vom Himmel lachenden Sonne bereits gewisse Anzeichen, doch denke ich zu diesem Zeitpunkt nicht darüber nach. Und so kann ich jetzt auch noch nicht wissen, daß mir dieser Tag gänzlich andere Erlebnisse bescheren wird, als ich mir, ausgehend von meinen Erinnerungen an unsere einstigen Besuche am Darßer Weststrand in den 1980er Jahren, momentan noch vorstelle.

Da ich mir denke, daß Weststrand wohl Weststrand, sprich es gleichgültig ist, an welcher Stelle ich ihn erreiche, habe ich beschlossen, eine Wanderung zum Darßer Ort zu unternehmen, wo es einen Leuchtturm geben soll. Der Darßer Ort ist der nördlichste Ausläufer der Darß genannten Halbinsel. Zu Zeiten meiner Kindheit war es schlichtweg unmöglich, dorthin zu gelangen, denn man hatte das gesamte Areal zum Sperrgebiet erklärt. Ohne es jemals weiter hinterfragt zu haben, hatte ich stets angenommen, das sei des Grenzschutzes wegen geschehen und daß sich dort wohl eine Basis der Grenztruppen der DDR befunden hätte. So bin ich doch einigermaßen überrascht zu erfahren, daß es die NVA, die Nationale Volksarmee des kleinen sozialistischen Landes, gewesen war, die hier einen Manöverhafen für die Volksmarine betrieben und daher das diesen umgebende Gelände weiträumig abgesperrt hatte. Mit dem Ende der DDR war der dann überflüssig und das Gelände somit freigegeben worden, so daß es heute zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gehört. Doch wie dem auch sei – für uns waren damals die Auswirkungen dieselben. Wir hatten nicht dorthin gekonnt. Für mich ist das Grund genug, die Reise in meine Erinnerungen mit der Entdeckung des für mich Unbekannten zu verbinden und als Ziel meiner Wanderung eben diesen Darßer Ort mit seinem Leuchtturm auszuwählen.

Der Weg, das weiß ich noch von früher her, würde mich hinter dem Ort in den Darßwald und auf der gesamten Strecke durch diesen hindurch führen. Ich freue mich also auf eine schöne Wanderung im Schatten des Waldes und mache mich auf den Weg. Nun ist, wenn man sich in Prerow befindet, der Darßwald nicht sonderlich schwer zu finden. Man geht einfach eine der nach Westen führenden Straßen des Ortes entlang, und zwar solange, bis man die letzten Häuser erreicht hat. Genau dort beginnt der Wald. Also ganz einfach.

Für mich ist es sogar noch bedeutend einfacher, denn man hat in Prerow jede Menge Wegweiser aufgestellt, die alle ganz einheitlich gestaltet und nicht zu übersehen sind. Und auf nahezu jedem ist der Leuchtturm am Darßer Ort verzeichnet. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es diese Wegweiser damals in den Achtzigern noch nicht gegeben hat, würde mich darauf aber auch nicht festlegen wollen. Man hat sie meist an Weg- oder Straßenkreuzungen aufgestellt, wo ihre Arme die in den jeweiligen Richtungen liegenden Ziele anzeigen. Liegen diese an einem Gewässer oder haben mittelbar mit einem zu tun, leuchten die Richtungsanzeiger in tiefem Blau, andernfalls sind sie in Gelb gehalten. Für weiter entfernt liegende Orte hat man in der Regel eine Entfernungsangabe hinzugefügt. Ein jeder dieser Wegweiser ist mit einer Holzschnitzerei gekrönt, deren jeweilige Darstellung entweder auf seinen Standort Bezug nimmt oder aber etwas zeigt, das man im allgemeinen mit dem Meer oder im besonderen der Ostsee assoziiert. Der Wegweiser, den ich an der durch den Ort führenden Waldstraße dort antreffe, wo der Darßwald beginnt, zeigt in seiner Schnitzerei zwei sich vom Meer abwendende Windflüchter auf sandigem Untergrund. Ich bin untrüglich auf dem Weg zum Weststrand!

Wegweiser in Prerow
Zum Leuchtturm? Bitte rechts!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ich muß, so bedeutet mir der freundliche Richtungsanzeiger, dem Bernsteinweg folgend noch ein wenig am Waldrand entlanggehen, bis ich ein Stück weiter auf seinen Gesellen treffe, der mich unmißverständlich in den Wald hineinbeordert. Ich folge bereitwillig dem gewiesenen Weg.

Bereits nach wenigen Schritten bin ich auf allen Seiten von Bäumen umgeben. Der Waldweg führt schnurgerade zwischen ihnen hindurch, was mich jedoch nicht verwundert, denn an diese Eigenart der hiesigen Waldwege erinnere ich mich noch gut von früher her. Es ist früher Vormittag und ich bin praktisch allein im Wald. Zumindest, was die Menschen betrifft. Von den Rothirschen und Rehen, die es hier geben soll, ist zwar auch weit und breit nichts zu sehen, dafür veranstalten die Vögel dieses Waldes ein lautstarkes Konzert. Eine Weile finde ich Gefallen an dem Gedanken, daß sie das allein für mich tun. Hier und da erhasche ich auch einen Blick auf einen der flinken Gesellen, die um mich herum zwischen den Ästen umherflattern, doch verharren sie kaum einmal lang genug irgendwo, daß es sich lohnte zu versuchen, sie auf ein Foto zu bannen. Das stört mich jedoch nicht, denn noch bin ich sowieso damit beschäftigt, die wunderbare Ruhe des Waldes zu genießen, in die sich das Konzert der Vogelstimmen ganz wundersam einfügt, ohne sie auch nur im mindesten zu stören. Rings um mich herum malt die Sonne bunte Lichtflecken auf das satte Grün des Waldbodens, der über und über mit niedrigen Sträuchern bestanden ist. In vollkommener botanischer Ahnungslosigkeit und nur auf meine Erinnerungen aus der Kindheit bezugnehmend, identifiziere ich sie kurzerhand als Blau- und Preiselbeersträucher, ohne genau zu wissen, ob das auch stimmt. Dort, wo keine von ihnen stehen, ist der Boden über und über mit Nadeln bedeckt, die die Kiefern, die hier im Wald recht reichlich vertreten sind, fallengelassen haben. An einigen der Bäume entdecke ich die markanten Einschnitte, mit denen man ihnen das Harz abgezapft hat. Dem Verwitterungs- und Alterungsgrad dieser Einschnitte nach zu urteilen, muß das aber schon eine ganze Reihe von Jahren her sein.

Nach einigen Minuten nähert sich von links ein anderer Weg, der sich kurz darauf mit dem meinen vereint, um dann weiter in direkt westlicher Richtung durch den Wald zu führen. Ich bin nun auf einer Art Waldstraße unterwegs, unbefestigt zwar, aber ungleich breiter als der Weg vorher. Wieder dauert es nicht lange, da gelange ich an eine Wegkreuzung. Zwei hölzerne Tafeln stehen auf je einer Seite des Weges. Die linke ruft mir ein freundliches „Willkommen“ zu, um mich gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß ich mich hier im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft befinde. Außerdem erklärt sie mir mittels einer Reihe von Piktogrammen, was ich hier im Wald so alles doch bitte zu unterlassen habe. Ihr Gegenstück auf der rechten Wegseite informiert mich darüber, daß ich nun auf dem Leuchtturmweg unterwegs bin, und zeigt mir zwecks Orientierung eine Karte des Gebiets.

Auf der anderen Seite des hier kreuzenden Querwegs, über den von den beiden Tafeln nichts weiter verraten wird, führen zwei Wege weiter. Der eine bildet hinsichtlich Richtung und Beschaffenheit die direkte Fortsetzung meiner Waldstraße, der andere schlägt sich nach halbrechts zwischen die Bäume und ist ganz offensichtlich ein Waldweg wie der, auf dem ich anfangs unterwegs gewesen war. Finde ich allein das schon recht verlockend, hat er mich definitiv für sich gewonnen, als ich das Schild lese, daß man direkt an seinem Anfang aufgestellt hat. „Für Radfahrer nicht geeignet!“ lese ich darauf.

Kurz überlege ich, ob das auch wirklich der Leuchtturmweg ist oder ob ich es nicht doch lieber mit der Waldstraße versuchen soll, doch dann beschließe ich, mir darüber keine großen Gedanken zu machen und gehe los. Die Richtung stimmt in etwa und irgendwo am Weststrand werde ich schon rauskommen. Und wenn es nicht am Leuchtturm ist, kann ich ja immer noch am Strand entlang dorthin gelangen.

Der Weg führt mal auf, mal ab über den hügeligen Waldboden und windet sich mal links, mal rechts herum zwischen den Bäumen hindurch. Die Waldstraße links von mir ist schon bald nicht mehr zu sehen, da sich mein Weg immer weiter von ihr entfernt. Wieder umfängt mich die Ruhe des Waldes, in der mittlerweile die gefiederten Freunde ihr Konzert eingestellt haben, um nur noch vereinzelt hier und da vor sich hin zu zwitschern. Der Weg ist recht bequem zu gehen und, so denke ich bei mir, eigentlich auch mit dem Rad durchaus befahrbar. Wenn er nicht irgendwann später unwegsamer werden sollte, müßte man auf ihm doch eigentlich recht gut radeln können. Gerade will ich mich über das an seinem Anfang aufgestellte Schild freuen, weil es mir dennoch die Radfahrer vom Halse hält, da klingelt es auch schon herausfordernd hinter mir. Kaum daß ich einen Schritt zur Seite gemacht habe, kommt auch schon ein Radfahrer an mir vorbeigekeucht. Für ein „Danke“ fehlt ihm wohl die Luft. Meinen Fuß erhebend, um weiterzugehen, werde ich gleich wieder gestoppt, als eine Radfahrerin an mir vorüberfährt. Sie bleibt ebenso stumm. Mich vergewissernd, daß nun niemand mehr kommt, setze ich meinen Weg fort und vermeide nun jegliche voreiligen Danksagungen in Gedanken.

Auf dem Leuchtturmweg im Darßwald
Waldesruh.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Nach einer Weile bemerke ich, daß der Weg langsam, doch kontinuierlich nach rechts strebt. Wenn das so weiter geht, denke ich, bin ich irgendwann in nördlicher Richtung unterwegs. Das wird mich dann aber nicht zum Weststrand bringen! Schon überlege ich, ob es nicht doch besser wäre, wieder zurückzugehen und den anderen Weg zu nehmen, da tritt der meine zwischen den Bäumen hervor und trifft auf eine weitere Waldstraße, die zwar tatsächlich zunächst direkt nach Norden führt, doch bereits wenige Meter voraus eine scharfe Linkskurve einschlägt. Weil das offenbar ganz in seinem Sinne ist, beschließt mein Weg, diese Waldstraße von nun an zu begleiten, was er zunächst rechterhand tut, bis er schließlich, sie kreuzend, die Seiten wechselt. Mir ist das ausgesprochen recht, denn die Waldstraße wird, ihrem Zustande nach zu urteilen, wohl recht häufig benutzt, so daß sie einen ziemlich zerfahrenen Eindruck macht. Auf ihr zu wandeln wäre in etwa so lustig wie das Stapfen in tiefem, lockerem Sand.

Während ich so dahinwandere, ändert der Darßwald immer wieder einmal sein Erscheinungsbild. Auf den Kiefernwald mit von Beerensträuchern bestandenem Boden folgt ein Mischwald, in dem sich Buchen und auch Eichen ausmachen lassen und wo es keinerlei Bewuchs auf dem Waldboden gibt. Der ist dafür dicht mit dem verwelkten Laub des Vorjahres bedeckt. Hier und da liegt auch der Stamm eines gefallenen Baumes quer oder ragt, wenn der Fall aus irgendeinem Grund nicht ganz abgeschlossen werden konnte, schräg in die Luft. Dann wieder passiere ich eine kurze Totholzstrecke, auf die ein Waldstück mit dichtem Unterholz folgt, durch dessen Gestrüpp ich mich nur ungern würde zwängen müssen, so daß ich froh über meinen doch recht gemütlich begehbaren Weg bin. Hin und wieder bemerke ich wieder einige Vertreter der fliegenden Zunft, die mich entweder neugierig beäugen oder aber ihren Tagesgeschäften nachgehen. Irgendwo hämmert ein Specht hingebungsvoll auf einen Ast ein. Er hört auch nicht damit auf, als ich direkt unter seinem Baum, auf dem ich ihn schließlich entdeckt habe, angekommen bin. Er weiß wohl sehr genau, daß er von mir nichts zu befürchten hat, weil ich es niemals in diesem Leben schaffen würde, zu ihm auf den Baum hinaufzukommen. Ich gönne ihm diese Gewißheit, bedinge mir dafür aber ein Foto von ihm aus, das er mir bereitwillig gewährt.

Bild 006.jpg
Waldarbeiter.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

So vergeht die Zeit, in der ich weiter und weiter in Richtung Westen wandere. Schnurgerade führt mich die Waldstraße und mit ihr mein sie begleitender Weg durch den Darßwald. Ich bin mittlerweile eine gute Stunde darin unterwegs, als ich schließlich an einen weiteren Querweg komme. Als ich ihn erreiche, passiere ich eine weitere Tafel wie die, die am Anfang meines Weges gestanden hatte, nur daß diese hier ihre Botschaft in die entgegengesetzte Richtung verkündet: „Für Radfahrer nicht geeignet!“ Nun gut. Jetzt weiß ich, daß dies nur der Abschreckung dient. Aber behalten wir das lieber für uns. Den Wanderern zuliebe…

Hinter dem Querweg führen Weg und Waldstraße direkt weiter. Letztere ist nun allerdings nicht mehr so sandig und zerfahren wie zuvor, sondern das glatte Gegenteil. Zwar weiterhin ungeteert und auch nicht betoniert, kann aber dennoch ein Auto bequem auf ihr fahren, wie ich kurz darauf auch unmittelbar feststellen kann, als eines an mir vorbeibraust. Die Uhr geht mittlerweile auf Elf zu, und ganz offensichtlich ist das die Zeit, zu der die Urlauber auf dem Darß endlich aufgestanden sind, denn auf der Straße ziehen nun in kurzen Abständen immer wieder Radfahrer an mir vorüber. Fußgänger sind hingegen weiterhin selten. Die sind wahrscheinlich erst kurz hinter dem Waldrand angekommen…

Als Straße und Weg eine Biegung machen, sehe ich plötzlich vor mir, worauf sie unmittelbar zulaufen und was mein erstes Ziel an diesem Tage ist: den Leuchtturm. Recht trutzig steht er da, wie er, so ganz aus roten Ziegeln erbaut, in die Höhe ragt. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die aus demselben Material errichteten Häuser, die sich, aus meiner Perspektive, vor ihm aufbauen, als seien sie seine kleine Burg. Eine den Raum zwischen den Häusern verschließende Ziegelmauer mit einem hölzernen, zweiflügeligen Tor rundet dieses Bild ab, das sich jedoch gleich wieder auflöst, als mir die ebenerdige Lage des Ganzen ins Bewußtsein dringt. Schön anzusehen sind die Bauten aber allemal. Um Schönheit allein geht es dabei allerdings gar nicht, denn den Leuchtturm hat man in den Jahren 1847 und 1848 einst errichtet, um die Schiffe auf der Ostsee vor den Untiefen der sogenannten Darßer Schwelle zu warnen. Gedanklich stolpere ich jedesmal ein wenig, wenn ich das Wort Untiefe lese, höre oder denke, gehört es doch mit seinen zwei Bedeutungen, von denen die eine das glatte Gegenteil der anderen ist, zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Sprache. Es kann sowohl eine besonders seichte Stelle in einem Gewässer bezeichnen als auch eine besonders tiefe. Wenn man jedoch extra einen Leuchtturm errichtet, um Schiffe vor einer Untiefe zu warnen, dann kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß es sich hier um eine besonders seichte Stelle wie beispielsweise eine Sandbank handelt. Die Darßer Schwelle ist nun allerdings nicht einfach nur eine Sandbank vor der Küste der Halbinsel, sondern eine Bodenerhebung in der Ostsee, die sich vom Darß bis zu den dänischen Inseln Falster und Mon hinüberzieht. Um die Mannschaften passierender Schiffe auf sie aufmerksam zu machen, nahm man im Jahre 1849 den Leuchtturm am Darßer Ort in Betrieb, was ihn zu einem der ältesten Leuchttürme an der deutschen Ostseeküste macht.

Der Leuchtturm am Darßer Ort
Lichtgestalt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ganze 35,4 Meter ist er insgesamt hoch. Anfangs wurde er von einem Leuchtturmwärter betrieben, der stets die 134 Stufen hinaufsteigen mußte, die zum Umgang hinaufführen, der sich in einer Höhe von etwa dreißig Metern befindet. Zum Leuchtfeuer auf dreiunddreißig Metern waren es noch ein paar mehr. Heute wird das nur noch nötig, wenn an der seit 1978 ferngesteuerten Anlage etwas zu warten oder gar zu reparieren ist. Oder wenn Touristen zum Umgang hinaufsteigen möchten, um von dort oben die Aussicht zu genießen. Doch die tun das ja dann freiwillig. Die den Leuchtturm umgebenden Gebäude beherbergten einst ein Lotsenhaus sowie Wohnung und Dienstzimmer des Leuchtturmwärter­s, den es heute hier aber nicht mehr gibt. So dient eines mittlerweile als Café, während die anderen den Ausstellungen des Natureums ein Domizil geben, das eine Außenstelle des Deutschen Meeres­museums in Stralsund ist und seinen Besuchern den Naturraum Darßer Ort und die Ostseeküste näherbringt und sie über die hier heimischen Tierarten informiert.

Irgendwie ist mir angesichts des phantastisch schönen Wetters an diesem Ostermontag allerdings nicht so recht nach einem Ausstellungsbesuch. Und die Ostsee sowie die Natur am Darßer Ort schaue ich mir lieber aus nächster Nähe als von oben an, so daß ich sowohl auf den Besuch des Natureums als auch auf die Kraxelei auf den Turm verzichte, mir das dafür nötige Eintrittsgeld spare und mich gleich auf den Weg am Leuchtturm vorbei zum nahen Weststrand mache.

Der Weg führt mich links an dem Leuchtturmgehöft vorbei und wird unmittelbar dahinter sofort sandig, so daß ich schwer zu stapfen habe. Zu beiden Seiten wachsen zunächst noch niedrige Kiefern, die jedoch das markante Erscheinungsbild der Windflüchter vermissen lassen, was mich etwas wundert, entspricht dies doch so gar nicht meiner Erinnerung an den Weststrand. Doch kann ich zunächst nicht weiter darüber nachdenken, denn ich werde durch ein kleines metallenes Modell abgelenkt, daß man auf der rechten Wegseite aufgestellt hat und das das hiesige Gelände von der Ostsee bis zum Leuchtturm zeigt. Eine Tafel erklärt mir, daß entlang der Küste, die den Weststrand des Darß bildet, und auch am südlich gelegenen Fischland von der Ostsee bis zum heutigen Tag beständig Land abgetragen und zur Nordspitze des Darß transportiert werde, wo sich die Sedimente wieder ablagerten und neues Land bildeten. Dort allerdings, wo ich mich gerade befinde, gehe jedes Jahr Land verloren, so daß davon auszugehen sei, daß es den Leuchtturm in etwa fünfzig Jahren wohl nicht mehr geben werde. Ui!! Da ist es ja gut, daß ich heute hierher gekommen bin. Wer den Leuchtturm also noch einmal sehen möchte – viel Zeit ist nicht mehr.

Ich stapfe weiter und lasse die Kiefern hinter mir. Der Sandweg führt mich jetzt über eine ganz klassische, mit Strandhafer bewachsene Düne, fällt dahinter ab und entläßt mich auf einen breiten, sonnenbeschienenen und nahezu windstillen Sandstrand, an den die spiegelglatte Ostsee – ein wenig lustlos, wie mir scheint – heranplätschert.

Am Weststrand des Darß
Ich suche den windgepeitschten, steinigen Weststrand. Bin ich hier richtig?
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Nun, ich gebe es zu – das ist nicht so ganz das, was ich erwartet habe. Rauhe Winde, aufgewühltes Wasser mit hohen Wellen, einen von endlos vielen Steinen bedeckten und durchsetzten Sandstrand – das ist in meiner Erinnerung der Weststrand immer gewesen. Doch davon ist hier weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen stehe ich hier an einem Stück Ufer, das sich kaum von dem unterscheidet, wie ich es vom Prerower Nordstrand kenne. Es fehlen eigentlich nur die Strandkörbe.

Links und rechts des hier endenden Weges haben sich Leute im Sand niedergelassen und genießen die Sonne. Andere wandern nahe am Wasser den Strand entlang, einige scheinen irgendetwas zu suchen, denn sie bücken sich immer wieder hinunter, nehmen etwas auf, prüfen es und lassen es wieder fallen. Muschelsucher vermutlich. Hinter den im Sand Lagernden – und das ist eigentlich der einzige Unterschied zum Strand vor Prerow – fällt die Düne in einer regelrechten Steilwand nahezu senkrecht ab. Allerdings ist diese nur etwa zwei Meter hoch und besteht vollkommen aus Sand. Vermutlich sieht sie nach jedem Tag mit rauherem Wind als heute etwas anders aus.

Als ich den Strand erst in nördlicher und dann in südlicher Richtung entlangblicke, muß ich endgültig einsehen, daß der Weststrand hier ganz anders geartet ist, als es meine Erinnerung mir sagt. Und das liegt nicht nur am Wetter. So vermisse ich ein wenig die wilde Urwüchsigkeit der zerzausten Dünen und der Windflüchter, von denen es hier wirklich keinen einzigen gibt. Auch von den so zahlreich vorhanden sein sollenden Steinen ist nur wenig zu sehen. Ich entdecke einen schmalen Streifen, als ich hinunter zum Wasser gehe, doch von dem Weststrand, in dessen breiten Steinfeldern ich als Kind so eifrig nach Hühnergöttern, versteinerten Meerestieren und Bernstein gesucht habe, ist das weit entfernt. Bernstein und Versteinerungen von Meeresbewohnern habe ich zwar nie gefunden, doch das Suchen hat mir immer Spaß gemacht. Und Hühnergötter – also Steine mit wenigstens einem Loch darin – gab es immerhin einige zu finden.

Ich bleibe ein wenig am Saum des Wassers stehen, das so leise an den Strand schwappt, daß ich mir kaum Sorgen machen muß, es könnte meine Füße überspülen. Draußen auf dem Meer, eine ganzes Stück vom Strand entfernt, ragt ein dickes, braunes Etwas aus dem Wasser, das sich leicht gen Süden neigt. Rund, vielleicht eineinhalb oder zwei Meter im Durchmesser, sieht es aus wie das Ende eines überaus mächtigen Pfahls, das etwa zwei Meter über die Wasseroberfläche reicht. Was das genau ist – ich weiß es nicht zu sagen. Auch nicht, aus welchem Material es wohl besteht. Von der Färbung her könnte es aus Holz sein. Aber dann hätte das Meer es sicher längst zerlegt. Ich grüble nicht weiter darüber nach, denn viel interessanter ist das, was sich auf diesem mysteriösen Ding befindet. Eine kleine Kolonie Kormorane hat es sich dort in der Sonne gemütlich gemacht und genießt den warmen Tag. Einige der Vögel, so scheint mir, blicken genauso interessiert zu mir herüber wie ich zu ihnen – mit dem Unterschied, daß sie jederzeit ohne weiteres den Abstand zwischen uns verringern könnten, wenn sie denn nachsehen wollten, wer sie hier vom Strand aus beäugt. Da sie jedoch bleiben, wo sie sind, ist ihr Interesse wohl doch nicht so groß.

Kormorane vor dem Darßer Weststrand
Wo Kormorane Urlaub machen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Auch ich genieße das schöne Wetter, über das ich mich wirklich nicht beklagen kann. Wie ich jedoch so auf das Meer hinausschaue, dessen spiegelglatte Oberfläche in der Sonne glitzert, vermisse ich doch ein wenig den rauhen Wind und die von ihm an Land getriebenen hohen Wellen, an die ich mich aus meiner Kindheit so gut erinnere. Schmunzelnd denke ich an eine Begebenheit zurück, die sich in einem unserer damaligen Urlaube zutrug, als wir wieder einmal zum Weststrand gewandert waren, den wir nun entlanggingen. Es war ein ganzes Stück weiter südlich gewesen und der Weststrand präsentierte sich an diesem Tag von seiner wilden Seite. Graue Wolken trieben über den Himmel und gaben der Sonne nur ab und zu Gelegenheit, einen ihrer Strahlen zwischen ihnen hindurch zur Erde zu schicken; ein rauher Wind vom Meer warf die hohen Wellen vor sich her auf den Strand; unter unseren Schuhen knirschten die Steine, die wir mit jedem Schritt aneinanderpreßten und umherwarfen und zwischen denen sich Stränge grünen Seetangs verfangen hatten, der immer wieder versuchte, unsere Füße zu umschlingen und uns am Vorwärtskommen zu hindern. Ein Stück vom Wasser entfernt, dort wo die Steine Platz für den Sand ließen, hatten sich vor der Düne, über der hier und da die Kronen vereinzelter Windflüchter aufragten, einige Leute vereinzelt kleine Refugien inmitten nahezu kreisrund aufgeschichteter Sandwälle geschaffen, die sie leidlich vor dem Wind schützten. In einer dieser kleinen Sandburgen lag ein Pärchen mittleren Alters, beide splitterfasernackt wie all die anderen Leute auch, die hier am Weststrand ihrer Leidenschaft für die Freikörperkultur frönten, wofür sie bereit waren, dem Wetter und dem Wind zu trotzen, der doch gehörig blies. Das tat er so hingebungsvoll, daß es ihm gelang, die Temperatur, die an diesem Tag sowieso schon nicht sonderlich hoch war, in unserem Empfinden noch einmal gewaltig nach unten zu drücken, so daß wir uns nicht nur wetterfeste Jacken angezogen, sondern deren Kragen auch noch hochgeschlagen hatten, als wir so den Strand entlangstapften auf dem Weg zu einem der weiter nördlich gelegenen Dünenübergänge, hinter dem wir dann einen Weg zurück nach Prerow zu finden hofften. Dabei kamen wir auch an dem nackten Paar vorüber, das trotz des unfreundlichen Wetters gelassen in seiner Sandburg lag, das Leben genoß und uns Wanderer neugierig beäugte. Als wir genau auf ihrer Höhe angelangt waren, stieß die Frau dem neben ihr liegenden Mann ihren Ellenbogen in die Seite und sagte, als er sich leicht aufrichtete, um zu sehen, was es gäbe, in laut vernehmlichem Ton, der keine Rücksicht darauf nahm, ob wir sie hören konnten, zu ihm: „Guck mal da! Für die einen ist Sommer, für die anderen Winter!“

In der Tat war die gewaltige Diskrepanz zwischen ihrem und unserem Erscheinungsbild überaus skurril – so sehr, daß wir noch lange danach über diese merkwürdige Situation lachen mußten und der so überaus treffende Kommentar dieser Frau in unserer Familie zu einem geflügelten Wort wurde, das immer dann zum Einsatz kam, wenn uns eine vergleichbare Situation über den Weg unseres Lebens lief.

Der Weststrand am Darßer Ort
Keine Steine, keine Windflüchter, keine Wellen. Und doch der Weststrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Nun, hier und heute lagern keine Anhänger der Freikörperkultur am Strand, obwohl das sonnige Wetter mit dem strahlend blauen Himmel sehr dazu einlädt. Vielleicht ist es ihnen noch nicht warm genug.

Nachdem ich eine Weile auf das Meer hinausgesehen und die am Horizont vorbeiziehenden Schiffe beobachtet habe – hier am Weststrand ist das Meer glücklicherweise völlig windradfrei -, schließe ich mich den Leuten, die den Strand entlangwandern, an und laufe die Wasserkante entlang in nördlicher Richtung. Einen wirklichen Plan, wie es von hier an weitergeht, habe ich nicht, lediglich die vage Idee, daß ich versuchen könnte, über die Spitze des Darß‘ zum Nordstrand zu gelangen, um auf diesem dann zurück nach Prerow zu wandern. Nun, da ich den schmalen Streifen Steine in der Nähe des Wassers gesehen habe, vermute ich, daß die von mir zuvor bemerkten Sucher wohl eher auf Bernstein und Hühnergötter aus sind als auf Muscheln. Ich glaube allerdings nicht, daß sie hier viel Erfolg mit ihrer Suche haben werden. Dafür ist dieser Strandabschnitt mit dem nahen Leuchtturm einfach ein viel zu stark frequentiertes Ziel.

Langsam wandere ich den Strand entlang, wobei ich stets nah am Wasser bleibe, um es beim Gehen leichter zu haben. Nach und nach nimmt die Anzahl der Menschen, denen ich begegne ab – die meisten bleiben ganz offensichtlich in der Nähe des Dünenübergangs am Leuchtturm. Ein Stück voraus kann ich jetzt eine Art hölzernen Zaun erkennen, der von der Düne aus quer über den Strand und ein Stück ins Wasser hinein führt. Geht es dort etwa nicht weiter? Ich überlege kurz, ob ich umkehren soll, verwerfe den Gedanken jedoch wieder. Wenigstens will ich wissen, was das da soll.

Es ist tatsächlich eine Sperre, die Besucher davon abhalten will, den Strand nördlich von hier zu betreten. Ein Schild erklärt mir den Grund. Die Nordspitze des Darß‘ liegt in der Kernzone des Nationalparks, den die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik in einer ihrer letzten Amtshandlungen am 12. September 1990 als Bestandteil des National­park­programms für den Osten Deutschlands ins Leben rief. Hier, so hat man es beschlossen, soll sich die Natur ohne Einfluß des Menschen entfalten dürfen, weshalb der gesamte nördliche Bereich des Darßer Ortes gesperrt ist. Niemand darf den Strand ab hier betreten, und auch das sich anschließende Landesinnere ist tabu. Weitestgehend jedenfalls. Das hat nicht nur die nach wie vor aktive Landbildung als Grund, sondern auch die zahlreichen Tier- und Pflanzenarten, die sich hier unbeeinflußt von menschlicher Aktivität entwickeln können sollen. Einige davon werden auf einer weiteren Tafel in Wort und Bild vorgestellt. Damit nun aber interessierte Menschen nicht gänzlich ausgeschlossen bleiben, hat man einen Rundwanderweg angelegt, der von hier aus in das Innere des Landes führt und über den man zu guter Letzt wieder zum Leuchtturm gelangt. Da ich keine große Lust verspüre, den Weg, der mich hierher geführt hat, einfach wieder zurückzulaufen, und überdies neugierig bin, wie die Landschaft in dem einstigen Sperrgebiet, in das wir früher nie hineindurften, beschaffen ist, gehe ich den Zaun entlang bis zur Düne und stapfe durch den hier recht tiefen Sand den steilen Anstieg hinauf, nicht ohne zunächst noch den Hinweis gelesen zu haben, daß ich doch bitte den Weg keinesfalls verlassen soll. Nun, das versteht sich von selbst.

In den Dünen am Darßer Ort
Rauh weht der Wind über die Dünen. Meistens jedenfalls. Heute jedoch nicht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Oben angekommen, sehe ich einen Sandweg vor mir, der jedoch bereits nach wenigen Metern wieder zu Ende ist. Damit niemand mit seinen Tritten die Dünen nachhaltig beschädigt, hat man sich die Mühe gemacht, den weiteren durch die Dünenlandschaft führenden Weg mit Bohlen auszulegen. Eine gewaltige Arbeit, wenn ich bedenke, daß ich die nächste halbe Stunde unausgesetzt auf diesem Bohlenweg unterwegs sein werde – was ich in diesem Augenblick allerdings noch nicht weiß.

Von der Anhöhe der Düne kann ich in südlicher Richtung noch einmal den Leuchtturm sehen, der allerdings von einem recht technisch aussehenden Metallungetüm weit überragt wird, das ich später als Marine-Funkturm identifiziere. Nun ja, der Fortschritt hat auch vor dem Darßer Ort nicht haltgemacht. Ich bin ja schon froh, daß hier keine Windräder die Landschaft verschandeln.

Es ist eine auf den ersten Blick karge Landschaft, in der ich nun unterwegs bin. Der Boden ist purer Sand, auf dem sich nur Gräser wie der allgegenwärtige Strandhafer halten können. Hier und da unterbrechen tief dunkelbraune Flecken die Grasfläche. Dort haben sich, wie mir scheint, bereits niedrige Pflanzen angesiedelt, die ich jedoch aus der Entfernung nicht genauer bestimmen kann. Später finde ich heraus, daß es sich um die kleinen Sträucher der Schwarzen Krähenbeere handeln könnte. Vereinzelt stehen auch einige Kiefern, die jedoch so klein sind, daß sie eher wie Büsche wirken. Erst weiter im Landesinneren werden sie nach und nach größer. Und dazwischen windet sich  – mal hierhin, mal dorthin – der Bohlenweg, auf dem ich nun unterwegs bin und dessen Verlauf ich ein weites Stück voraus bereits erkennen kann, weil kaum einmal ein Hindernis den Blick verstellt. Viel mehr ist eigentlich nicht zu sehen. Und doch ist diese Landschaft von einer wahrlich wilden Schönheit. Sanft steigt der grasbewachsene Boden an, um urplötzlich wie an einem Miniaturkliff abzubrechen und eine große Sandfläche freizulegen, die jedoch bereits wieder von vereinzelten Gräsern erobert wird. Praktisch aus nächster Nähe kann ich den Übergang von der direkt auf den Strand folgenden Weißdüne zur Grau- und dahinter zur Braundüne mitverfolgen. Mit jeder von ihnen nimmt die Artenvielfalt Stück für Stück zu. Sind auf der aus purem Sand bestehenden Weißdüne weitestgehend nur Gräser lebensfähig, die jedoch recht vereinzelt stehen, so daß der Sand noch deutlich hervortritt, so ist die Vegetationsdecke auf der Graudüne bereits recht geschlossen. Hier leben auch schon andere Pflanzen, die jedoch noch von recht niedrigem Wuchs sind. In der dahinterliegenden Braundüne, der ältesten der drei, gedeihen dann schon kleine Bäume wie die Waldkiefer. Wenn wie hier am Darßer Ort neues Land gebildet wird, schieben sich auch die Dünen mit der Zeit immer weiter in Richtung Meer und die Natur erobert die neuen Areale. Es dürfte interessant sein, in einigen Jahren wieder hierher zu kommen und zu sehen, wie sich das Land verändert haben wird[1]Mehr Informationen zu den verschiedenen Dünenarten finden sich in dem Blog marionsostsee.de..

In den Dünen am Darßer Ort
Unterwegs auf Bohlen durch Weißdüne, Graudüne und Braundüne. Und dahinter wieder Meer.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Als ich ein Stück auf dem Weg vorangekommen bin, kann ich in einer Lücke zwischen den niedrigen Bäumen, auf die mein Weg mit seinem Schlängelkurs zusteuert, wieder eine bis zum Horizont reichende Wasserfläche erkennen. Und weil das nur erneut die Ostsee sein kann, dürfte ich hier wohl direkt auf die andere Seite der Darßer Nordspitze blicken. Ich vermute daher, daß der Weg, dessen Ziel der in meinem Rücken gelegene Leuchtturm ist, hinter dieser Lücke einen Schwenk nach rechts machen wird – und behalte recht.

Als ich den Knick, den der Bohlenweg hier vollzieht, erreiche, schaue ich vor mir auf eine nahezu ebene Graslandschaft, die zunächst von einigen kleineren Wasserflächen durchbrochen wird, bevor sich dahinter die endlose See erstreckt. Diese Wasserflächen, deren Ufer von hohem Schilf eingerahmt werden, sind sogenannte Brackwasserseen. Die hier an der Nordspitze des Darß‘ immer noch stattfindende Landbildung führte durch die fortschreitende Sandablagerung zur Bildung von Nehrungen und – als diese sich schließlich schlossen – zur Abtrennung der umfaßten Wasserflächen von der Ostsee, den Brackwasserseen. Derzeit gibt es hier am Darßer Ort drei größere dieser Seen und einige kleinere.

Mich führt mein Weg als erstes zum Libbertsee, den es noch gar nicht so lange gibt. Er wurde erst in den 1950er Jahren von der Ostsee abgetrennt. Seitdem sinkt sein Salzgehalt stetig, und weil auch kein Frischwasser mehr in ihn einströmen kann, verlandet er zusehends. Irgendwann wird er möglicherweise sogar austrocknen. Doch noch ist es lange nicht soweit. Und so präsentiert sich mir der Libbertsee als ruhige, ausgedehnte Wasserfläche, eingerahmt von einem wogenden Meer von Schilf. Ein wahres Paradies für Wasservögel. Benannt hat man ihn übrigens nach Friedrich Libbert, einem Pflanzensoziologen und Darßforscher, der von 1892 bis 1945 lebte.

Am Darßer Ort
Ein See an der See. Der Libbertsee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Damit mittelgroße Darßwanderer wie ich einen besseren Ausblick auf die Landschaft haben mögen, hat man freundlicherweise eine hölzerne Aussichtsplattform eben dort aufgestellt, wo mein Bohlenweg nun unvermittelt endet. Um den Paradiescharakter der Landschaft für Wasservögel zu unterstreichen, hat man ihr den Namen „Entenplattform“ gegeben. Neugierig steige ich hinauf, doch die Enten unternehmen wohl gerade einen Ausflug. Ich kann jedenfalls weit und breit keine entdecken. Lediglich ein einzelner Schwan zieht auf der Weite des Libbertsees einsam seine Bahn.

Die Weite der Landschaft zieht mich jedoch in ihren Bann, und so bleibe ich eine ganze Weile hier oben stehen und schaue einfach nur über das Land. Ich spüre, wie sich eine angenehme innere Ruhe in mir ausbreitet. Hier gibt es keine Hast, keine Hektik, keine Eile, kein Sich-beeilen-müssen und kein Schnell-noch-irgendetwas-fertigbekommen. Hier gibt es nur die Beschaulichkeit im Winde sanft sich wiegenden Schilfs, das leichte Gekräusel der Wasseroberfläche und die langsam am Himmel entlangziehenden Wolken. Und natürlich den einsamen Schwan dort draußen auf dem See, der das Wort „Termine“ ganz sicher noch nie gehört hat. Ach, könnte ich doch einfach hier bleiben…

Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als ich schließlich wieder am Fuße der Treppe, die zur Aussichtsplattform hinaufführt, ankomme und meinen Weg fortsetze. Noch immer besteht der Boden aus Sand, doch man hat ihn nun mit einer Art sehr grober Holzspäne bestreut, auf denen es sich recht bequem laufen läßt, so daß ich zumindest nicht wieder anfangen muß zu stapfen. Da es nun keine Bohlen mehr gibt, hat man vorsichtshalber in regelmäßigen Abständen links und rechts des Wegs kleine Pfosten eingeschlagen, an denen entlang man zu beiden Seiten je einen Draht gespannt hat, damit auch wirklich der Unachtsamste unter den Menschen begreifen kann, daß man den Weg nicht verlassen soll. Nun ist es keineswegs so, daß man nicht mühelos darüber hinwegsteigen könnte, doch das erforderte schon mutwillige Mißachtung dieses nicht gerade dezenten Hinweises, die Landschaft außerhalb des Weges doch bitte nicht zu betreten.

Es sind nur wenige Meter, die ich gehen muß, da führt mich der Weg in ein kleines Kiefernwäldchen. Hier ist der Belag auf dem Sand nicht mehr erforderlich, denn dieser ist nun bereits so festgetreten, daß ich auf einem gut begehbaren Waldweg unterwegs bin. Kurz darauf erreiche ich eine Stelle, an der dieser einen Neunzig-Grad-Knick nach Süden macht und sich somit endgültig zurück in Richtung Leuchtturm wendet. Bevor ich ihm jedoch folge, ersteige ich eine weitere Aussichtsplattform, die man an dieser Stelle errichtet hat. Auch ihr hat man einen Namen gegeben, der sich auf Tiere bezieht, die man von hier aus sehr gut beobachten können soll: „Adlerplattform“. Nun, mit den Seeadlern habe ich genauso viel Glück wie mit den Enten zuvor – es sind weit und breit keine zu sehen. Das macht aber nichts, denn erneut werde ich mit einem phantastischen Landschaftspanorama dafür entschädigt.

Libbertsee am Darßer Ort
Libbertsee. Schilf. Ostsee. Und ein weiter Himmel.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Hinter den Bäumen rechts von mir kann ich gerade noch erkennen, daß dort ein weiterer Brackwassersee zu finden ist, der, wie ich später nachschlage, den Namen Fukareksee trägt. Auch er ist nach einem Forscher benannt, der sich eingehend mit der Naturkunde des Darß‘ beschäftigt hat. In diesem Fall handelt es sich um Franz Fukarek, der von 1926 bis 1996 lebte. An diesem See kann man die Veränderlichkeit der hiesigen Landschaft besonders gut studieren, wenn man genügend Zeit mitbringt. Von der Ostsee durch Sandablagerungen abgetrennt, ist der See erst in den 1980er Jahren entstanden. Vor einiger Zeit wurde jedoch an seinem Nordende wieder etwas Land abgetragen, so daß sich erneut ein Durchlaß zur Ostsee öffnete, der sich seitdem stetig vergrößert hat, wodurch der Fukareksee heute eigentlich gar kein See mehr ist, sondern eher eine Meeresbucht. Doch wer weiß, wie sich das angesichts der Dynamik, mit der hier an der Nordspitze des Darß‘ immer noch Land entsteht, sich verändert und gegebenenfalls auch wieder abgetragen wird, in der Zukunft entwickeln wird. So lange, daß ich das aus erster Hand feststellen kann, will ich allerdings nicht verweilen. Aber ich kann ja in ein paar Jahren noch einmal hier vorbeischauen…

Von der Adlerplattform setze ich meine Wanderung schließlich fort. Bereits nach wenigen Metern schwenkt der Weg weiter nach Südwesten und führt nun am Rand des kleinen Wäldchens entlang. Da ich jetzt die unmittelbare Nachbarschaft des Wassers verlassen habe und sich rings um mich hohe Bäume befinden, ist alsbald der Wind verschwunden und es wird mir im Lichte der strahlenden Sonne schnell recht warm. Nach all den fast schon winterlich kühlen Tagen, die es in diesem Frühjahr bisher gegeben hat, ist mir das durchaus angenehm. Und auch die Tiere des kleinen Waldes locken Licht und Wärme hervor. Direkt vor mir auf dem Weg gewahre ich unvermittelt eine schwarze gewundene Linie, die sich, als ich genau hinschaue, auch noch bewegt. Ich halte inne und beobachte, wie sich eine schwarze Kreuzotter gewandt von einer Seite des Weges zur anderen schlängelt[2]Ich bin zwar kein Experte, doch von einer Eidechse scheint mir das Tier weit entfernt zu sein. Nach einigen Vergleichen mit einschlägigen Bildern habe ich mich schließlich entschieden, die Schlange … [Weiterlesen]. Drüben angekommen, verschwindet sie gemächlich im hohen Gras.

Schwarze Kreuzotter am Darßer Ort
Schlangenlinie.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein paar Meter weiter passiere ich einen großen Ameisenhaufen, auf dem die unzähligen kleinen Tierchen ein mächtiges Gewimmel veranstalten, das sie in der näheren Umgebung fortsetzen. Obwohl – verglichen mit den Ameisen, denen man gewöhnlich in Städten so begegnen kann, sind diese hier doch recht groß. Ich halte sie für Rote Waldameisen, die es hier in der Gegend geben soll.

Schließlich verläßt der Weg den kleinen Wald und führt hinaus auf eine große Freifläche, die auf mich zunächst den Eindruck einer Mischung aus Wiese und Feld macht, bis ich registriere, daß das, was sich da so anmutig im nun erneut etwas auffrischenden Winde wiegt, schon wieder Schilf ist. Ein Stück voraus bemerke ich eine dritte Aussichtsplattform, die allerdings bei weitem nicht so hoch ist wie die beiden, die ich bisher passiert habe. Sie ist eher ein erhöhtes Podest, zu dem drei, vier Stufen hinaufführen und auf dem man mehrere Holzbänke aneinandergereiht hat. Da diese voller Menschen sind, die sich hier häuslich niedergelassen zu haben scheinen – jedenfalls machen sie keinerlei Anstalten, sich alsbald wieder zu erheben -, halte ich mich hier nicht allzulang auf. Dennoch gestatte ich mir ein paar Minuten für einen Rundblick. Über die in der Nähe des Weges wachsenden Wacholderbüsche hinweg habe ich einen schönen Blick über die weite, riesige Lichtung, auf der wahrlich ein Meer von Schilfrohren im Winde wogt. Das Schilf ist schon so hoch gewachsen, daß ich trotz meiner erhöhten Stellung den See, der einen beträchtlichen Teil dieser Fläche einnehmen soll, gar nicht sehen kann. So habe ich das einigermaßen merkwürdige Bild vor Augen, das mir die Aufbauten einiger Schiffe zeigt, die direkt auf dem Schilf zu schwimmen scheinen.

Auch dieses als Ottosee bezeichnete Gewässer ist ein einst von der Ostsee abgetrennter Brackwassersee, der seinen Namen zu Ehren von  Theodor Otto trägt, der von 1880 bis 1945 lebte und Geograph an der Universität Greifswald war. Da der See den sogenannten Nothafen am Darßer Ort beherbergt, besitzt er noch heute eine Verbindung zur Ostsee, die es allerdings schon längst nicht mehr gäbe, würde man sie nicht stets und ständig freibaggern. Dieser Hafen ist aus dem einstigen Manöverhafen der Nationalen Volksarmee der DDR hervorgegangen. Trotz der Einrichtung des Nationalparks hat man ihn beibehalten, um ihn als Nothafen nutzen zu können, weil zwischen Warnemünde und Barhöft bei Stralsund kein anderer solcher Ankerplatz existiert.

Im Sumpfgebiet am Darßer Ort
Der unsichtbare Ottosee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die Aussichtsplattform, auf der ich nun stehe, ist mit ihrem Namen „Hirschplattform“ ebenfalls nach den Tieren benannt, die man von hier aus gelegentlich beobachten können soll. Es ist wohl müßig zu erwähnen, daß ich hier natürlich keine Hirsche zu sehen bekomme. Allerdings hätte mich das angesichts der vielen laut durcheinanderschwatzenden Leute um mich herum auch ehrlich gewundert. Und da ich es den Hirschen gut nachfühlen kann, verlasse ich die Plattform alsbald wieder und setze meinen Weg fort.

Der macht nach einigen Metern wieder einmal einen Knick nach rechts, hinter dem er unvermittelt als Bohlenweg mitten in das Schilf hineinführt. Und so soll die Holzkonstruktion diesmal auch keine sandigen Dünen schützen, sondern die Füße der Wanderer trockenhalten. Das Gelände ist hier nämlich plötzlich recht sumpfig. Stellenweise spaziere ich auf den Brettern über stehendes Wasser hinweg, das ich ohne sie hätte durchwaten müssen. Das wäre vermutlich kein so großes Vergnügen gewesen. So aber komme ich trockenen Fußes gut voran, bis ich mich nach einem weiteren Knick, den der Weg diesmal nach links vollzieht, recht unvermittelt vor einer hölzernen Brücke wiederfinde. Hier durchzieht ein kleines Fließ das Schilf, in dessen ruhigem Wasser sich der Himmel spiegelt.

Auf der anderen Seite der Brücke muß ich eine Entscheidung treffen, denn von hier führen zwei Wege weiter. Beide auf Holzbohlen. Nach rechts kann ich weiter dem Rundwanderweg folgen, der mich zurück zum Leuchtturm bringt, während es geradeaus, so verspricht es mir ein Wegweiser, zurück nach Prerow geht. Nun, beim Leuchtturm war ich schon. Und von dort denselben Weg zurück durch den Darßwald zu wandern, den ich am Vormittag gekommen war, dazu habe ich keine rechte Lust. Schon als Kind habe ich das einfache Hin und wieder Zurück gehaßt. Das war mir stets zu langweilig. Und so fällt mir die Entscheidung, welchen Weg ich nehmen soll, nicht schwer. Es geht geradeaus, mitten hinein in eine Allee aus dünnen Bäumchen, die dem Frühling noch nicht so recht trauen und daher bisher davon abgesehen haben, ihr Laub sprießen zu lassen. So stehen sie mir auf meinem weiteren Weg als kahle Baumgerippe Spalier.

Während ich weitergehe, kommen mir nun mehr und mehr Leute entgegen. Offenbar kommen jetzt die Fußgänger, die sich erst am späten Vormittag auf den Weg hierher gemacht haben, so langsam an. Nach einiger Zeit hört der Bohlenweg wieder auf. Das Spalier der dünnen Bäumchen tut es ihm gleich.

Weiter geht es immer am Rande des Sumpfes entlang, bis der Weg sich plötzlich scharf nach links wendet und wieder direkt in diesen hineinführt. Prompt sind auch die Bohlen wieder da. Zum Glück, möchte ich sagen, denn nun geht es wirklich ununterbrochen mitten durch im Wasser stehendes Schilf. Angesichts der mir beständig entgegenkommenden Leute heißt es nun gut aufpassen, denn wir müssen auf dem nur mäßig breiten, geländerlosen Steg aneinander vorbeikommen, ohne daß einer von uns ins Wasser fällt. Schließlich habe ich aber das Ende des hölzernen Pfades erreicht und wieder uneingeschränkt festen Boden unter den Füßen.

Der Weg hat mich bis hierher teils um, teils durch das Sumpf- und Seegebiet des Ottosees geführt, so daß ich nun auf dessen gegenüberliegender Seite angekommen bin und mich nicht allzu weit entfernt vom Nothafen befinde. Dennoch kann ich diesen immer noch nicht sonderlich gut sehen, da nun zahlreiche Bäume zwischen mir und der freien Wasserfläche des Sees aufragen. Diesen komme ich im folgenden näher und näher, bis ich das freie Gelände schließlich verlasse und mich wieder im Wald befinde. Kurz darauf trifft mein Weg auf einen anderen, der jedoch ungleich breiter ist und durchaus als Waldstraße bezeichnet werden darf. Dieser folge ich nun in südöstlicher Richtung, die die einzig mögliche ist, denn in der anderen hindert ein Zaun mit einem geschlossenen Tor jeden Wanderer am Weiterkommen. Das ist wohl die Zufahrt zum Nothafen.

Darüber nachsinnend, ob ich denn wohl doch noch irgendwie einen Blick auf diesen Ankerplatz erhaschen könnte, bin ich noch nicht weit gekommen, als sich auf der linken Seite plötzlich ein Weg ins Gebüsch schlägt, an dem ein Schild verkündet, daß es sich nicht lohne, ihm zu folgen, da er in einer Sackgasse enden würde. Für mich ist das allerdings Grund genug, ihn genau deswegen interessant zu finden. Den was sonst sollte diesem Weg ein abruptes Ende bereiten als das Wasserbecken des in dieser Richtung liegenden Nothafens? So bin ich wenige Augenblicke später bereits ein gutes Stück von meiner Waldstraße entfernt, als ich die Richtigkeit meiner Annahme auch schon bestätigt finde. Meine Schritte haben mich an’s Ufer eines Gewässers geführt, das anhand der darin ankernden Schiffe unzweifelhaft als Hafen identifiziert werden kann.

Am Nothafen Darßer Ort
Der sichtbare Ottosee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Zwei dieser schwimmenden Gefährte machen auf mich einen überaus merkwürdigen Eindruck. Jedes von ihnen besitzt eine rechteckige Grundform, was für ein Schiff schon einmal recht ungewöhnlich ist. Auf beiden sind diverse Aufbauten zu sehen sowie jeweils ein großer Baukran. Daß es sich also um Bauschiffe handelt, ist nicht so schwer zu erraten. Doch wozu die jeweils vier hohen dunkelbraunen Stangen dienen könnten, die meterhoch an jeder Ecke der rechteckigen Schiffsbasis aufragen und deren obere Enden orangefarbenen angepinselt worden sind, so daß sie wie große aufgesetzte Hauben wirken, darauf kann ich mir keinen rechten Reim machen.

Viel mehr ist dann allerdings auch schon wieder nicht zu sehen. Die Ausfahrt aus dem Hafen befindet sich von mir aus gesehen offenbar hinter den Schiffen, so daß sie vor meinen Blicken verborgen bleibt. So wende ich mich wieder um und kehre zur Waldstraße zurück, der ich dann allerdings nur ein kleines weiteres Stück folge, denn schon nach wenigen Metern erreiche ich einen weiteren nach links führenden Abzweig. Diesmal gibt es hier anstelle eines von der Benutzung abratenden Schildes einen eben diese empfehlenden Wegweiser. Als Ziel gibt er eine am Nothafen befindliche Aussichtsplattform aus. Na, wenn das nichts ist…

Einen Fußmarsch von etwa einem halben Kilometer später bin ich am Ende der befestigten Straße angekommen, die mich unmittelbar am einzigen Kai des Hafens entlanggeführt hat und nun vor einem mit einem Tor abgesperrten Gelände ablädt, hinter dem die beiden Bauschiffe im Wasser liegen – das eine bereits in dem Verbindungskanal, der den Nothafen mit der Ostsee verbindet. Hier ist die Welt zu Ende. Oder sie wäre es, gäbe es da nicht den mit Geländern versehenen Holzsteg, der neben der Hafenzufahrt auf die Düne hinaufführt. Ob dort oben wohl die Aussichtsplattform zu finden ist?

Am Nothafen Darßer Ort
Wald, Düne, Strand und Meer – der Nordstrand des Darß.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Sie ist es. Der Ausblick, den ich von hier oben nun genießen kann, ist allerdings ein wenig nüchtern. Links verläuft die Hafenzufahrt, die, das liegt in der Natur der Sache, den Strand unterbricht. So ist es auch nicht verwunderlich, daß dieser hier mit einem ebensolchen Holzzaun abgesperrt ist, wie ich ihn zuvor am Weststrand bereits angetroffen hatte. Auf der anderen Seite des Zufahrtskanals ist nicht sonderlich viel zu sehen, da das Gelände dort ebenso hoch ist wie hier und Bäume den Blick in die Ferne behindern. So bleiben also nur die Aussicht nach Westen auf’s Meer hinaus und nach Südwesten über die Düne den Strand entlang. Dieser beschreibt eine weite Kurve vom nördlichen Ende des Darß, an dem ich mich derzeit befinde, hinüber nach Prerow, wo er dann genau von West nach Ost verläuft, wie es sich für einen Nordstrand gehört. Da der Ort vom Strand jedoch durch den Dünenwald getrennt ist, kann ich ihn von hier aus nicht sehen. Das vor mir liegende Bild beschränkt sich also im wesentlichen auf vier aufeinanderfolgende Streifen, die von mir weg in einem weiten Bogen zum Horizont führen: der Wald, die Düne, der Strand und das Meer. Unendliche Weite…

Wie ich das Meeresufer so entlangschaue, kommen mir doch leise Zweifel daran, ob die Idee, auf dem Nordstrand nach Prerow zurückzulaufen, wirklich so gut ist. Das könnte auf die Dauer dann vielleicht doch etwas eintönig werden. So entschließe ich mich, den Weg durch den Wald zu nehmen, und kehre um. Auf dem Rückweg bemerke ich am Hafenkai eine Rettungsstation, die die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hier unterhält, und mache mir die gedankliche Notiz, daß der Hafen damit also noch einen weiteren Zweck erfüllt als nur den, in Bedrängnis geratenen Schiffen ein kurzzeitiges Refugium zu bieten.

Ich habe etwa die Hälfte der Strecke zurück zur Waldstraße zurückgelegt, als ich einen kleinen Weg bemerke, der in westlicher Richtung in den Wald hineinführt. Angesichts der vielen Urlauber, die mittlerweile hier unterwegs sind und die ich auch zuvor auf der Waldstraße ständig um mich hatte, erscheint es mir sehr verlockend, die Straßen gänzlich hinter mir zu lassen und auf einem ruhigen Waldweg zurück nach Prerow zu laufen. Gesagt, getan. Einen Schwenk und ein paar Schritte später bin ich unter den Bäumen verschwunden und von herrlicher Waldesruh umgeben.

Doch die Freude währt nicht allzulang. Denn wie ich schon nach relativ kurzer Zeit feststellen muß, führt mein stiller Waldweg direkt auf den riesigen Zelt- und Campingplatz zu, der sich von hier mehr als eineinhalb Kilometer bis zum Ortseingang von Prerow erstreckt. Und so laufe ich alsbald an einer endlosen Reihe von Campingwagen, Caravans und Zelten vorüber, die jedoch alle mehr oder weniger verlassen wirken, denn ich begegne lange Zeit keiner Menschenseele. Erst als ich mich in dieser provisorischen Stadt deren Zentrum nähere, zeigen sich dann doch ein paar ihrer Bewohner. Sie streben der einzigen Attraktion entgegen, die es heute hier zu geben scheint: ein mit lauter Musik die Gegend beschallendes Imbiß-Etablissement, das im Freien ein paar Tische und einen Grill aufgestellt hat. Daß der Lebensmittelladen und die anderen möglicherweise noch vorhandenen Geschäfte an diesem Montag hingegen alle geschlossen haben, finde ich merkwürdig, bis mir schließlich wieder einfällt, daß gerade Ostern und damit heute Feiertag ist.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, daß wir in einem unserer damaligen Urlaube einmal eine Wanderung den Nordstrand entlang unternommen hatten und dabei bis hierher zum Zeltplatz gekommen waren, wo wir den Strand schließlich verlassen hatten, um von hier aus irgendwie nach Prerow zurückzukommen. Auf dem Weg zwischen den Zelten und Wohnwagen hindurch hatte es uns auch zum Zentrum des Zeltplatzes verschlagen. Ob das damals schon an dieser Stelle oder irgendwo anders gewesen war, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Daß es dort allerdings ein sogenanntes Zeltplatzkino gegeben hat, das ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Denn dieses Kino, das es heute nicht mehr zu geben scheint – ich kann jedenfalls keines entdecken -, hatte mich damals sofort in seinen Bann gezogen. Neugierig war ich an jenem frühen Nachmittag stehengeblieben und studierte die aufgehängten Filmplakate mit den Ankündigungen, wann welcher Film laufen würde. Eines fand ich besonders lustig. Auf ihm waren drei drollig aussehende Typen zu sehen, von denen der kleinste und älteste eine Melone auf dem Kopf und einen Zigarrenstummel im Mund hatte. Bekleidet mit einem Anzug, sah er so aus, als nähme er sich überaus wichtig. Der zweite, etwas größere Mann wirkte überaus freundlich, machte aber einen etwas einfältigen Eindruck. Er trug eine Schiebermütze mit einem kurzen Schirm sowie eine Brille und war mit einer weiten Hose und einer braunen Jacke bekleidet. Unter den Arm hatte er eine abgewetzte Ledertasche geklemmt, die wie die altmodische Tasche eines Landarztes aussah. Der Dritte im Bunde war der Größte. Mit seinem Hut und seinem karierten Jackett hätte er vielleicht elegant gewirkt, wären im nicht seine Hosen deutlich zu kurz gewesen. Der Titel des Films verriet, daß die drei Figuren, denen man irgendwie ansah, daß sie alles versuchen, aber nichts auf die Reihe kriegen würden, in dem Streifen damit beschäftigt sein würden, Weichen zu stellen. Das klang skurril.

Nun war ich damals als angehender Teenager noch nicht in einem Alter, in dem ich besonders häufig ins Kino gegangen wäre. So war ein Kinobesuch für mich schon etwas absolut Besonderes. Da stand ich nun also vor diesem Filmplakat, las den Filmtitel und die Angaben mit den Spielzeiten – und war auf einmal ziemlich aufgeregt. Ich hatte gerade entdeckt, daß eben dieser Film, der seinem Plakat zufolge ganz sicher wahnsinnig lustig sein mußte, in wenigen Augenblicken anlaufen würde. Und so bekniete ich meine Eltern umgehend, ob wir nicht bitte bitte gleich jetzt in diesen Film gehen könnten. Nun, ich mußte nicht lange bitten, denn dankenswerterweise waren sie sofort einverstanden, spontan einen Kinobesuch einzulegen – und so kam es hier in Prerow, in eben diesem Zeltplatzkino zu meiner allerersten Begegnung mit – der Olsenbande. Ich könnte heute nicht mehr sagen, wann, wo und unter welchen Umständen ich die anderen Filme dieses Trios Infernale gesehen habe, aber dieser eine, der für mich der erste war, ist mir in Erinnerung geblieben.

Daß es das Kino von damals heute nicht mehr gibt, ist eigentlich nicht verwunderlich, denn es war eine recht provisorische Anlage. Im Grunde bestand es vollständig aus Wellblech und wirkte in seinem äußeren Erscheinungsbild so, als hätte man eine riesige Tonne der Länge nach in der Mitte aufgeschnitten und eine Hälfte dann auf den Boden gelegt. Blechbüchsenkino nannten die Urlauber das damals, und genauso sah es auch aus. Daß das heute natürlich den Ansprüchen an ein Kino nicht mehr genügt, ist wohl klar. Schade ist aber, daß man es einfach wegrationalisiert hat, anstatt den Zeltplatzgästen ein besseres Filmhaus hinzustellen. Nun ja, es rechnet sich wohl nicht. So müssen filmverrückte Camper heute nach Prerow hineinfahren, um das dortige Kino zu besuchen.

Vom Zentrum des Zeltplatzes setze ich meinen Weg am landseitigen Rand des riesigen Areals fort, und als ich zu guter Letzt doch noch dessen östliches Ende erreiche, habe ich nur noch etwas mehr als einen und einen halben Kilometer zu laufen, bis ich wieder in meiner Pension angelangt bin und meine Wanderung endet.

Zwar bin ich, der in der zurückliegenden Winterzeit nicht sonderlich viele größere Strecken am Stück zurückgelegt hat, nun doch ganz anständig geschafft, doch wirkt eine kleine Erholungsphase von ein, zwei Stunden wahre Wunder. Und so bin ich am frühen Abend bereits wieder fit genug, um auf der Suche nach einem Restaurant, das mir ein anständiges Abendbrot serviert, noch einen kleinen Bummel durch den Ort zu machen.

Am Gemeindeplatz mitten im Zentrum des Ortes entdecke ich in einer kleinen Grünanlage ein Denkmal, das an Einwohner des Ortes erinnert, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Eine kleine daran angebrachte Plakette verrät mir, daß es bereits am 16. Oktober 1921 durch den damals im Ort ansässigen Kriegerverein eingeweiht worden ist. Nun, von kriegerischen Traditionen hatte man wohl nach dem darauffolgenden Zweiten Weltkrieg erst einmal die Nase voll, so daß es diesen Verein dann vielleicht nicht mehr gegeben hat. Zur Stiftung eines weiteren Denkmals für die aus dieser Apokalypse nicht mehr heimgekehrten Einwohner scheint er jedenfalls nicht gekommen zu sein, denn ein solches gibt es in Prerow nicht.

Denkmal für den I. Weltkrieg in Prerow
Prerower Gedenken. Sie zogen begeistert in den Krieg und kamen nie zurück. Heute sind sie nurmehr Namen auf einem Stein.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Am nördlichen Ende des Gemeindeplatzes, auf dem sich Grünanlage und Denkmal befinden, finde ich die Touristeninformation des Ortes, die im alten Gemeindeamt untergebracht ist. Ich meine, mich zu erinnern, daß sich zu Zeiten unserer damaligen Urlaube hier die Kurverwaltung befand, die wir nach der Ankunft immer als erstes aufsuchen mußten, um dort unsere Kurtaxe zu entrichten. Dort erfuhren wir dann auch, in welchem der hiesigen FDGB-Heime wir uns täglich einfinden konnten, um unser Mittagessen einzunehmen. Denn auch für Urlauber, die privat ein Zimmer gemietet hatten, boten diese vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR betriebenen Heime mittägliche Urlaubsverpflegung zu moderaten Preisen an. Allerdings konnten wir dort nicht einfach erscheinen, wann wir dazu Lust hatten. Und schon gar nicht war vorgesehen, daß wir jeden Tag in einem anderen Heim zu Mittag aßen. Nein, für den Mittagstisch gab es klare Regeln. Wir meldeten uns in der Kurverwaltung an und bekamen dann vom Feriendienst eines der im Ort ansässigen Heime zugewiesen – oder wurden einem zugeteilt, je nachdem, wie man das sehen möchte. Und damit auch alles seinen geregelten Gang nähme, erhielten wir Essenmarken, die uns als im entsprechenden Ferienheim zum Essen Berechtigte auswiesen. Natürlich hätte wir uns dieser Prozedur nicht unbedingt unterziehen müssen. Es wäre auch möglich gewesen, sich selbst um den Erhalt eines Mittagessens zu kümmern, indem man beispielsweise ein Restaurant besuchte. Angesichts der großen Zahl an Urlaubern wäre das aber stets mit längeren Wartezeiten verbunden gewesen, die man am Eingang des jeweiligen Etablissements zu verbringen hatte, bis man plaziert wurde. Da war es keine Frage, was uns lieber war.

Ist es nicht interessant, welche Erinnerungen plötzlich aus den Tiefen des eigenen Geistes an die Oberfläche aufsteigen, an die man jahrzehntelang keinen einzigen Gedanken verschwendet hat, nur weil man sich nach all der Zeit wieder einmal an einem Ort befindet, an dem man einst gewesen? Bis zu diesem Augenblick habe ich nicht einmal geahnt, was ich aus der Zeit von damals alles noch weiß. Vielleicht sollte ich öfter solche Reisen in die eigenen Erinnerungen unternehmen…

Die Touristeninformation in Prerow
Das alte Gemeindeamt von Prerow – ein Haus wie für den Darß gemacht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Das Gebäude, das heute die Touristeninformation beherbergt, stammt bereits aus dem Jahr 1931 und ist, so erzählt mir ein ebensolches orangefarbenes Schild, wie ich es tags zuvor bereits an der Bäckerei Koch studiert hatte, im sogenannten Darß-Stil errichtet worden. Für diesen charakteristisch sind das schilfgedeckte Dach und die bunt bemalte Eingangstür. Nun, das kann ich bestätigen. In Prerow und überhaupt auf dem Darß findet man viele solcher Häuser. Dafür fehlen Bauten der sogenannten Bäderarchitektur, wie man sie beispielsweise in Binz, Sellin und den anderen Seebädern auf Rügen so häufig antrifft, hier völlig. Prerow und die anderen Orte auf dem Darß waren eben immer Siedlungen, in denen die einfachen Leute wohnten, die ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdienen mußten. Und als solche waren sie, auch wenn sie Urlauber stets anzogen, nie das Ziel der Reichen und Mondänen. Die einfachen Leute aber, die hier lebten, drückten ihren Stolz auf ihre Heimat und ihre Arbeit dadurch aus, daß sie begannen, ihre Türen mit geschnitzten Motiven zu verzieren und diese zu bemalen. Diese Sitte entwickelte sich mit der Zeit zu einem wahren Charakteristikum für den Darß, so daß die „Darßer Tür“ heute als Markenzeichen der Halbinsel gilt. Besonders oft sind in den Verzierungen Sonnen, Tulpensträuße und Blüten zu finden, was keineswegs Zufall ist. Es handelt sich dabei um alte Darßer Motive.

Ich habe schnell herausgefunden, daß Prerow kein Ort ist, in dem es an jeder Ecke ein anderes Restaurant gibt. Insbesondere der in dieser Hinsicht verwöhnte Großstädter dürfte möglicherweise die Abwechslung vielfältiger internationaler Küchen hier vermissen. Lasse ich jegliche Form von Imbißstand außer Acht, habe ich im Zentrum des Ortes – den Hauptweg zum Strand eingeschlossen – bisher nur zwei Arten fremdländische Küche anbietender Restaurants gefunden: spanisch und italienisch. Letztere scheint hier allerdings überaus beliebt zu sein, denn es gibt gleich drei davon. Desweiteren bin ich an einem Brauhaus mit eher rustikaler und sehr fleischlastiger Küche, einem Fischrestaurant, einem Café sowie drei Etablissements vorübergekommen, die eine gewisse Vielfalt auf ihrer Karte bevorzugen, die von Fisch über Steaks bis zu vegetarischen Gerichten reicht. Wer erwartet, noch mehr Restaurants zu finden, dürfte wohl enttäuscht sein. Nicht so ich. Mir genügt das Angebot vollkommen, und für meine Zeit hier ist auch für genug Abwechslung gesorgt. Außerdem möchte ich, wenn ich irgendwohin reise, auch lieber die dortige lokale Küche probieren als die internationale. Von letzterer habe ich in meiner Heimatstadt Berlin bereits ausreichend zur Verfügung. Eine gewisse Schwierigkeit stellt allerdings die Tatsache dar, daß die hiesigen gastronomischen Einrichtungen ihre Öffnungszeiten in hohem Maße an den von ihnen erwarteten Gästezahlen ausrichten, das heißt danach, ob gerade Urlaubssaison ist oder nicht. Und da wir gerade April haben, uns also noch in der Vorsaison befinden, öffnen einige Restaurants erst um 17 Uhr, während andere an gewissen Werktagen ganz geschlossen bleiben. Das mag hinsichtlich des erwarteten Umsatzes angemessen sein, stellt mich aber vor das Problem, das ich nicht in jedem Restaurant zeitnah einen Platz bekommen kann, wenn ich das gerade möchte. Wie es aussieht, befinden sich bereits genügend Urlauber im Ort, um das zur Verfügung stehende Angebot auszureizen. Letztlich gelingt es mir heute aber doch, genau wie am Vortag, ein Abendessen zu ergattern.

Danach ist es immer noch hell genug, um noch einmal den Weg hinunter zum Strand einzuschlagen. Ich wähle diesmal nicht den Hauptweg, sondern den, der den Prerower Strom über die östlich benachbarte Holzbrücke überquert. Als ich sie hinter mir gelassen habe und den sich anschließenden Dünenwald durchwandere, stoße ich hier auf einige Reste des sumpfigen Geländes, das ich tags zuvor am Hauptweg vermißt hatte. Die dem Horizont bereits entgegenstrebende Sonne sorgt hier für einige schön anzusehende Lichteffekte und im Wasser für interessante Spiegelungen.

Tümpel im Prerower Dünenwald
Der Wald der Gegenwelt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Am Strand hat jemand nah am Wasser eine Sandburg gebaut. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Kleckerburg. Sie besteht aus einer Ansammlung von Türmen und Türmchen, die sich aneinanderreihen und ein Rechteck bilden, dessen Inneres mit weiteren Türmen angefüllt ist. An den Außenseiten hat der Wind bereits sein Zerstörungswerk begonnen, denn dort sind die Kleckerfassaden schon recht brüchig geworden, so daß ihr Zerfall bereits eingesetzt hat. Doch wird dieser sicher bald beschleunigt werden, wenn auch das Wasser der Ostsee seinen Weg zu der nah an seinem Rand errichteten Burg gefunden haben wird. Noch ist es nicht so weit, doch die Ausläufer der Wellen kommen näher und näher…

Ich erinnere mich noch gut, wieviel Arbeit mit der Errichtung einer solchen Burg verbunden war, denn als Kind habe ich damals an so gut wie jedem Tag eine gebaut, den wir am Strand verbrachten. Dafür braucht man eigentlich nur einen Baustoff: Sand. Weil man aber unter normalen Umständen damit nichts errichten kann, da er einem in trockenem Zustand nur so durch die Finger rieselt, muß noch etwas anderes her: Wasser. Um das zu bekommen, gibt es drei Möglichkeiten. Die erste besteht in der Errichtung der Burg direkt am Wasser. Das hat den Vorteil, daß man kurze Wege hat. Mir machte das allerdings stets wenig Freude, denn zum einen ist die Wassergrenze an einem Strand voller Urlauber immer überlaufen, weil es sich dort bequemer auf dem Sand gehen läßt, zum anderen besteht stets die Gefahr, daß eine mächtigere Welle ein großes Stück den Strand hinaufschwappt und die gerade in Bau befindliche Burg gleich wieder niederreißt. Da war es mir immer lieber, die Burg dort zu bauen, wo wir am Strand gerade lagerten, also nahe an unserem Strandkorb. Da wir auch meist einen Windschutz um unseren Lagerplatz errichteten, hatte das an windigeren Tagen auch den Vorteil, daß die Burg nicht gleich wieder niedergeweht werden konnte. Möglichkeit zwei besteht also darin, weiter oben, gegebenenfalls sogar nah an der Düne mit dem Burgenbau zu beginnen und sich das dafür nötige Wasser mittels Eimern vom Meer zu holen. Weil man jedoch eine ganze Menge Wasser benötigt, bedeutet das ganz schön viel Lauferei. So griff ich stets zu Möglichkeit drei. Die besteht darin, an Ort und Stelle zunächst ein Loch zu graben, und zwar so tief, bis das Grundwasser erreicht ist. Dann hat man Wasser, soviel man benötigt. Je näher an der Düne wir uns befanden, um so tiefer mußte ich graben.

Hatte ich nun also Sand und Wasser, konnte es losgehen. Zunächst galt es, einen halbwegs glatten Untergrund zu bekommen. Also mußte erst einmal jede Menge lockerer Sand – ich nannte ihn immer Zuckersand, weil er im Sonnenlicht so schön glitzerte, wie es Zuckerkörner auch tun – beiseitegeschafft werden. War das getan, begann die Errichtung der Burgwälle und Mauern. Standen diese schließlich, konnte es an den Bau der Türme gehen. Diese wurden, wie es sich für eine Kleckerburg gehört, mittels Kleckertechnik Stück für Stück aufgeschichtet. Dazu mußte ich tief in mein gegrabenes Loch greifen, um aus der Grundwasserschicht mit Wasser durchtränkten Sand heraufzuholen, denn nur dieser ließ sich aus der geschlossenen Faust heraustropfen – also kleckern. Das war an der breiten Basis des Turms immer noch relativ leicht, weil man einfach so draufloskleckern konnte. Doch je höher er wurde, desto schmaler mußte er werden, bis er schließlich in einer schönen Spitze auslief. Das erforderte, da meine Ansprüche an die Ästhetik der Burggestaltung ausgesprochen hoch waren, viel Geschick und Geduld, besonders, wenn es zum Schluß um die Spitze ging, die ihrem Namen natürlich Ehre machen und möglich spitz zulaufen sollte. Aber ich hatte ja Zeit.

Doch was ist eine Burg, die nur aus Burgwällen und Türmen besteht? Da fehlte doch was. Also mußte ein Burgtor her, vor dem sich eine Zugbrücke befand. Und damit die auch über etwas hinüberführen konnte, brauchte die Burg natürlich einen Wassergraben. Um den zu füllen, war viel mehr Wasser nötig, als das gegrabene Loch hergab, so daß ich nun doch mehrmals hinunter zum Meer laufen mußte. Aber was tat ich nicht alles für eine schöne Sandburg. Natürlich ließ sich die Ziehbrücke nicht wirklich hochziehen. Um sie aber möglichst gut aussehen und stabil werden zu lassen, brauchte ich nun noch einen dritten Baustoff: Holz. In Form von Stöcken – oder Stöckern, wie der Berliner sagt. Die konnte ich im nahen Dünenwald sammeln. Aber auch am Strand lag meist genug herum. Ich war schließlich nicht das einzige Kind, das anspruchsvolle Sandburgen baute. Im Inneren der Burg errichtete ich meist weitere Mauern, damit es mehrere Höfe gab. Die konnte ich dann wieder mit Durchfahrten in den Mauern verbinden. Kleine Gebäude in den Höfen zu plazieren, war dann schon wieder eine vergleichsweise leichte Übung.

Und wenn ich mal keine Lust hatte, wieder eine Sandburg zu bauen, dann baute ich Straßenlandschaften. Mit Kreuzungen, Brücken, Bergen und Tunneln. Es gab immer was zu tun.

Sandburg am Prerower Ostseestrand
Kleckerburg am Meeresstrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Hatte man zwecks Wasserbeschaffung ein Loch gegraben, mußte man natürlich dafür sorgen, daß dieses später nicht zur Falle für ahnungslose Strandwanderer wurde. Wenn wir also abends unser Lager am Strand auflösten, bestand meine Aufgabe darin, daß am Tag gegrabene Loch wieder mit Sand aufzufüllen. So konnte nichts passieren. Leider wurde mir mein Wasserloch aber einmal selbst zum Verhängnis. Wieder einmal hatte ich eines gegraben und eine prächtige Sandburg gebaut. Mittlerweile war ich dafür schon ganz prächtig ausgestattet und hatte einen kleinen Kinderspaten dabei, der über ein Metallblatt verfügte, mit dem sich in Windeseile ein Wasserloch graben ließ. Als wir des Mittags unser Strandlager für eine Weile verließen, um zum Mittagessen in das uns zugewiesene FDGB-Heim zu gehen, stellte ich, besorgt um meinen Spaten, diesen in das Loch und legte unsere aufgepumpte Luftmatratze darüber. So konnte niemand das Loch und den Spaten darin sehen, geschweige denn entwenden. Eine Gefahr für andere stellte das nicht dar, denn da wir unser Strandlager für den Gang zum Mittagessen nicht extra auflösten, blieb es mittels der Windschutze abgesteckt und niemand konnte hindurchlaufen. Als wir, nach der Nahrungsaufnahme gestärkt, wieder zurückkehrten, hatte ich allerdings das Loch und den Spaten darin völlig vergessen. Da ich etwas lesen wollte, hob ich die Luftmatratze auf, um sie in den Schatten des Windschutzes zu legen. Dabei trat ich unversehens in das darunter zum Vorschein kommende Loch und versank bis zum Knie darin. Ach was, kein Problem. Zog ich den Fuß halt wieder heraus. Da ich nichts spürte, ahnte ich auch nichts Böses und ging weiter, legte die Luftmatratze ab, drehte mich um… und gewahrte plötzlich rote Flecken im Sand! Gerade wollte ich mich fragen, wo die wohl auf einmal herkamen, da spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz am Ballen meines linken Fußes. Weil der eine Weile hatte auf sich warten lassen, war mir völlig entgangen, daß ich beim Tritt in das Loch mit dem Ballen auf das Blatt meines kleinen Spatens geraten war und mir ein Stück Haut aus diesem herausschnitten hatte. Jedoch nicht ganz, denn es war noch dran. Aber der Schnitt war immerhin tief genug, um nun unausgesetzt zu bluten. Ach herrje…

Das Nächste, das ich noch weiß, ist, daß ich im Turm der Rettungsschwimmer am Dünenübergang war. Wie ich dort hingekommen war, hat sich in meiner Erinnerung nicht erhalten. Nun saß ich auf einer Liege – oder war es ein Stuhl? – und sah zu, wie einer der Sanitäter die Wunde an meinem Fuß säuberte und anschließend mit einer Spraydose etwas darauf sprühte. Dieses Etwas erwies sich, als es getrocknet war, als eine Art Pflaster, das nun die Blutung zum Stillstand brachte. Ich war beeindruckt. Flüssiges Pflaster. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Für einen Moment vergaß ich sogar, daß mir der Fuß immer noch wehtat.

Doch was nun? Laufen ging einigermaßen, wenn ich nicht gerade direkt mit dem Fußballen auftrat. Doch an Spielen im Sand oder Badengehen, so schien es, war nun für den Rest des Urlaubs nicht mehr zu denken. Doch auch dafür gab es eine Lösung. Meine Mutter stülpte einfach eine große Plastiktüte über meinen verbundenen Fuß, den sie mit einem Bindfaden festband, und so konnte ich, wenn ich aufpaßte, nicht zu tief hineinzugehen, immerhin im Wasser der Ostsee herumpatschen, wenn auch nicht untertauchen. So wurde es, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, doch noch ein schöner Urlaub.

Diese Kindheitserlebnisse kommen mir eines nach dem anderen in den Sinn, als ich hier am Meeresufer stehe und auf die Kleckerburg hinabblicke, die jemand – möglicherweise ein Kind – an diesem Tag mit Hingabe hier errichtet hat. Morgen wird sie wohl schon wieder im Sand des Strandes versunken sein. Doch heute bringt sie mir einige Erinnerungen an meine Kindheit zurück, und dafür bin ich den kleinen oder vielleicht auch großen Baumeistern dankbar.

Die Sonne ist dem Horizont in der Zwischenzeit wieder ein Stück nähergekommen, und so beschließe ich, den Rückweg anzutreten. Über die Düne, durch den Dünenwald und über den Prerower Strom, an dem ich noch ein wenig verweile, um einen Schwan zu beobachten, der allein auf der ruhigen Wasseroberfläche umherschwimmt, spaziere ich langsam wieder zurück zu meiner Pension. Ein Tag voller schöner Naturerlebnisse und Erinnerungen geht zu Ende…

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Referenzen

Referenzen
1 Mehr Informationen zu den verschiedenen Dünenarten finden sich in dem Blog marionsostsee.de.
2 Ich bin zwar kein Experte, doch von einer Eidechse scheint mir das Tier weit entfernt zu sein. Nach einigen Vergleichen mit einschlägigen Bildern habe ich mich schließlich entschieden, die Schlange für eine schwarze Kreuzotter zu halten. Wer mich sachkundig eines Besseren belehren kann und möchte, kann mich gerne kontaktieren.

Ankunft in meinen Erinnerungen

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Beim Blättern in den Bildern meiner KindheitFind‘ ich viele vergilbt in all‘ den Jahr’n.Und and’re von fast unwirklicher Klarheit,Von Augenblicken, die mir wichtig war’n![1]Reinhard Mey: Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit, Album „Jahreszeiten“, 1980, Intercord, INT 160.139

Es ist noch gar nicht so lange her, da saßen wir wieder einmal im trauten Kreise der Familie beisammen und sprachen über dies und das und jenes. Und wie es manchmal so kommt, führte uns der Faden des Gesprächs geradewegs auf den Pfad der Erinnerung und wir schwelgten ein wenig in eben dieser. Wir gelangten dabei zurück in die 1980er Jahre, in denen wir einige schöne Urlaube an der Ostsee verbracht hatten, wie es damals sicher viele Familien in der DDR taten. Unser Ziel war stets der Darß gewesen, wo wir in dem einst kleinen Fischerdorf Prerow, das sich längst zu einem beliebten Urlaubsort gemausert hatte, für alljährlich vierzehn Sommertage Quartier nehmen konnten. Nun muß man wissen, daß es zu Zeiten der DDR nicht unbedingt einfach war, an der Ostsee, die ein überaus begehrtes Urlaubsziel war, ein solches Quartier zu finden. Man konnte entweder das Glück haben, einen vom FDGB[2]Das Kürzel stand für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Das war der Dachverband der Gewerkschaften in der DDR. vergebenen Urlaubsplatz zu ergattern, was jedoch nicht jedes Jahr der Fall war. Oder man gehörte zu den glücklichen Leuten, denen es gelungen war, durch Kontakte – meist über mehrere Ecken – an ein privat vermietetes Zimmer zu kommen. Wer es aber einmal geschafft hatte, in diesen Kreis einzutreten, der verließ ihn nach Möglichkeit nicht wieder und sicherte sich bei der Abreise im einen Jahr das Zimmer gleich für das nächste. Nun, meinen Eltern war der Zugang zu diesem Kreis irgendwie geglückt, und so fuhren wir in jener Zeit alljährlich nach Prerow, mieteten uns für die bereits erwähnten vierzehn Sommertage bei der Familie Koch in der Bergstraße 10 ein und genossen wunderschöne Tage auf dem Darß und am Meer, die mit zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören. Die Kochs vermieteten allerdings nicht nur Zimmer – das taten sie eigentlich nur nebenbei -, sondern betrieben eine kleine Bäckerei, die ich als Kind ungeheuer faszinierend fand. All die leckeren Düfte und die noch viel leckereren Kuchen, die großen Öfen, die großen Bottiche mit Teig… Ich gehörte hier zum Kreise der Eingeweihten, die wußten, wie es hinter den Kulissen eines Bäckereiladens zuging.

Während wir da nun also saßen und uns erinnerten, fragten wir uns plötzlich, ob es die Bäckerei wohl heute noch gäbe. Irgendwann in den Zeiten der Wende war unser Kontakt dorthin bedauerlicherweise abgerissen. Man hatte in jenen Jahren voller Wirren und Umbrüche einfach andere und viel dringendere Sorgen als Urlaube. Meine Eltern verloren ihre Jobs und mußten sich um neue bemühen, was nicht einfach war angesichts der über Nacht gänzlich veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, aber glücklicherweise schließlich gelang. Zur selben Zeit endete meine Schulzeit und ich kämpfte mit der Planung meiner Zukunft, für die ich ein Studium vorgesehen hatte, von dem ich nun zunächst gar nicht wußte, ob und wie das unter den neuen Bedingungen möglich sein würde. Erfreulicherweise regelte sich schließlich alles zum besten, wenn auch in völlig anderer Weise als ursprünglich gedacht – aus einem Mathematik- wurde unversehens ein Informatikstudium -, doch das brachte neue Aufregungen mit sich, denn mit dem Eintritt in die Humboldt-Universität stand ich vor gänzlich anderen Herausforderungen, als sie die Schule mir bisher abverlangt hatte. Angesichts all dessen konnten alljährliche Ostseeurlaube nicht mehr auf der Tagesordnung stehen und wir sahen Prerow, in dem wir alljährlich so gerne gewesen waren, letztlich nie wieder.

Nun, die Frage, ob es die Bäckerei noch gab oder nicht, konnten wir in unserem Gespräch im Familienkreise letztlich nicht beantworten. Doch nun, da die Erinnerungen einmal geweckt waren, ließen sie mich nicht mehr los. Und so setzte ich mich eines Abends kurzentschlossen an den Computer und begann, ein wenig zu recherchieren. Es dauerte nicht lange, da führte mich meine Suche in den Weiten des Internets zu einer Zeitschrift, die sich „Der Darßer“ nennt. Es ist wohl angesichts dieses Namens für niemanden eine wirkliche Überraschung zu erfahren, daß sie sich der Region der Halbinsel namens Darß widmet. Und so kommen natürlich auch immer wieder Beiträge aus und über Prerow darin vor. Und wie ich nun so stöberte, fand ich in der Nummer 30 vom Dezember 2020 einen Beitrag über eben jene Bäckerei Koch, nach der ich gerade suchte. Ich erfuhr, daß sie zwei Monate zuvor nach stolzen 43 Jahren[3]Tatsächlich ist die Bäckerei allerdings älter. Der Zeitraum bezieht sich auf ihren letzten Inhaber. ihre Pforten für immer geschlossen hatte. Dies zu lesen, stimmte mich auf einmal etwas wehmütig, kam es mir doch so vor, als sei etwas, an das ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, nun für immer verloren. Nun ja, das Leben ist, wie es ist. Und das ist der normale Lauf der Zeit.

Und doch mußte ich in den folgenden Monaten immer wieder einmal daran denken und ich blätterte in Gedanken in den Kindheitsbildern jener Urlaube am Meer in der Mitte der 1980er Jahre…

Und ganz langsam keimte sie auf in mir, die Idee, jenen Ort, der mit diesen Erinnerungen so eng verbunden war, nach all den Jahren doch wieder einmal aufzusuchen. Sie wuchs und wuchs, und schließlich, in diesem April des Jahres 2023 ist sie groß genug, daß ich sie nicht länger unbeachtet lassen kann. Und so mache ich mich schließlich auf den Weg auf den Darß, nach Prerow am Ufer der Ostsee.

Zugangsweg zum Strand bei Prerow
Gleich hinter der Düne liegt das Meer. Nur noch ein paar Schritte… Dort will ich hin.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Wenn jemand wie ich, der weder Auto noch Fahrerlaubnis sein eigen nennt, auf den Darß fahren will, so ist das nicht ganz einfach, wenn diese Fahrt außerhalb der Saison stattfindet. Zwar gibt es von Berlin aus eine Direktverbindung mit dem Flixbus, doch wird diese nur während der Saison bedient. Da aber der April im besten Falle nur als Vorsaison zählt, ist die Direktverbindung nicht zu haben und mir bleibt nur die Eisenbahn als Alternative. Mit dieser kommt man allerdings nicht bis auf den Darß, es sei denn, man schaffte es irgendwie, in der Zeit zurückzureisen. Eine Eisenbahnlinie, die bis Prerow führte und als Darßbahn bezeichnet wurde, hatte es nämlich durchaus einmal gegeben, allerdings nur bis etwa 1945, als man ihren Schienenstrang abtrug, um ihn als Teil der Reparationsleistungen für die mit dem Zweiten Weltkrieg verursachten Schäden in die Sowjetunion zu verfrachten. So hat man heute nur die Möglichkeit, bis Ribnitz-Damgarten oder Barth zu fahren, von wo es in beiden Fällen das letzte Stück Wegs mit dem Bus zurückzulegen gilt. Das steht nun auch mir bevor.

Natürlich hat sich Die Bahn wieder einige Überraschungen für ihre Fahrgäste überlegt, um ihnen die Reise möglichst unan… Verzeihung, ich meine selbstverständlich: angenehm wie möglich zu machen. Die schnellere Verbindung über Rostock fällt schon einmal aus, da über das Osterwochenende auf der Strecke zwischen Rostock und Ribnitz-Damgarten gebaut werden soll und daher nur ein Schienenersatzverkehr angeboten wird. Daß dieser am Ostersonntag tatsächlich unterwegs ist, kann ich während meiner Anreise höchstselbst feststellen, obwohl ich ihn nicht benutzen muß. Daß aber ausgerechnet am Ostersonntag wirklich irgendwer an der Strecke mit Bauarbeiten beschäftigt sein soll, das glaube ich keine Sekunde[4]Vehemente Verteidiger der Bahn mögen nun einwenden, daß die Bauarbeiten ja sicher länger als ein Wochenende gedauert haben und am Osterwochenende somit nur eine Pause eingelegt worden ist. Das ist … [Weiterlesen]. Wie dem auch sei – ich habe jedenfalls die Strecke über Stralsund zu nehmen, die allerdings ausschließlich mit Regionalzügen befahren wird, was die Fahrt zwar billiger, aber auch langsamer macht. Fünfeinhalb Stunden würde ich von Berlin nach Prerow brauchen. Sagt jedenfalls der Fahrplan. Doch der kann ja nicht wissen, daß der Zug hinter Züssow, kaum daß er dort losgefahren, plötzlich wieder halten würde, um dann eine ganze lange Weile untätig auf freier Strecke herumzustehen. Schon wundere ich mich, warum das permanente, einem Rauschen nicht unähnliche Hintergrundgeräusch, das so ein Regionalexpreß unablässig verbreitet, plötzlich erstorben ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich es überhaupt erst bemerkt, als es mir nun so unvermittelt nicht mehr ständig in den Ohren liegt. Doch daß es nun nicht mehr vorhanden ist, kann mir eigentlich schon ein Hinweis auf die Ursache des außerplanmäßigen Haltes sein, doch ich denke zunächst nicht darüber nach. Und als ich gerade damit beginnen will, erbarmt sich der Zugführer – oder ist es der Zugbegleiter? – seiner Fahrgäste und erklärt in einer Durchsage, daß der Zug – man halte sich fest – einen Energieausfall habe. Und das wäre, so seine professionelle Meinung, „gar nicht gut“. Ob daran die Bahn selbst die Schuld trägt oder dies bereits eine Folge der derzeitigen glorreichen Energiepolitik unserer Regierung ist, dazu äußert er sich nicht. Auch ich werde hier darauf verzichten und mir meinen Teil dazu nur denken. Immerhin hat seine Durchsage zur Folge, daß die Geister der Elektrizität offenbar beschließen, sie umgehend Lügen zu strafen, denn es dauert nur einige weitere Minuten und unser Zug setzt sich wieder in Bewegung. Halleluja!

Strandhafer an der Ostsee
Hinter der Düne rauscht das Meer. Um mich herum rauscht noch nur der Zug. Und momentan noch nicht einmal das!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Für mich hat dieser ungeplante Halt allerdings zur Folge, daß ich mit meinem Zug deutlich später als geplant in Stralsund eintreffe und so meinen Anschlußzug um ganze sieben Minuten verpasse. Ich darf mich allerdings damit trösten, als Ersatz dafür nun weitere zwei Stunden auf diesem schönen Bahnhof zu verbringen, denn so lange dauert es, bis der nächste Zug in Richtung Ribnitz-Damgarten fährt. Für Fahrgäste, die nach Rostock wollen, hat man besagten Schienenersatzverkehr eingerichtet, den man sogar von Stralsund fahren, aber – aufgrund welcher hochintelligenten Überlegung auch immer – nicht in Ribnitz-Damgarten halten läßt, so daß mir diese Möglichkeit des Weiterkommens nicht offensteht. Notgedrungen sitze ich also meine Zeit am Bahnhof ab und steige dann in den Zug in Richtung Ribnitz-Damgarten, den ich jedoch in Velgast bereits wieder verlasse, um in einen weiteren Zug nach Barth umzusteigen. Trotz es zusätzlichen und ursprünglich nicht vorgesehenen Umstiegs, so hatte es mir der Fahrplan verraten, ist das die schnellere Verbindung nach Prerow, da die Meister der Verkehrsplanung die Abfahrtszeit des Busses in Ribnitz-Damgarten auf fünf oder zehn Minuten VOR die dortige Ankunft des Zuges terminiert haben, was mir wenigstens weitere sechzig Minuten Wartezeit, wenn nicht mehr, eingebracht hätte. In Barth würde ich zwar auch warten müssen, aber wenigstens nur eine halbe Stunde.

Zu guter Letzt lange ich dann nach siebeneinhalb Stunden und damit zwei Stunden später als geplant in Prerow an. Glücklich, endlich am Ziel zu sein, suche ich als erstes mein Quartier auf. Für die sechs Tage und sieben Nächte habe ich mich in der Pension Linde einquartiert. Dort angekommen, werde ich nach meinem Klingeln von einem freundlichen Mann mittleren Alters empfangen, der mich sogleich mit den Worten begrüßt:

„Herzlich willkommen! Komm rein! Ich bin der Sven!“

Ein wenig verdattert über diese ungezwungene, direkte Art der Begrüßung bringe ich nur ein

„Ja, äh, guten Tag. … Glintschert mein Name. … Der Vorname ist Alexander.“

heraus. Sofort verspüre ich ob dieses zusammenhanglosen Gestammels das dringende Bedürfnis, hier an Ort und Stelle im Boden zu versinken. Er ignoriert das jedoch, grinst mich freundlich an und meint nur:

„Das hab‘ ich mir schon gedacht!“

Offenbar bin ich der einzige Gast, der heute noch erwartet wird. Er heißt mich meinen Koffer im Flur stehen lassen und bittet mich in sein Büro, wo er mir den Zimmerschlüssel übergibt und mir die Frühstückszeiten erklärt, woraufhin er mich zu meinem Zimmer führt. Dort angekommen, wünscht er mir einen schönen und angenehmen Aufenthalt und bittet mich, jederzeit auf ihn zuzukommen, wenn ich einen Wunsch hätte oder etwas benötigte. Dann empfiehlt er sich und überläßt mich meiner selbst.

Da bin ich nun also glücklich angekommen. Schnell packe ich meine Sachen aus und richte mich in dem gemütlichen Zimmer, das ausgesprochen ordentlich und sauber gehalten und überdies recht geräumig ist, ein. Schließlich habe ich noch etwas vor.

Immer, wenn ich irgendwohin an’s Meer fahre, statte ich diesem noch am Abend meiner Ankunft einen ersten Besuch ab, sozusagen als eine Art Begrüßung. An dieses kleine Ritual erinnere ich mich noch aus meiner Kindheit. Immer wenn wir hier in Prerow angekommen waren, gingen wir noch am selben Nachmittag oder Abend hinunter an den Strand und begrüßten die Ostsee. So will ich es also auch diesmal halten. Kaum daß ich also fertig bin mit Auspacken und Einrichten, schnappe ich mir meinen Fotoapparat und mache mich auf den Weg zu einem abendlichen Spaziergang.

War der Himmel am Morgen in Berlin noch von dicken, grauen Wolken verhangen gewesen, so hatte es auf meiner Fahrt hierher, je weiter ich nach Norden kam, mehr und mehr aufgeklart. Nun, hier in Prerow, wölbt sich über mir ein strahlend blauer Himmel und die Sonne, die sich langsam auf ihren Weg in Richtung des westlichen Horizonts macht, scheint mir ins Gesicht. Was für eine schöne Begrüßung…

Von meiner Pension, die sich direkt im Zentrum Prerows befindet, spaziere ich langsamen Schrittes zum Hauptweg, der zum Strand hinunterführt, und biege in diesen ein. Ich erkenne ihn sofort wieder. Gesäumt von hohen Bäumen, die eine Allee bilden, führt er geradewegs auf einen Deich zu. Während auf der rechten Seite einige Häuser stehen, liegt am linken Rand des sauber gepflasterten Weges eine Wiese. Dort steht ein altes Postauto, von dem man das rote DHL-Logo säuberlich entfernt hat. Der Besitzer dieses Fahrzeugs ist offenbar ein Buchhändler, denn er hat auf mehreren davor aufgestellten Tischen jede Menge Kisten plaziert, in denen sich Unmengen von Büchern befinden, die er zum Verkauf anbietet. Obwohl ich ausgesprochen gerne lese, steht mir in diesem Augenblick allerdings nicht der Sinn danach, ausgiebig darin zu stöbern. Bücher gibt es auch in Berlin. Und schließlich will ich an’s Meer!

Der Hauptweg zum Prerower Strand
Strahlend blauer Himmel über den Alleebäumen des Hauptweges zum Prerower Strand. Was für ein schöner Empfang!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Während ich langsam weitergehe, zieht plötzlich eine Erinnerung durch meinen Kopf und ich sehe mich wieder als Kind eben diesen Hauptweg entlanggehen, begeistert darüber, was ich hier gerade entdeckt habe. Genau auf dieser Wiese, wo der Buchhändler mit seinem alten Postauto seine Bücherkisten aufgestellt hat, hatten damals Pferde gestanden, die bei den Kindern wahre Begeisterungsstürme auslösten. Ponyreiten hat eben zu jeder Zeit bei den kleinen und größeren Pferdenarren hoch im Kurs gestanden.

Darüber sinnierend, wandere ich den Weg weiter und erinnere mich daran, daß er damals gar nicht so einen ebenmäßig gepflasterten Belag besessen hatte. Zwei breite Fahrspuren aus Beton, dazwischen und daneben jede Menge festgetretener Sand – das war’s. Wenn es heftig geregnet hatte, tat man wohl daran, gut darauf zu achten, die Betonstreifen nicht zu verlassen, wollte man seine Schuhe nicht über und über mit matschigem Dreck bedecken.

Nun, diese Gefahr besteht mit der sorgfältigen Pflasterung heute nicht mehr. Auf ihr wandere ich nun den Deich hinauf und auf dessen anderer Seite wieder hinab, wo der Weg einen kleinen Schwenk nach rechts macht und zu einem Damm führt, auf dem er den Prerower Strom überquert. Zwischen Strom und Deich liegt auf der rechten Seite ein kleiner Platz, auf dem meine Erinnerung ein Kettenkarussell plaziert, das heute jedoch nicht mehr da ist. Stattdessen stehen dort zwei Zelte, ein Bierwagen und eine Holzhütte, die sich etwas hochtrabend als „Stromblick“ bezeichnet und einen Thai-Imbiß beherbergt, der jedoch gerade geschlossen hat und auch die ganzen nächsten Tage nicht öffnen wird. Vom tags zuvor hier veranstalteten Osterfeuer liegen noch die verkohlten Reste herum.

Auf der gegenüberliegenden Wegseite stehen hohe Bäume, vorwiegend Kiefern, zwischen die ein Waldweg hineinführt, der sich nach wenigen Metern in zwei aufteilt. Ein Schild weist mich darauf hin, daß sich hier der Kurpark Prerows befindet. Okay. Das ist neu. Also für mich. Einen Kurpark gab es damals noch nicht. Aber Seebad ist Prerow ja auch erst seit 1997.

Am Prerower Strom
Idyll am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auf dem Dammweg überquere ich den Prerower Strom und durchquere den dahinter gelegenen Dünenwald. Ganz sicher bin ich nicht, aber es kommt mir so vor, als habe man diesen mächtig ausgedünnt. In meiner Erinnerung ist das Unterholz zu beiden Seiten des breiten Weges, auf dem ich unterwegs bin, bedeutend dichter und erinnert streckenweise an ein Dickicht, das mich als Kind stets neugierig gemacht hat, was sich wohl darin verbergen mag. Auch habe ich, besonders in Stromnähe, ein sumpfiges Waldgelände vor Augen, in das man sich besser nicht hineinwagt, will man nicht unversehens im Boden versinken. Demgegenüber blicke ich heute in einen vergleichsweise lichten Wald mit wenig Unterholz. Und sumpfiges Gelände kann ich so gut wie überhaupt nicht mehr entdecken.

Nach wenigen Metern beginnen die Buden. Nun, das ist vielleicht ein bißchen ungerecht, denn die Hütten, die nun zu beiden Seiten des Hauptweges stehen, sind eigentlich recht ansehnlich, wie sie da so stehen mit ihren hübschen Schilfdächern. In jeder von ihnen ist ein anderer Laden untergebracht. Von Restaurants über Imbisse bis hin zu zahlreichen Souvenir- und Kunstläden ist hier alles zu finden, was Ostsee-Touristen interessieren könnte. Wobei die kulinarischen Angebote eindeutig in der Überzahl sind.

Ich passiere die Ladenstraße vor der Düne und frage mich, ob es damals eigentlich auch schon so viele Verkaufsstände waren wie heute. Ich neige dazu, die Frage zu verneinen, bin mir aber nicht sicher. Zumindest auf der rechten Seite des Weges, so scheint mir jedoch, sind seit damals einige Hütten hinzugekommen. Ich weiß noch genau, wie damals an ihrer Stelle fliegende Händler mit ihren Klapptischen am Wegesrand standen und allerlei Klimbim anboten. Bei den Kindern und Jugendlichen ganz besonders hoch im Kurs standen die Ansteckbuttons mit den Konterfeis der angehimmelten Stars der Rock- und Pop-Musik, vornehmlich aus dem Bereich der westlichen Hemisphäre. Daß es für derartige Angebote fliegender Händler bedurfte, war klar, denn offiziell wurden Fanartikel von Künstlern aus dem Westen in der DDR selbstverständlich nicht verkauft. Auch an mir ging das Verlangen, wenigstens ein paar dieser Ansteckbuttons mit meinen Lieblingen mein eigen nennen zu können, natürlich nicht spurlos vorüber. Und so sehe ich sie heute noch vor mir, die von mir erstandenen Buttons: einer zeigte die Band a-ha, der andere das Duo Modern Talking. Dabei bedurfte es in meiner Schulklasse schon durchaus einer gewissen Courage, Modern Talking am Revers zu tragen. Denn die Modern-Talking-Fraktion war in der absoluten Minderheit und stand einer ungleich größeren Depeche-Mode-Fangruppe gegenüber, von der sie regelmäßig ausgelacht wurde. Immerhin gab es über die Akzeptanz von a-ha keine Diskussion. Ach, hatten wir damals Probleme…

Schließlich steigt der Weg etwas an und führt über die große, dem Strand nachgelagerte Sanddüne. Langsam gehe ich zur Anhöhe hinauf und erreiche auf deren anderer Seite schließlich die Seebrücke von Prerow. Oder ich täte es, wäre sie noch da. Tatsächlich sind jedoch lediglich ein paar kreisrunde Pfeiler zu sehen, die aus dem Sand ragen. Und weil sie bereits auf der zum Strand abfallenden Seite der Düne beginnen, erscheinen die ersten von ihnen nur sehr kurz, während jeder weitere ein Stück mehr aus dem Sand herausragt. Tatsächlich sind sie jedoch alle gleich hoch. Die alte Seebrücke, die es hier seit 1993 gab, hat man bereits vollständig abgerissen. Die Reihe der Pfeiler setzt sich zum Meer hin und in diesem fort, bis sie schließlich schon ein paar Meter hinter dem Ufer aufhört. Ganz offensichtlich ist man mit dem Setzen dieser die neue Seebrücke später tragen sollenden Stützen noch längst nicht fertig, denn etwas so kurzes würde man wohl kaum als Seebrücke bezeichnen.

Wo die Prerower Seebrücke sein sollte
Eine Ansammlung von (noch) nutzlosen Pfeilern. Das ist alles, was derzeit von der Prerower Seebrücke zu sehen ist.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein wenig geahnt hatte ich schon, daß ich hier am Strand von Prerow wohl keine Seebrücke zu sehen bekommen würde, als ich noch auf dem Dammweg über den Prerower Strom unterwegs gewesen war. Denn bereits von dort aus hatte ich den hoch aufragenden Kran deutlich sehen können, den ich nun aus nächster Nähe bewundern kann. Er steht allerdings ziemlich untätig in der Gegend herum, denn heute, am Ostersonntag, ist hier natürlich niemand mit irgendwelchen Bauarbeiten beschäftigt.

Der Weg zum Strand wird von der großen Baustelle weitestgehend versperrt. Lediglich auf seiner rechten Seite hat man einen schmalen Durchgang gelassen. Bevor ich diesen jedoch hinabsteige, gehe ich noch weiter rechts auf die Aussichtsplattform, die man dort eingerichtet hat, damit man von hier oben auf den Strand und die Baustelle hinabschauen kann. Weiter draußen im Meer, ein ganzes Stück hinter der Pfeilerreihe, kann ich einen steinernen Wall entdecken, auf dessen Zweck ich mir jedoch keinen Reim machen kann. Und in einem weiteren Abstand zu diesem ist ein zweiter solcher Wall zu sehen, dessen Sinn mir ebenso unklar ist. Immerhin meine ich, dort einen Bagger ausmachen zu können, was bedeutet, daß diese beiden Wälle ebenfalls gerade in Bau sind. Ob sie wohl zu der neuen Seebrücke gehören werden? Ich weiß es nicht. Vielleicht finde ich es irgendwann später noch heraus.

Ganz hinten am Horizont ist eine unregelmäßige Reihe von Windrädern zu sehen. Einundzwanzig Stück zähle ich. Sie bilden den vor der Küste des Darß positionierten sogenannten Offshore-Windpark namens Baltic 1. Hier nimmt man es mit der Energiewende offenbar sehr genau. Ob sie wohl gelingen wird? Wenn ich in Betracht ziehe, daß eine ganze Reihe dieser einundzwanzig Windräder gerade in Untätigkeit verharrt, obwohl doch ein recht lebhafter Wind um meine Nase weht, dann kommen mir daran gewisse Zweifel. Denn immerhin reicht der ja aus, um einen Kitesurfer mit seinem Drachen über die Wellen reiten und dabei ein beachtliches Tempo erreichen zu lassen. Und trotzdem steht eine ganze Menge dieser Windräder gerade ziemlich still…

Baltic 1
Technik, die begeistert. Am Strand von Prerow hat man den Offshore-Windpark Baltic 1 immer vor der Nase. Ist das nicht ein schöner Blick auf’s Meer?
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich stapfe durch den Sand zum Strand hinunter und begebe mich geradewegs zur an diesen anbrandenden Ostsee, um ihr nun wirklich Guten Tag zu sagen, ganz wie es mein Ritual verlangt. Als das erledigt ist, entschließe ich mich, den Strand ein kleines Stück nach Westen entlangzuwandern, bis ich den nächsten Dünenübergang erreiche. Selbstverständlich ist es aus Gründen des Umwelt- und Küstenschutzes nicht gestattet, einfach so irgendwo über die Düne zu stapfen.

Weil das Laufen im tiefen Sand auf die Dauer doch etwas beschwerlich ist, gehe ich nahe am Wasser entlang, wo er dank der beständigen Feuchtigkeit fester und damit einfacher zu gehen ist. Allerdings muß ich dafür beständig darauf achten, daß die Wellen mich nicht erwischen und meine Schuhe überspülen, was mir ziemlich nasse Füße einbringen würde.

Als ich den nächsten Übergang erreicht habe, wende ich mich wieder landeinwärts und spaziere durch den Dünenwald zurück zum Strom. Kaum habe ich die Düne überquert, besteht der Boden des Weges plötzlich aus gelben, orangenen und roten Ziegeln. Sehe ich einmal davon ab, daß die Ziegel nicht nur gelb sind, könnte ich fast meinen, ich habe den Backsteinweg erreicht, der mich in die Smaragdenstadt führt. Ach, was habe ich als Kind die Bücher von Alexander Wolkow geliebt. Regelrecht verschlungen hab ich sie. Kaum hatte ich eines ausgelesen, rannte ich in die in unserer Straße beheimatete Kinderbibliothek und holte mir das nächste. Daß der erste Band, der den Titel „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ trug und von dem Mädchen Elli erzählte, das ins Zauberland verschlagen wird und gemeinsam mit ihrem Hündchen Totoschka, dem (erst später weise werdenden) Scheuch, dem eisernen Holzfäller und dem feigen Löwen Abenteuer erlebt, eine freie Nacherzählung von Lyman Frank Baums Buch „Der Zauberer von Oz“ ist, wußte ich damals noch nicht. Es tut der Qualität des Buches und meiner Liebe zu ihm aber auch keinen Abbruch.

Im Prerower Dünenwald
Auf dem Weg in die Smaragdenstadt ist man hier wohl doch nicht. Dafür ist dieser Weg aber mehr als einhundert Jahre alt!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nun, der gelbe Backsteinweg ist es nicht, sondern lediglich ein Weg durch den aus Kiefern bestehenden Dünenwald. Auch diesen darf man, genau wie die Dünen, nur auf den gekennzeichneten Wegen betreten – aus den gleichen Gründen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte man in Prerow fast im gesamten Ort die Bürgersteige mit Klinkersteinen wie diesen hier gepflastert, damit sie auch nach starkem Regen noch passierbar waren. Dabei hatte man die Wege im Dünenwald nicht ausgespart. Heute sind es eben diese Waldwege, auf denen die originalen Steine noch erhalten geblieben sind. Ich wandle also nun auf mehr als einhundert Jahre alten Ziegeln.

Zurück am Strom, überquere ich diesen über eine Brücke, die, soweit ich mich erinnere, damals noch eine reine Holzbrücke war. Aus Holz besteht sie auch heute noch, doch sieht sie recht neu aus und die Geländer zu beiden Seiten sind mit Netzen verhängt, deren engmaschige Fäden sich auf den zweiten Blick als dünne stählerne Seile herausstellen. Offenbar hat man hier große Angst davor, daß jemand durch die Holzbalken der Geländer hindurch ins Wasser fällt. Als könnten die Menschen nicht selbst auf sich aufpassen. Eigentlich ist es schon fast ein Wunder, daß man die Geländer nicht gleich übermannshoch gestaltet hat.

Auf der anderen Seite wende ich mich nach rechts und folge ein Stück einem Waldweg, der sich mir auf einem Schild als Johann-Niemann-Weg vorstellt. Bereits nach wenigen Metern entdecke ich unter den Bäumen am Ufer des Stroms eine hölzerne Bank. Da sie frei ist, setze ich mich und lasse für einige Minuten die abendliche, langsam zur Ruhe kommende Natur auf mich wirken. Schilf wiegt sich sacht im Wind, der hier so zahm ist, daß er die Wasseroberfläche nur leicht kräuselt. Eine himmlische Ruhe liegt über dem Strom und dem angrenzenden Wald, in der lediglich ein paar Vogelstimmen hier und da zu hören sind. Und so langsam spüre ich, wie auch ich mehr und mehr zur Ruhe komme.

Schilf am Prerower Strom
Sacht wiegt sich das Schilf im Wind am Prerower Strom. Wer Ruhe sucht, wird hier außerhalb der Saison ganz sicher fündig.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Als ich mich schließlich wieder erhebe und meinen Spaziergang fortsetze, indem ich den Weg zurückgehe, gelange ich nach wenigen Metern wieder zum Deich, den ich überquere. Einige Minuten später bin ich wieder im Zentrum des Ortes angelangt. Hier gestatte ich mir noch einen kleinen Schlenker durch die Bergstraße, der mich bis zur Hausnummer 10 führt. Denn schließlich bin doch ein bißchen neugierig, wie das Haus, in dem wir früher für unsere Tage in Prerow stets Quartier bezogen hatten, heute aussieht. Das einst von einer wilden Wiese bedeckte Gelände davor ist heute dicht bebaut, so daß ich für einen Augenblick daran zweifle, daß ich in der richtigen Straße unterwegs bin. Doch schon nach einigen Metern sehe ich sie vor mir – die alte Bäckerei. Und ein wenig erleichtert stelle ich fest, daß sie noch fast genauso aussieht, wie ich sie in Erinnerung habe. Lediglich die Veranda auf der linken Seite kommt mir unbekannt vor. Vermutlich ist sie erst in der Zeit nach unseren Aufenthalten hier hinzugekommen.

Die (ehemalige) Bäckerei Koch
Die einstige Bäckerei Koch in Prerow. Heute hat sie ihre Pforten für immer geschlossen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein orangefarbenes Schild, aufgestellt ganz in der Nähe, verrät mir Dinge, die ich noch nicht wußte. Das Gebäude, so lese ich da, stammt bereits aus den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Villa Ruheleben errichtet, wurde darin 1910 das Café Stein eröffnet. Im Jahre 1928 übernahm es der Bäckermeister Friedrich Koch und richtete darin seine Bäckerei ein. Bis heute ist das Gebäude im Familienbesitz. Und, so wird berichtet, noch immer backe man hier nach alter Tradition. Nun, daß das so nicht mehr stimmt, darüber bin ich dann doch bereits informiert. Daß hier jedoch einmal eine Bäckerei gewesen ist, kann man noch erahnen, selbst wenn man es nicht weiß. Die Markise über der abgeschrägten Ecke mit der Eingangstür, zu der drei kleine Stufen hinaufführen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß sich hier einmal ein Laden befunden hat. Und wer genau hinsieht, kann in dem weißen Rechteck im oberen Stockwerk noch das einstige Bäckerei-Logo mit dem großen K erkennen, das für den Namen der Eigner steht.

Zufrieden mit all meinen ersten Entdeckungen und auch ein wenig glücklich darüber, doch bereits so vieles, das mir aus meiner Kindheit noch in Erinnerung ist, wiedergefunden zu haben, schließe ich für diesen ersten Tag meines kleinen Urlaubs in Gedanken das Album mit den Bildern meiner Kindheit und mache mich auf den Weg zurück zu meinem Quartier.

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Referenzen

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1 Reinhard Mey: Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit, Album „Jahreszeiten“, 1980, Intercord, INT 160.139
2 Das Kürzel stand für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Das war der Dachverband der Gewerkschaften in der DDR.
3 Tatsächlich ist die Bäckerei allerdings älter. Der Zeitraum bezieht sich auf ihren letzten Inhaber.
4 Vehemente Verteidiger der Bahn mögen nun einwenden, daß die Bauarbeiten ja sicher länger als ein Wochenende gedauert haben und am Osterwochenende somit nur eine Pause eingelegt worden ist. Das ist sicher richtig. Allerdings habe ich dagegen einzuwenden, daß angesichts der Tatsache, daß eine Woche später die Bahn bereits wieder durchfuhr, durchaus eine andere Planung möglich gewesen sein müßte, als ausgerechnet am Osterwochenende, wo viele Menschen ein sehr langes Wochenende frei haben, das zu Kurzreisen auch an die Ostsee geradezu einlädt, eine dafür wichtige Strecke mit stillstehenden Bauarbeiten zu blockieren!

Für meine Mutter

Zum 80. Geburtstag

Man schreibt das Jahr neunzehnvierzig und drei,
die Macht des Winters verfällt.
Im schlesischen Lande der Frühling fängt an,
da trittst Du des Lebens Reise an
und kommst hoffnungsfroh auf die Welt.

Die Zeiten sind alles and’re als leicht,
Faschisten entfachten den Krieg.
Am End‘ treibt man Euch aus der Heimat hinaus,
Verlassen müßt Ihr Hof und Haus
mit Wenigem nur, das Euch blieb.

Vom Auffanglager Merane geht es
nach Mittweida weiter sodann.
Ein Teil der Familie zieht Richtung West.
Weil Euch man jedoch schließlich bleiben läßt,
fangt Ihr hier in Sachsen neu an.

Zum Glück gibt es Arbeit, doch ist’s trotzdem hart,
zu sorgen für’s tägliche Brot.
Auch sind die Flüchtlinge nicht gern geseh’n
und haben so Manches auszusteh’n.
Es sind die Jahre der Not.

Sie weicht nicht so bald und folgt Dir auf Schritt
und Tritt in die Schule hinein.
Flüchtling und arm als Kombination
sorgt bei den Mitschülern für sehr viel Hohn.
Sie sparen nicht mit Hänselei’n

Die Lehre eröffnet Dir dann die Welt
der Stoffe, Bekleidung und Co.
Du wirst bester Lehrling im ersten Jahr.
Die örtliche Zeitung berichtet sogar
von der Verkäuferin der HO.

Und dann, eines Sonntags, ist es soweit.
Das Leben, es stellt seine Weichen
Es bittet ein junger Mann Dich galant
Zum nächsten Tanze um Deine Hand.
Und Du willst sie gerne ihm reichen.

Es dauert nicht einmal ein halbes Jahr,
da bittet er Dich erneut.
Doch diesmal soll’s nicht zum Tanze sein,
denn jetzt willigst Du für immer ein
in’s gemeinsame Leben zu zweit.

Gemeinsam durch’s Leben, das sollte zunächst
Euch gar nicht so einfach werden.
Der Wehrdienst den Liebsten fern von Dir hält.
Inzwischen bringst Du Euren Sohn auf die Welt,
zum Glück ohne größ’re Beschwerden.

Als kleine Familie fangt Ihr nun an,
ein Leben Euch aufzubauen.
Doch auch, wenn man Euch den Weg erschwert,
ein Hindernis ihn manchmal ganz versperrt,
Ihr könnt aufeinander vertrauen.

Für Deinen Sohn gibst Du auf den Beruf,
damit Du für ihn kannst sorgen.
Doch arbeitest Du zusätzlich in dieser Zeit
und reparierst Strümpfe in Heimarbeit,
damit das Geld reicht auch morgen.

Und doch bleibt es knapp, drum trittst Du beherzt
entgegen des Lebens Tristessen.
Beim Rat des Kreises fängst Du neu an,
sorgst als Sachbearbeiterin dafür dann,
daß Arbeiter haben zu essen.

Du hältst Deinem Mann den Rücken frei, als
zum Studium er weit weg muß zieh’n.
Alleine zu Hause schlägst Du Dich gut,
bringst Kind, Heim und Arbeit unter den Hut,
bis Ihr schließlich geht nach Berlin.

Die große Stadt und der Neuanfang
sind nichts, was Dich wirklich aufhält.
Die Wohnung, die Arbeit, alles neu macht Berlin,
und Du hochschwanger mitten darin.
Eines Nachts bringst Du mich auf die Welt.

Ich bin, wie es scheint, kein ganz einfaches Kind
und lange als Schreihals voll hin.
Es splittern die Babyfläschchen en masse,
sie stets wegzuwerfen, macht mir wohl viel Spaß.
Doch immer hast Du mir’s verzieh’n.

Und schon steht der nächste Umbruch in’s Haus.
Nach Ungarn soll es nun gehen.
Zur dortigen Botschaft Dein Mann wird entsandt.
Daß Du ihn begleitest in’s ferne Land,
daran kann kein Zweifel bestehen.

In neuer Arbeit mußt Du Dich sodann
als Sekretärin bewähr’n.
Und wieder gelingt Dir das bravourös,
nie gibt’s wirklich Grund, zu werden nervös,
bald können sie Dich kaum entbehr’n.

Und doch müssen sie’s, da immer Du uns
bei dir setzt an vorderste Stell‘.
Weil Krankheit mich oft hält von allem fern,
bleibst Du ganz zu Haus, und das tust Du gern,
damit ich gesund werde schnell.

Die Schule schaffen zu können, verdank‘
ich nur Dir, denn zu meinem Glück
machst Du mit mir heimischen Unterricht,
lernst mit mir gemeinsam, und so fall‘ ich nicht
komplett in der Schule zurück.

Fünf Jahre darauf, wieder in Berlin,
kehrst Du in die Arbeit zurück.
Doch mit sicherer Hand, wie aus einem Guß,
hältst Du unser Familienleben in Schuß,
sorgst für unser aller Glück.

Und dann, plötzlich, ist einfach fort über Nacht
das Land, das das Deine auch war.
Sie rufen nach D-Mark und Reisefreiheit,
doch kriegen sie Armut und Unsicherheit.
Dir ist das von Anfang an klar.

Noch einmal wagst Du den Neubeginn
im Beruf, den Du einst hatt’st erwählt.
Du arbeitest Dich als Verkäuferin ein.
Bald schmeißt Du den halben Laden allein,
so daß jeder gern auf Dich zählt.

Und nun bist Du achtzig, was für eine Zahl!
Es wird einmal Zeit, Dank zu sagen!
Stets hast Du für mich alles möglich gemacht.
An Dich hast Du stets nur zuletzt gedacht.
Nie hörte ich Dich einmal klagen.

Du bist für mich da, zu jeder Stund‘,
an guten Tagen und schlechten.
Du hast mich gepflegt, wenn ich war krank,
und nie erwartet den kleinsten Dank,
trotz manchen durchwachten Nächten.

Und immer stehst Du mit Rat und Tat
zur Verfügung ganz unweigerlich.
Machst Essen, gibst Tips für Gesundheit und
unendlich viel Liebe, drum sag‘ ich heut‘ rund-
heraus: MUTTI, ICH LIEBE DICH!

© 2023, Alexander Glintschert. Alle Rechte vorbehalten.

Lichterfest in dunklen Zeiten (II)

Dieser Beitrag ist Teil 2 von 2 der Beitragsserie "Festival of Lights 2022"

Ein glimmender Funke.
Ein sanftes Leuchten.
Ein heller Schein.
Ein glitzerndes Strahlen.

Die Vielfalt der Möglichkeiten, der Dunkelheit ein Licht entgegenzusetzen, ist groß. Doch gleichgültig, in welcher Form es daherkommt, Licht erhellt das Dunkel, spendet Hoffnung und belebt die Seele.

Es werde Licht! Keineswegs zufällig stellt dieser Ausruf den Beginn der Schöpfung in der Bibel dar. Uns geht ein Licht auf, wenn wir über etwas Klarheit erlangen. Und oft sagt man, daß jemand, der besonders glücklich ist, von innen heraus leuchte.

Licht hat für uns Menschen, aber auch für die Natur um uns herum eine enorme Bedeutung. Ohne es könnten wir, könnten alle Landlebewesen nicht atmen, weil der Sauerstoff, den wir dafür brauchen, von den Pflanzen durch Photosynthese erzeugt wird. Und dafür brauchen sie – Licht. Das lernen wir schon in der Schule. Ohne es gäbe es kein Leben. Zumindest keines, wie wir es kennen.

Und so hat auch das Festival of Lights – das Lichterfest – seine Bedeutung. Daß es jedes Jahr im Herbst stattfindet, wenn die Tage spürbar kürzer und die Nächte merkbar länger werden, mag man rational damit erklären, daß sich der Sommer dafür nicht eignet, weil es in dieser Jahreszeit einfach zu spät dunkel genug ist, und daß die Temperaturen im Winter in der Regel zu niedrig sind, um das Publikum zum entspannten Bummel zu bewegen. Und natürlich kann man in diesem Festival auch einfach eine bunte, über die Stadt verteilte Show sehen, die allein der Unterhaltung des Publikums dient, mit bunten Lichtskulpturen, flimmernden Lichtshows und an jeder Straßenecke feilgebotenem Flicker-Flacker-Krimskrams.

Mir jedoch gefällt es viel besser, in diesem Lichterfest ein Zeichen der Hoffnung zu sehen, mit Bedacht ausgesandt in der Zeit des anbrechenden Herbstes, wo die Natur in die Winterruhe geht, überall die Blätter fallen und die Bäume kahl zurücklassen, wo das Licht der Sonne nur noch wenige Stunden am Tag zu sehen ist und immer weniger wärmt und wo wir in der Gewißheit leben, daß uns nun die dunkle und kalte Zeit des Jahres bevorsteht. Ist es da nicht schön, all die leuchtenden Attraktionen zu sehen, die in allen Farben flimmernden Lichtshows am Fernsehturm, am Bebelplatz oder am Brandenburger Tor, die ätherisch-magischen Lichtskulpturen im Nikolai-Viertel, die majestätisch schwebenden Fabelwesen im Lustgarten, die an die Hauswand des Lindencorsos projizierten Naturbilder, die grazil über das Wasser des Piano-Sees gleitenden leuchtenden Schwäne und nicht zuletzt die in sanften Farben angestrahlten Bäume an verschiedenen Orten der Stadt, sie alle zu betrachten und als Botschaft der Gewißheit zu verstehen, daß auch diese Zeit der Dunkelheit vorübergehen und auf sie eine neue Zeit des Lichts folgen wird? Und wenn dann all die strahlenden, funkelnden, schimmernden und leuchtenden Kunstwerke mit Botschaften des Friedens, der Gemeinsamkeiten, der Zusammengehörigkeit, der Toleranz, des Humors, der Liebe zur Natur und zu den Menschen, kurz mit den besten Eigenschaften und Aspekten des menschlichen Lebens verbunden sind, dann fällt es nicht schwer, all dies auch auf die Dunkelheit zu übertragen, die derzeit unser Leben mehr und mehr verdüstert und das Zusammenleben in Frieden, Freundschaft und Eintracht schwerer und schwerer macht, in diesem unserem Land, in Europa, in der Welt. Doch damit auch hier das Licht zurückkehrt und diese Dunkelheit vertreibt – das vermitteln uns die auf diesem Festival of Lights gezeigten Kunstwerke – genügt es nicht, die Hoffnung zu bewahren und abzuwarten, bis es soweit ist. Dafür müssen wir selbst aktiv werden, uns jeden Tag, in unserem alltäglichen Leben, für Frieden und Toleranz stark machen und jenen entgegentreten, die uns erzählen wollen, wir seien unvereinbar verschieden und – schlimmer noch – einander feind. Nur wenn uns das gelingt, gemeinsam, dann wird die Vision unserer Zukunft, die das Thema des diesjährigen Festivals of Lights ist, irgendwann klarer und klarer und schließlich Realität.

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Die Veröffentlichung meiner Fotos erfolgt unter den Bedingungen, die in den FAQ des Festivals of Lights genannt werden. Das Festival of Lights ist eine temporäre Kunstaktion, für die die Regeln des Urheberrechts gelten. Hobbyfotografen ist es jedoch für die nicht-kommerzielle Nutzung gestattet, Fotos von Motiven des Festival of Lights auch auf Social Media Plattformen zu verwenden, ohne daß eine Lizenzierung durch den Veranstalter notwendig ist. Für alle anderen Lizenzfragen kontaktiert man bitte den Veranstalter.

Lichterfest in dunklen Zeiten (I)

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 2 der Beitragsserie "Festival of Lights 2022"

Das Jahr schreitet voran, die Zeiten werden dunkler. Und das nicht nur wegen der kürzer werdenden Tage und den immer früher anbrechenden Abenden. Mehr und mehr driftet unsere Welt in Richtung Chaos. Corona, Ukraine, Gas und Energie – Krise folgt auf Krise. Daß jede einzelne davon selbstgemacht ist – wer will das wissen? Stattdessen Drama, Betroffenheit, Verwirrung, Panik allüberall. Kaum ist uns, den Menschen in diesem Lande, noch eine Atempause vergönnt. Am besten sollen wir jeden Tag vor etwas anderem Angst haben. Schlägt man die Zeitung auf oder schaltet Radio und Fernsehen an, halten sie uns in Atem und lassen uns kaum noch zur Besinnung kommen. Zum Nachdenken schon gar nicht.

Und wo bleibt das Schöne? Das Edle? Wo bleiben Ruhe und Gelassenheit? Entspannung und Frieden? Wo bleiben all die Dinge, die kleinen und die großen, die das Leben schön und lebenswert machen? Dinge, die uns helfen, nicht von all dem Chaos, der Panik, dem Hurra- und Kriegsgeschrei verrückt zu werden und ihm gar noch blind hinterherzutaumeln? Dinge wie beispielsweise das alljährliche Festival of Lights?

Da wird aufgeregt gefragt, ob man in diesen Zeiten von Krieg und Krise, von Gas- und Energiemangel ein solches Festival überhaupt durchführen dürfe. Was für eine Frage! Darauf kann es eigentlich nur eine Antwort geben: Man darf nicht nur, man muß! … der aufziehenden Dunkelheit ein Licht entgegenstellen. Auf daß sie nicht alles umfangen möge. Auf daß dieses Licht größer und größer werde! Auf daß es wieder hell werde! Auf daß wir einander wieder erkennen können und vielleicht dieses Mal in der Menschheitsgeschichte schon vor der Katastrophe feststellen, daß wir so verschieden dann doch nicht sind und daß Haß und Gewalt niemals den Frieden bringen. Auf daß wir es diesmal schaffen, die Katastrophe abzuwenden, bevor sie eintritt. Auf daß wir wieder eine positive Vision haben. Eine Vision für unsere Zukunft[1]„Vision of Our Future“ ist das Motto des diesjährigen Festivals of Lights..

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Referenzen

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1 „Vision of Our Future“ ist das Motto des diesjährigen Festivals of Lights.

Bei uns läuft alles…

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 6 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"
Aus den Notizen eines Bahnfahrers (I)

Bahn fahren. Die Fortbewegungsart für den aufgeklärten Menschen von heute.

Bahn fahren. Das sollen wir. Denn Bahnfahren ist grün, weil gut für die Umwelt. Und das Klima. Und sowieso. Und überhaupt.

Nun, dagegen hab‘ ich gar nichts. Nicht das geringste. Ich fahre eigentlich sogar sehr gerne Bahn. So sehr, daß ich, wenn ich bisher in der Welt unterwegs war, stets einen nicht geringen Teil der Reise mit der Eisenbahn bestritten habe. Mit dem Canadian war ich von Vancouver nach Toronto quer durch Kanada unterwegs. Von dort nach Montreal und Quebec ging es auch mit der Eisenbahn. In Australien hat mich der Ghan von Alice Springs nach Darwin befördert. Und das war nicht die einzige Eisenbahnfahrt auf diesem Kontinent. Eine Ganztagesbahnfahrt von Brisbane nach Sydney ist auch ein großartiges Erlebnis, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Und in Neuseeland habe ich mit dem TranzAlpine die Neuseeländischen Alpen überquert – von Greymouth nach Christchurch. Na gut, von Greymouth zum Arthur’s Pass war ich mit dem Bus unterwegs. Aber nur, weil auf der Strecke gerade Schienenersatzverkehr war. Dafür hat mich die Bahn aber von Picton, wo ein Schiff mich beim Eintreffen auf der Südinsel abgeladen hatte, nach Christchurch bringen dürfen. Was im übrigen eine großartige, ausgesprochen schöne Fahrt war. Und nahezu alle waren sie pünktlich. Und wo sie es nicht waren, gab es immerhin erstklassigen Service.

Kurz gesagt: ich liebe die Eisenbahn. Anders käme ich auch kaum durch die Lande. Ich hab‘ schließlich kein Auto. Nicht mal eine Fahrerlaubnis. (Ja, so hieß das damals bei uns in der DDR. Führerschein sagte man nicht. Wird wohl Gründe gehabt haben…)

Und so lag es natürlich nahe, daß meine erste Fahrt quer durch’s Land nach zweieinhalb Jahren Corona-Wahnsinn wieder mit der Eisenbahn vonstattengehen sollte. Für diesen großartigen Anlaß hatte ich mir sogar eine Fahrt in der ersten Klasse geleistet! An den in dieser Zeit nicht durchgeführten Fahrten hatte ich ja schließlich genug zusammensparen können…

Von meinem schönen Berlin sollte es nun also nach Bonn gehen. Früher bin ich da stets einmal im Jahr hingefahren, immer irgendwann zwischen Ende April und Anfang Juni, wenn die FedCon stattfand – DIE deutsche Convention für Science-Fiction-Fans jeden Alters. Und die war nun auch dieses Jahr endlich wieder einmal mein Ziel.

Ach ja, ich freute mich auf diese Reise. Endlich mal wieder rauskommen. Was anderes sehen. Na klar, ich liebe Berlin, aber manchmal tut etwas Abwechslung einfach gut. Und die Fahrt würde ja auch ganz bequem vonstatten gehen. Dachte ich. Am Hauptbahnhof in den ICE steigen, in der ersten Klasse – etwas ganz Besonderes für mich – gemütlich und bequem nach Köln gefahren werden, dort noch auf einen kurzen Sprung in die Regionalbahn hüpfen – und schon wäre ich da. Was könnte einfacher sein?

Wie sich herausstellte: vieles. Nahezu alles. Denn schließlich fuhr ich ja nicht mit irgendeiner Eisenbahn irgendwo in der Welt. Nein, ich fuhr mit Der Bahn. Die Bahn. Warum die beiden Buchstaben DB nicht mehr für Deutsche Bahn stehen dürfen, konnte mir bisher auch noch keiner schlüssig erklären. Jedenfalls heißt es seit geraumer Zeit nun Die Bahn. Und ich frage mich seitdem immer, ob denen eigentlich klar ist, daß sie damit ganz schön große Erwartungen wecken. Die Bahn. Nicht die deutsche Bahn, nicht die französische, nicht die indische. Nein, Die Bahn. Also wenn ich das lese, höre ich innerlich immer eine deutliche Betonung auf Die. Wie denn auch nicht? Ohne diese Betonung ergäbe dieser Eigenname ja überhaupt keinen Sinn. Oder würden Sie annehmen, daß ein Autohersteller, der in Konkurrenz zu Mercedes, BMW, Opel, Ford und all den anderen Marken tritt und sein Produkt einfach nur Das Auto nennt, damit wirklich nur sagen möchte, daß das eben ein Auto sei? Irgendeins? Wohl kaum.

Na, wie auch immer. Da stand ich nun also auf dem Berliner Hauptbahnhof und erwartete meinen InterCity Expreß, den mir Die Bahn hoffentlich pünktlich vorbeischicken würde. Nun, das tat sie. Und das war dann auch schon das Einzige, was auf dieser Fahrt wie erwartet funktionieren sollte. Aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Frohgemut stieg ich also ein, suchte und fand meinen Sitz, verstaute meinen Koffer und nahm, wie es im Jargon Der Bahn heißt, meinen Platz ein. Und weil ich in diesem wunderbaren Land zwar sinnvollerweise ohne jegliche Beschränkung drei Tage auf einer Convention unter Tausenden von Leuten verbringen kann, aber nicht fünf Stunden Eisenbahn fahren darf, ohne wenigstens eine medizinische Maske zu tragen, setzte ich mir eine auf. Man muß es nicht verstehen, aber sich dran halten. Andernfalls wird es nicht nur teuer, sondern man auch vor die Zugtür gesetzt. Und damit ich das auch ja nicht vergaß, verkündete mir das eine Zugdurchsage auch gern und hinreichend oft. Inklusive der Konsequenzandrohung.

Derart konsequent war Die Bahn leider nicht, was ihren eigentlichen Zweck anging: die möglichst reibungslose und bequeme Beförderung der Fahrgäste, für die sie ja nicht unbedingt wenig Geld verlangt. Gut, die Preisgestaltung vermittelt oft den Eindruck, es handle sich um reine Fantasie, kann doch ein Zugticket für dieselbe Strecke preisliche Unterschiede von mehr als einhundert Euro aufweisen, je nachdem, ob man es Wochen im Voraus oder kurzfristig bucht, ob man sich auf den Zug festlegt oder nicht, ob man zu einer Veranstaltung fährt oder einfach nur so unterwegs ist, ob man… ach, der Gründe für derlei Flexibilität bei den Preisen gibt es viele bei Der Bahn. Und jedesmal, wenn ich die verschiedenen Kostenangaben sehe, frage ich mich, ob Die Bahn wirklich Züge ausfallen läßt, wenn auf diese Weise nicht genug Buchungen frühzeitig eintrudeln, spricht sie doch davon, daß Frühbucher bedeutende Rabatte bekämen, weil sie ihr aufgrund der früheren Kenntnis über die Ticketbuchung eine bessere Planung ermöglichten. Also Zugstreichung wegen zu wenig verkaufter Fahrkarten? Ich glaube, nicht. Oder? Hm. Andererseits würde das einiges erklären…

Nun saß ich also auf meinem Platz und der Zug fuhr pünktlich los. Weil ich mich noch einmal meiner Ankunftszeit vergewissern wollte, zog ich mein Mobiltelefon aus der Tasche und öffnete die App, die Die Bahn ihren Fahrgästen eigens bereitstellt: den DB Navigator. Und wer hätte es ahnen können – bei meinem Zug gab es zwei Hinweise. Der erste bedeutete mir, mich darauf einzustellen, daß die Auslastung des Zuges außerordentlich hoch sei. Danke, das hatte ich beim Einsteigen bereits selbst festgestellt, als ich mich langsam in der Menschenschlange durch den Mittelgang des Waggons vorwärts und auf meinen Platz zubewegte. Im ganzen Wagen war kein Sitzplatz mehr frei. Und das in der ersten Klasse! Da war es natürlich von Vorteil, daß ich beim Hereinkommen hatte bemerken können, daß es in meinem Waggon zwei Toiletten gab. Was uns Fahrgästen allerdings nicht das Geringste nützte, denn sie waren beide verschlossen. An den Türen prangte dafür jeweils ein Zettel, der verkündete, daß die Toiletten, zu denen sie Zugang hätten gewähren sollen, defekt seien. Nun gut, dann würde der Weg zum stillen Örtchen gegebenenfalls eben etwas weiter und die Wartezeit vor der Toilettentür etwas länger sein.

Der zweite Hinweis war dagegen von anderem Kaliber. Er teilte mir mit, daß aufgrund irgendeines Schadens an der Strecke unser Zug nicht in Bielefeld halten könne. Gleichzeitig sei für die Ankunft am Zielort Köln eine Verspätung von 75 Minuten zu erwarten.

Respekt! Kaum losgefahren und schon steht eine Verspätung von weit mehr als einer Stunde fest! Das war selbst für Die Bahn rekordverdächtig. Doch es sollte noch besser kommen… Zunächst einmal mochte sich so mancher Fahrgast ob solch einer Aussage wundern. Wieso sollte der Ausfall eines Haltes zu einer solch drastischen Verspätung führen? Nicht so ich. Mir war Derartiges bereits bei einer meiner früheren Fahrten nach Bonn einmal untergekommen. Von daher wußte ich angesichts der angegebenen Zeiten, daß der Halt in Bielefeld nicht einfach so ausfallen würde, sondern daß die Strecke wegen des Schadens wohl irgendwo gesperrt sein mußte, der Zug deswegen auf eine andere Route ausweichen und sich so die Verspätung einhandeln würde. Großartig. Na, wenigstens würde ich aber durchfahren können. Und weil ich in Köln keinen speziellen Anschlußzug erreichen, sondern nur in die Regionalbahn umsteigen mußte, die jedoch recht häufig fuhr, machte ich mir keine Sorgen. Gut, ich würde deutlich später als geplant ankommen, aber das machte nichts. Ich hatte für den Nachmittag sowieso nichts Besonders vor, und die Convention ging erst am nächsten Tag los.

Inzwischen hatte mein Zug das Einzugsgebiet von Berlin verlassen und war recht flott unterwegs. Die Elbe näherte sich, wurde erreicht und überquert. Ein interessantes Phänomen ist, daß dieser Fluß mich jedesmal, wenn ich nach Westen fahre, auf sich aufmerksam macht, und zwar unabhängig davon, ob ich die ganze Zeit aus dem Fenster sehe oder nicht. Selbst wenn ich lese, gedankenverloren Musik höre oder einen Laptop dabeihabe, auf dem ich gerade herumtippe – oft genug habe ich beobachten können, daß ich irgendwie immer hoch- und aus dem Fenster schaue, wenn mein Zug auf die Brücke fährt, die die Elbe überquert. Und zwar nicht erst, wenn ich auf der Brücke bin. Nein, kurz davor. Nahezu jedesmal. Irgendwie faszinierend. Auf der Rückfahrt klappt das merkwürdigerweise weniger zuverlässig…

Wie auch immer. Wenig später erreichte der Zug Wolfsburg, das er kurz darauf schon wieder verließ. Irgendwie habe ich jedesmal, wenn ich hier durchfahre, den Eindruck, die Stadt verpaßt zu haben. Am Bahnhof sind auf der einen Seite nur große Betonklötze zu sehen und auf der anderen hinter einem Kanal der ewig lange Fabrikbau des Volkswagenwerks.

Mein Zug hatte Wolfsburg bereits ein ganzes Stück hinter sich gelassen, da bemerkte ich bei einem Blick auf den nächsten Monitor, der sich über dem Mittelgang an der Waggondecke befand und wissenswerte Informationen zur Fahrt verbreitete, daß sich die Anzeige des Fahrtziels klammheimlich geändert hatte. Hatte dort bisher neben „Hamm Hbf.“ als finales Ziel der Reise „Köln Hbf.“ gestanden, so prangte letztere Angabe nun in knalligem Rot und war – durchgestrichen. Was zur Hölle…?

Ich wartete auf eine Durchsage. Es kam keine. Ein Blick in die App brachte mir die gleiche Information. „Fahrtziel entfällt“ stand dort noch. Na großartig! Von den übrigen Fahrgästen hatten offenbar bisher nur wenige bereits auch etwas von der Änderung bemerkt. Und noch immer keine offiziellen Informationen per Durchsage. Nach und nach sprach sich die neue Entwicklung nun aber im Waggon herum, denn zuerst langsam, dann immer schneller machte sich Hektik breit. Was zunächst mit einem Murmeln hier und da begann, schwoll schließlich an und wurde zu einem ausgeprägten Stimmengewirr. Es wurde gerätselt, was wohl los war, überlegt, wie man reagieren sollte, und gefragt, was wohl besser war: weiterfahren oder umsteigen? Und warum, zum Henker, gab es immer noch keine Informationen vom Zugpersonal?

Schließlich tauchte doch noch ein Schaffner auf. Zugbegleiter heißen die ja heutzutage. Naturgemäß hatte er es sehr schwer, durch den Waggon zu kommen, wurde er doch auf Schritt und Tritt von allen Seiten mit Fragen bestürmt.

„Ich will nach Köln! Fährt der Zug noch dorthin?“
„Nein!“
„Aber ich muß doch nach…“
„Dann steigen Sie in Hannover aus, fahren mit dem nächsten ICE nach Frankfurt und von dort über die Rennstrecke nach Köln. Von dort kommen sie dann wie gewohnt weiter.“

So ging das in einer Tour. Ich nutzte inzwischen die Zeit, bis der Schaffner bei mir ankommen würde, mit der Navigator-App zu recherchieren, was wohl die günstigste Verbindung sei, bekam aber nur heraus, daß ich bis Hamm fahren sollte, um mich dann mit zwei weiteren Regionalbahnen nacheinander bis Bonn durchzuschlagen. Das würde mir eine Ankunftszeit bescheren, die zweieinhalb Stunden nach der ursprünglich geplanten lag. Weil mir das wenig verlockend erschien, reihte auch ich mich kurzerhand unter die Fragesteller ein.

„Entschuldigen Sie bitte! Ich will nach Bonn. Wie fahre ich da am besten?“
„Da steigen Sie auch in Hannover aus, fahren von da nach Frankfurt und dann nach Siegburg/Bonn. Das geht am schnellsten!“

Immerhin, der Mann hatte Ahnung. Und ich nach dieser Auskunft nur noch wenig Zeit, denn Hannover war gleich erreicht, wie uns Fahrgästen eine Durchsage aus den Lautsprechern nun verkündete. Diese nahm sich alle Zeit der Welt, um uns in aller Ruhe zunächst die geplante Ankunftszeit und dann alle Anschlüsse und Umsteigemöglichkeiten  mitzuteilen, anschließend dasselbe nochmal auf Englisch. Und dann – endlich – wurde nun auch offiziell die Information über das entfallende Fahrtziel Köln durchgegeben. Wer es jetzt erst erfuhr, hatte praktisch keine Zeit mehr für eine ausreichende Planung seiner alternativen Route. Jedenfalls nicht vor Hannover.

Während ich meine Sachen zusammenpackte, lauschte ich den Gesprächen der Fahrgäste um mich herum. Einige wollten erfahren haben, daß eine Zugentgleisung in oder hinter Hamm die Ursache des ganzen Aufstands war. Jemand meinte sogar zu wissen, daß diese beim Rangieren stattgefunden habe und dabei irgendwie auch noch die Oberleitung beschädigt worden sei. Was davon stimmte – keine Ahnung. Eigentlich war’s mir auch egal. Ich kam nicht wie geplant weiter. Das war alles, was ich wissen mußte. Jetzt ging es darum, die alternativen Anschlüsse zu erreichen.

Der Umstieg in Hannover gestaltete sich dank der Informationen, die ich noch im Zug aus der Navigator-App gezogen hatte, einigermaßen unkompliziert. Treppe runter, rüber zum nächsten Bahnsteig, Treppe rauf. Reichlich zehn Minuten hatte ich nun Zeit, herauszubekommen, wo in dem neuen Zug die Abteile der ersten Klasse sein würden, und dann zum entsprechenden Bereich des Bahnsteigs zu gelangen. Angesichts der Länge eines ICEs ist eine entsprechende Vorbereitung durchaus sinnvoll, will man nicht – im schlimmsten Fall – den gesamten Bahnsteig entlanghetzen, wenn der Zug schon angekommen ist. Ich begab mich also zum Wagenstandsanzeiger und anschließend, als ich die nötige Information hatte, zum einen Ende des Bahnsteigs. Die erste Klasse sollte – wie gewöhnlich – am dortigen Ende des Zuges zu finden sein. Eine Platzkarte hatte ich nun natürlich nicht mehr, daher war es durchaus wichtig, bereits vor Ort zu sein, wenn der Zug einfuhr, wollte ich mir auch nur die geringste Chance auf einen Sitzplatz erhalten.

Gute fünf Minuten stand ich dann auf dem Bahnsteig herum und erwartete den Zug, als mein Blick auf den Anzeiger fiel, der den Zug ankündigte. Das Fahrtziel war Chur. Lag das nicht in der Schweiz? Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erregte eine Laufschrift meine Aufmerksamkeit. „Bitte beachten Sie die geänderte Wagenreihung…“ entzifferte ich und war mit einem Mal hellwach. Geänderte Wagenreihung? Wie geändert? Stand ich hier etwa falsch? Oh Mann…

Während eine Durchsage bereits die baldige Einfahrt meines Zuges verkündete, suchte ich das kleine Zug-Piktogramm, mit dem auf den Zielanzeigern üblicherweise die Wagenreihung grob vereinfacht dargestellt wird. Die genaue Position eines bestimmten Wagens ist darauf zwar nicht erkennbar, doch immerhin der ungefähre Ort der Wagenklassen in Bezug auf den Bahnsteig. Da! Ich hatte es gefunden! Erste Klasse – am Ende des Bahnsteigs. Natürlich am jenseitigen! Ich war also tatsächlich hier völlig falsch und hatte nun nur noch höchstens eine Minute Zeit, dorthin zu gelangen, bevor der Zug einfuhr. Großartig…

Während ich nun in genau der Hektik, die ich hatte vermeiden wollen, den gesamten Bahnsteig entlangtobte – was wegen der diesen inzwischen sehr zahlreich bevölkernden zukünftigen Mitreisenden alles andere als einfach war und eher einem Slalom als einem schnellen Lauf ähnelte -, fragte ich mich wieder einmal, ob die das bei Der Bahn eigentlich absichtlich machen. Immerhin kommt das, wenn ich Zug fahre, überdurchschnittlich häufig vor. Wieder einmal ging mir die Vorstellung durch den Kopf, wie zwei Planer, die den Zug zusammenstellen, einander angrinsen und gemeinschaftlich beschließen, heute einfach mal die Wagenreihung umzudrehen. „Weißt Du“, sagt der eine zum anderen, „das wird wieder lustig. Die rennen dann immer so schön!“

Genau das tat ich nun auch. Rennen. Von einem Ende des Bahnsteigs zum anderen. In Gedanken wünschte ich den beiden Planern in meiner Vorstellung allerlei unerfreuliche Dinge an den Hals. Nicht, daß es mir etwas geholfen hätte, aber immerhin konnte ich so meinen Ärger etwas kanalisieren.

Ich traf etwa zeitgleich mit dem Zug an meinem Zielort ein. Da die Wartenden auf dem Bahnsteig kaum einmal bereit waren, den diesen entlang eilenden Mitreisenden freiwillig auch nur einen Zentimeter Platz zu machen, hatte ich mich in der Regel vor ihnen vorbeidrängen müssen, was zur Folge hatte, daß ich nun unverhofft einer der ersten an der Tür war. So gelang es mir erfreulicherweise, einen Sitzplatz an einem Tisch in der ersten Klasse zu ergattern – praktisch denselben, den ich auch in meinem ursprünglichen Zug innegehabt hatte. Kurz darauf war der Waggon bis auf den letzten Sitz mit Fahrgästen gefüllt. Für die übrigen blieben nur noch Stehplätze.

Uff. Glück gehabt. Das war knapp. So konnte ich die nächsten zwei Stunden Fahrt nun wenigstens im Sitzen verbringen und hatte nichts auszustehen. Die damit verbundene Ruhe nach der Hektik am Bahnhof von Hannover war sehr angenehm. Hätte ich allerdings gewußt, was Die Bahn noch für mich in petto hatte, ich wäre dafür in diesem Moment noch viel dankbarer gewesen…

In Frankfurt, das hatte ich bereits den Informationen in der App entnommen, standen mir nur wenige Minuten Zeit für den Umstieg in den nächsten ICE, der nach Essen fahren und mich nach Siegburg/Bonn bringen sollte, zur Verfügung. Glücklicherweise würde ich wenigstens nicht den Bahnsteig wechseln müssen, denn der Abfahrtsort würde das gegenüberliegende Gleis sein. Dachte ich jedenfalls.

Kaum war ich jedoch ausgestiegen, vernahm ich auch schon eine Durchsage, die mir verkündete, daß der ICE Nummer Sowieso in Richtung Essen etwa fünf Minuten Verspätung haben und heute vom Gleis Acht fahren werde. Gleis Acht! Das war ganz sicher nicht an meinem Bahnsteig. Ich war begeistert, bedeutete das doch, daß ich die nächste Rennerei vor mir hatte. Vom Ende des Bahnsteigs, an dem ich mich aufhielt und das weit außerhalb der großen Bahnhofshalle gelegen war, mußte ich nun zunächst zu einer Treppe gelangen. Das erwies sich schon bald als außerordentlich weiter Weg, da sich der nächste Abgang erst irgendwo innerhalb der Halle befand. Dort angekommen, mußte ich feststellen, daß sich aufgrund der engen Treppe die Reisenden an ihrem oberen Ende massiv stauten – ein Traum, wenn man es eilig hat. So blieb mir genug Zeit, eine nebenan angebrachte Anzeigetafel zu überfliegen und herauszufinden, daß neben dem von mir anvisierten Zug nach Essen tatsächlich nun Gleis Acht als Abfahrtsort angegeben war. Ich hatte mich also nicht verhört.

Schließlich war auch ich an der Reihe, die Treppe benutzen zu können. So schnell es angesichts der vielen Menschen eben ging, eilte ich hinab, der Ausschilderung folgend durch den engen Tunnel hinüber zum Nachbarbahnsteig und die dortige Treppe wieder hinauf, dabei immer darauf achtend, weder mit meinem Rucksack noch mit meinem Koffer meine Mitmenschen mehr als unbedingt nötig zu belästigen. Oben angekommen, gewahrte ich einen ICE, der an Gleis Acht bereitstand, und direkt vor mir eine weit offen stehende Tür. Eins, zwei, fix war ich drin und atmete tief durch. Geschafft.

Ich weiß nicht, was mich mißtrauischer machte – die Tatsache, daß der Zug trotz der angekündigten Verspätung bereits da war, oder die, daß ich mich bei dieser aufs Geratewohl ausgewählten Tür tatsächlich in der ersten Klasse befand. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!

Ging es auch nicht. Ein Blick auf den kleinen Monitor neben der Tür belehrte mich, daß ich mich im falschen Zug befand. Dort stand nicht Essen, sondern, soweit ich mich angesichts der Hektik, in die ich gleich darauf erneut ausbrach, korrekt erinnere, Hamburg. Auch das noch! Samt Koffer und Rucksack machte ich kehrt und stand kurz darauf wieder auf dem Bahnsteig. Aber wenn das hier auf Gleis Acht der Zug nach Hamburg war, überlegte ich, wie sollte dann der Zug nach Essen mit nur fünf Minuten Verspätung ebenfalls von hier abfahren, war doch seine eigentliche Abfahrtszeit bereits heran? Da stimmte doch was nicht!

Ich schaute auf den Anzeiger, der sich auch hier neben der Treppe befand, und glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Essen, Gleis Sieben, stand dort. Gleis Sieben? Da kam ich doch gerade her! Wollen die mich foppen? Während ich mich ein weiteres Mal fragte, ob die bei Der Bahn sowas eigentlich absichtlich machen, bahnte ich mir bereits hektisch den Weg zurück. Treppe runter, durch den Tunnel, Treppe rauf! Diesmal brauchte ich keine Beschilderung, um den Weg zu finden. Oben angekommen, stellte ich fest, daß tatsächlich ein ICE auf Gleis Sieben bereitstand. Und obwohl ich immer noch in Eile war, nahm ich mir diesmal die Zeit, auf den Zielanzeiger zu schauen. Essen Hbf. Na immerhin. Und wo ist die erste Klasse? Na wo wohl. Am Ende des Bahnsteigs. Immerhin an dem, der sich in der Bahnhofshalle befand. Da war der Weg wenigstens nicht ganz so weit.

Eine offene Tür mit der nebenstehenden großen Eins empfing mich am letzten Wagen des Zuges. Ich stieg ein und begab mich auf Platzsuche. Als ich schließlich an der nächsten Tür und gleichzeitig am Ende des Zuges angekommen war, mußte ich wohl oder übel einsehen, daß kein einziger Sitz mehr frei war und ich die weitere Fahrt über würde stehen müssen. Na gut. Mittlerweile konnte mich das auch nicht mehr wirklich erschüttern. In einem Anflug von Galgenhumor fiel mir der gute alte Spruch wieder ein, den wir in den Zeiten der DDR bereits auf die Deutsche Reichsbahn angewandt hatten, der nun aber auch perfekt auf Die Bahn zu passen schien:

Die Bahn – Genießen Sie die Fahrt in vollen Zügen!

Glücklicherweise würde diese Fahrt nur runde fünfundvierzig Minuten dauern. Das könnte ich wohl aushalten.

Doch noch fuhr der Zug nicht. Ich verstaute meinen Koffer und meinen Rucksack, so gut es ging, damit sie sich nicht im Weg befanden, und stand dann im Türraum des Waggons. Auf dem Boden neben mir hatte sich eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß niedergelassen, die in kurzen Abständen auf den Schaffner, der draußen auf dem Bahnsteig neben der Tür stand, einredete. Aus dem, was sie sagte, konnte ich entnehmen, daß ihr auf dem Weg zum Zug der Wind die Fahrkarte aus der Hand gerissen und auf ein Gleis geweht hatte, so daß sie sie nicht wiederbekommen konnte. Nun sei ihre Freundin unterwegs, eine neue zu kaufen. Ob wir denn warten könnten? Der Schaffner war die Ruhe selbst. So sehr, daß er überhaupt nicht reagierte. Die gute Frau erhielt keinerlei Antwort und wurde von ihm komplett ignoriert. Unbeeindruckt von ihren ständigen Fragen machte er sich gerade bereit, mit seiner Kelle Abfahrtbereitschaft zu signalisieren, als in letzter Minute eine weitere Frau zur Tür gerannt kam, eine Fahrkarte hereinreichte und die Reisende auf dem Boden damit zur in diesem Moment erleichtertsten Frau der Welt machte. Dann schloß sich auch schon die Tür hinter dem inzwischen eingestiegenen Schaffner und der Zug setzte sich in Bewegung.

Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, denn der nächste Halt war der Flughafen Frankfurt. Zu meiner übergroßen Freude erhoben sich kurz vor Erreichen des Bahnhofs mehrere Fahrgäste von ihren Plätzen und begaben sich in Richtung Türen, was mir Gelegenheit gab, doch noch einen Sitzplatz zu ergattern. Erfreulicherweise fand ich einen, der erst ab Siegburg wieder reserviert war, was mir vollkommen ausreichte, denn weiter wollte ich nicht mitfahren. Ich holte meinen Koffer und meinen Rucksack aus der Nische, in die ich sie verfrachtet hatte, und setzte mich – dankbar, meinen Stehplatz im Türraum aufgeben zu können, hatte doch das bisher Erlebte das Kind der Frau offenbar so aufgewühlt, daß es die nächste Zeit im wesentlichen aus voller Kehle schreiend verbrachte. Ein Umstand, den ich nicht unbedingt aus nächster Nähe hätte miterleben wollen, was ich ohne den Sitzplatz aber wohl gemußt hätte, denn die Mutter hatte es vorgezogen, auf dem Boden des Türraums sitzen zu bleiben.

Während ich nun auf meinem Platz saß und versuchte, mich von der Hektik des Umstiegs in Frankfurt, die mich einiges an Schweiß gekostet hatte, zu erholen, konnte ich schräg über mir auf dem Monitor unter der Waggondecke die angezeigten Texte und Bilder studieren. Neben Uhrzeit, Zugnummer und aktueller Geschwindigkeit – phasenweise erreichte der Zug tatsächlich 300 km/h, so daß sich der Begriff Rennstrecke für diesen Teil der Fahrt als durchaus zutreffend erwies – zeigte mir Die Bahn auch jede Menge Werbung – für sich und ihre angebotenen Dienste.

DB Navigator:
Schneller den richtigen Platz finden
Mit der aktuellen Wagenreihung in der App.

Offenbar, so ging es mir durch den Kopf, ist die Änderung der Wagenreihung für Die Bahn mittlerweile ein Normalzustand. Warum sonst sollte sie ihrer App eine Funktion spendieren, die die – wohlgemerkt – aktuelle Wagenreihung präsentiert und diese auch noch bewerben? Und nützlich wäre eine solche Funktion ja auch nur dann, wenn man überhaupt einen Platz hat, den man finden möchte. Das war, was mich betraf, bei dem heutigen Chaos, das Die Bahn veranstaltet hatte, ja nur bei einem von drei Zügen der Fall.

Während ich noch darüber nachdachte, zeigte der Monitor bereits die nächste Werbung:

Jetzt mehr veganer & vegetarischer Genuss an Bord.
Schauen Sie gerne in der Bordgastronomie vorbei.

Nun, das reizte mich nicht so sehr. Ich fragte mich nur, warum da eigentlich nicht stand, daß durchaus nicht jeder in der so gepriesenen Bordgastronomie willkommen war, galt doch diese Aufforderung nur Leuten, die der 3G-Regel genügten. Man müßte also bereits vor Antritt der Fahrt wissen, daß einen später im Zug der Hunger ereilte. Zumindest, wenn man zu jenen gehörte, die einen Test benötigten. Was eigentlich, wenn man das ernst nehmen wollte, nach aktueller Erkenntnislage alle sein müßten. Aber lassen wir das.

Mittlerweile war wieder etwas anderes zu lesen:

Von Amsterdam über Frankfurt bis Zürich.
Geschäftsreisen macht man mit der Bahn.

Ein bitteres Lachen bahnte sich unwillkürlich seinen Weg durch meine Kehle. Also wenn Die Bahn Geschäftsreisenden denselben Service angedeihen ließ, den ich heute auf meiner Fahrt erleben durfte, dann würde sie sich unter diesen sicher kaum viele Freunde machen.

Als ich in Siegburg/Bonn den Zug schließlich verließ, war ich froh, daß meine von Der Bahn veranstaltete Odyssee nun ihr Ende gefunden hatte. Das war selbst dann noch der Fall, als mir klar wurde, daß sie mich, wenn man es genau nimmt, gar nicht dorthin gebracht hatte, wofür ich bezahlt hatte. Gebucht hatte ich eine Fahrt bis zum Bonner Hauptbahnhof. Nun aber stand ich in Siegburg, das zwar zum Einzugsgebiet von Bonn gehört, von dem aus es aber noch einer guten dreiviertelstündigen Fahrt mit der städtischen Straßenbahn bedurfte, um zum Bonner Hauptbahnhof zu kommen – einem Verkehrsmittel, das mit Der Bahn nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Immerhin war ich all dem Streß, dem ich ausgesetzt war, zum Trotz nur wenig später als ursprünglich geplant am Ziel meiner Fahrt angekommen.

Ob dieser mein Bericht über meine heutige Fahrt mit Der Bahn dazu beitragen wird, ihre Etablierung als verkehrstechnische Alternative zum Auto zugunsten von Mitwelt und Klima zu befördern? Ich bezweifle es. Was man ihm jedoch ohne weiteres entnehmen kann, ist ein Eindruck, was dabei herauskommt, wenn man für das Gemeinwohl notwendige Unternehmen wie Die Bahn auf Gedeih und Verderb auf Profit trimmt oder gar gänzlich privatisiert.

Nachtrag

Die von mir mit Spannung erwartete Rückfahrt vier Tage später – was würde da wohl passieren? – verlief zu meinem Glück deutlich entspannter. Von einem guten Rundum-Service kann jedoch auch dabei keine Rede sein.

Den Anfang machte die von einem Privatunternehmen betriebene Bahnhofstoilette am Hauptbahnhof von Köln. Abgesehen davon, daß der gesamte riesige Bahnhof offenbar nur über ein einziges Etablissement dieser Art verfügt – ich konnte jedenfalls kein zweites finden -, erwies sich dieses als unbenutzbar. Der Bereich für die männlichen Vertreter der Schöpfung war komplett gesperrt, so daß die Damen gezwungen waren, den ihren zu teilen. Das wiederum hatte aber zur Folge, daß – der blödsinnigen Idee eines zeitweiligen Neun-Euro-Tickets für einen darauf überhaupt nicht vorbereiteten öffentlichen Nahverkehr sei Dank – der Andrang derart groß war, daß die Schlangen an der Toilette endlos waren. Dort konnte sich gelassen nur anstellen, wer bis zur Abfahrt seines Zuges wenigstens noch eine Stunde Zeit und es überdies hinsichtlich der Verrichtung seines Bedürfnisses nicht übermäßig eilig hatte. Das Personal schien in der Zeit, in der ich mir das Drama vor dem Zugang zu der Anstalt anschaute, mehr damit beschäftigt sein, die Wartenden zu kanalisieren, zu betreuen und bei der Bedienung der Zugangsautomaten zu unterstützen, als daß es Zeit für die Reinigung der Anlage hätte aufbringen können.

Daß die Wagenreihung auch bei dieser Fahrt wieder einmal umgekehrt zu der eigentlich am Wagenstandsanzeiger angegebenen war, ist fast nicht notwendig zu erwähnen. Das scheint bei Der Bahn  sowieso schon der Normalzustand zu sein.

Für die Fahrgäste der ersten Klasse hatte sich Die Bahn dieses Mal etwas Besonderes ausgedacht, damit sie ihren Platz auch ausreichend würdigten, wenn sie ihn denn erreicht hatten. Für eineinhalb Waggons der ersten Klasse  – einen mußte sie sich mit dem Bordbistro teilen – gab es so statt zwei lediglich eine einzige funktionierende Tür, die sich ganz am Ende des Zuges befand. Wie einer der Fahrgäste treffend bemerkte: „Wir können froh sein, wenn nur die Tür kaputt ist.“

Immerhin waren diesmal die Toiletten funktionsfähig. Als der Zug in Hamm eintraf, stiegen plötzlich jede Menge Fahrgäste zu. Wie ich ihren Unterhaltungen entnehmen konnte, hatte man sie eine Stunde zuvor aus ihrem Zug gescheucht, der seine Fahrt aus irgendwelchen Gründen nicht mehr fortsetzte. Das kam mir bekannt vor. Mir blieb in diesem Augenblick nur, mit ihnen Mitleid zu haben und gleichzeitig froh zu sein, daß dieses Mal nicht mir dies Ungemach widerfuhr.

Die trotz pünktlicher Abfahrt am Ende zu Buche schlagende Verspätung von etwas mehr als einer halben Stunde muß bei Der Bahn in heutiger Zeit wohl schon als pünktliche Ankunft gelten, auch wenn gegen Ende der Fahrt die per Durchsage bekanntgegebenen Informationen über nicht mehr erreichbare Anschlußzüge lang und länger wurden.

Zu guter Letzt kam ich dann wohlbehalten wieder zu Hause an. Als Fazit dieser meiner Wochenendreise mit Der Bahn bleibt jedoch am Ende leider nur ein weiterer ironischer Werbespruch aus den Zeiten der guten alten Deutschen Reichsbahn:

Die Bahn – Bei uns läuft alles, bald laufen auch Sie!

An meinen verschwundenen Fußabtreter

Es war einmal ein Abtreter,
der lag vor meiner Tür.
Ob ich kam früher oder später,
stets putzte er mir meine Treter,
er war bezweckt dafür.

Drauf war ein nerd’ger Spruch zu seh’n,
Mit Zeichnung noch dazu.
Wer stand vor meiner Türe, draußen,
Las „Innen größer als von außen“
und fragte sich „Nanu?

Was meint denn dies? Was soll das nur?
Es läßt mir keine Ruh!
Komm, sag mir schnell, was heißt denn das?“
Für mich war’s stets ein Heidenspaß,
wenn ich sagt‘: „Dr. Who!

Ja, kennst Du denn den Doktor nicht?
Das kann doch gar nicht sein!
Mit seiner Tardis eilt geschwind
durch Raum und Zeit er wie der Wind!
Du, das ist wirklich fein!

Das Fluggerät, sieh her, das ist
’ne Zell‘ für’s Telefon!
Sieht eng aus, wenn du draußen bist,
doch wenn Du durch die Türe trittst,
ist’s groß wie ein Salon!

Ach was, Salon, wie ein Palast,
wo reiht sich Saal an Saal.“
Gar mancher schaut‘ verständnislos,
und fragt‘ sich: „Wovon red’t der bloß?
Ach! Ist ja auch egal…“

Egal war mir mein Abtreter
nun ganz und gar nicht. Nein!
Ich freute mich, wenn ich ihn sah,
was beinah jeden Tag geschah,
wenn ich ging aus und ein.

Doch als heut‘ früh ich frohen Sinns
trat vor die Schwelle her,
da fühlt‘ beim Tritt sich’s komisch an,
so sah ich hin und merkte dann,
der Platz vor ihr war leer.

Wie’s schien, hatt‘ wohl sein Werk getan
Ein Dieb vergang’ne Nacht.
Gekommen leis‘, verschwunden auch,
hatt‘ er, die Matte vor dem Bauch
sich aus dem Staub gemacht.

Nun war mein Fußabtreter fort,
traurig war’s mir zumut‘.
Und alles, was zu tun mir blieb,
war, zu verdammen diesen Dieb,
den bösen Tunichtgut!

Doch als die Wut mich dann verließ,
sah milder ich die Tat.
Es war, ging es mir durch den Kopf,
vielleicht ein wirklich armer Tropf,
der mich bestohlen hat.

Es könnt‘ doch sein, daß er, wie ich,
den Doktor sehr verehrt.
Drum wollt‘ er auch stets so ein Stück,
Doch ohne Geld hatt‘ er nie Glück,
es blieb ihm stets verwehrt.

Ob’s wirklich so gewesen ist,
oder auch nicht – egal!
Ich kann stets auf ihn böse sein,
Ich kann ihm aber auch verzeih’n,
Das ist für mich die Wahl.

Im ersten Falle habe ich
den Kopf stets voller Wut.
Ich male mir Vergeltung aus,
komm niemals aus dem Ärger raus.
Das tut mir gar nicht gut.

Drum laß den Ärger schnell ich los
und üb‘ mich im Verzeih’n.
Vergeltung? Pah! Die kann ich missen.
Es mag lediglich sein Gewissen
des Diebes Strafe sein.

So liegt mein Abtreter seit heut‘
vor einer and’ren Tür.
Mir hat er immer sehr genutzt,
mein Schuhwerk sauber abgeputzt.
Ich dank‘ ihm sehr dafür.

Ein Tag am Meer

Ein Tag am Meer.
Entspannung.
Ruhe.
In-sich-gehen.

Weit reicht der Blick.
So weit.
Bis zum Horizont,
wo der Himmel das Meer berührt.

Rhythmisch rollen die Wellen ans Ufer,
das sie nur kurz erreichen.
Dann müssen sie schon wieder zurück.
Doch sie geben nicht auf.
Versuchen es wieder und wieder und wieder.
Was treibt sie an?
Nur der Wind?

Sacht ziehen Schatten über den Strand.
Große und auch kleine.
Wolken. Und Möwen.

Erstere stumm. Und doch mächtig.
Wenn sie sich vor die Sonne schieben,
geht leis‘ das Licht zurück.
Und gleich wird es merklich kühler.

Die Möwen jedoch sind laut.
Sie kreischen. Sie zanken.
Und ziehen mit dem Wind,
gegen den sie nichts ausrichten können.
Ebensowenig wie gegen die Wellen,
vor denen sie herlaufen.
Fast ein wenig ängstlich, wie mir scheint.
Ob sie sich deswegen ärgern?
Vielleicht sind sie deshalb so laut?

Ganz anders der Wind.
Heut‘ braust er nicht, nur sacht ist er zu hören.
Sanft streicht er über Sand und Dünen.
Das Dünengras folgt seinem Drängen.
Es wiegt sich sacht in seinen leisen Böen.
Und beugt gehorsam sich hernieder.
Doch kaum ist fort der Wind,
dem’s eben noch sich neigte,
steht keck es wieder auf.

Am Rand der Düne liegt ein Boot.
Ob’s wohl gestrandet ist allhier?
Oder ruht sich’s aus nur
vom heftigen Tanz mit den Wellen?

Im hellen Sand leuchten weiße Muschelschalen.
Und lange Stränge grünen Tangs schlängeln sich den Strand entlang.
Geschenke des Meeres an die achtlosen Menschen.
Doch wer sie zu ehren weiß,
findet mit etwas Glück einen Bernstein darin.

Die Wellen tragen Kronen aus weißem Schaum.
Die Sonne läßt sie fröhlich glitzern.
Tausende kleiner Sterne leuchten.
Am hellichten Tag.

Ein Tag am Meer.
Im späten Monat September.
Nur die See, die Möwen und ich
an einem menschenleeren Strand.

(Gedanken an einem Tag im September 2014 am Ostseestrand von Dierhagen, nahe dem Fischland.)

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Zwei Leben…

„Wir haben zwei Leben und das zweite beginnt, wenn du erkennst, daß du nur eins hast.“
(Mário Raul de Morais Andrade, brasilianischer Schriftsteller und Musikforscher)

Dieser wunderbar kluge Satz bildet die Schlußaussage des Gedichtes „Meine Seele hat es eilig“, von dem es eine sehr schöne Rezitation auf der Website von Gunnar Kaiser gibt. Es stamme, so heißt es mancherorts, eigentlich von dem brasilianischen Theologen Ricardo Gondim. Tatsächlich findet sich auf dessen Website ein sehr ähnlicher Text unter dem Titel „Tempo que foge!“ – „Zeit, die vergeht!“
Schickt man diesen durch einen Übersetzer – ich verstehe leider kein Portugiesisch -, findet man in der Tat weitgehende Übereinstimmungen, aber auch über das Gedicht von Andrade hinausgehende Passagen. Der eingangs zitierte Satz findet sich bei Gondim allerdings nicht. Interessant ist hingegen, daß Gondim in seinem Text Andrade zitiert.

Ob nun Gondim die Gedanken des 1945 verstorbenen Andrade weiterführt beziehungsweise dessen Gedicht verarbeitet hat oder ob sein Text in verkürzter und gleichzeitig erweiterter Form durch’s Internet geistert und Andrade fälschlicherweise zugeschrieben wird – für mich spielt das gar keine so große Rolle. Mögen sich andere darüber den Kopf zerbrechen und dies ausdiskutieren…

Für mich ist die Aussage, die das Gedicht und insbesondere dessen Schlußsatz treffen, von viel größerem Interesse, spiegelt sie doch ziemlich genau das wider, worüber ich mir am aktuellen Punkt meines Lebens und insbesondere in dieser gerade immer dunkler werdenden Zeit vermehrt Gedanken mache:

Was hat Bedeutung in meinem Leben? Was nicht?
Wer ist mir wichtig? Und wem bin ich es?
Wo stehe ich? Was ist erreicht? Was noch nicht?
Was möchte ich vom Leben?  Wovon träume ich noch?
Was macht mich glücklich?
Was fehlt noch, damit ich ohne Bedauern und Reue gehen könnte, wenn morgen das Leben vorüber wäre?
Habe ich das zweite Leben schon begonnen? Oder bin ich noch dabei, das erste hinter mir zu lassen?

Zeit nachzudenken. Und zu leben…

Für meinen Vater

Zum 80. Geburtstag

Im neunzehn-einundvierziger Jahr,
Krieg tobte in allen Breiten,
erblicktest Du das Licht dieser Welt,
die alles war, nur nicht zum Besten bestellt,
in jenen gar dunklen Zeiten.

Ein schwerer Anfang war es fürwahr,
der Dir auf Erden beschieden,
Denn Not und Elend bemaß man nach Jahren,
bis niedergerungen die Kriegstreiber waren
und endlich einzog der Frieden.

Und blieben die Zeiten zunächst auch schwer,
das Leben begann, sich zu lichten,
Als Jüngster umsorgt vom Familienrund,
brachte die Kindheit manch frohe Stund‘
und die Schule auch erste Pflichten.

In Schule und Lehre, da lerntest Du,
auf Dein Können stets zu vertrauen.
Und daß dieses groß war, sprach rum sich flott,
schon stand vor der Tür die FDJ –
es galt, ein Land aufzubauen.

Talent und Können auch beim Gesang
mußt‘ man neidlos Dir zuerkennen.
Man fragt‘ „Wo spielt denn das Radio so schön?“
Dabei konnt‘ man Dich singend sitzen seh’n
auf dem Dach, beim Bau von Antennen.

Und auch am Sonntag, beim Tanz, gabst Du gern
eine kleine Gesangseinlage,
Du gefielst einem Mädchen, und sie Dir auch sehr,
Ihr traft Euch wieder, daraus wurde mehr.
Bald stelltest Du DIE eine Frage.

Ihre Antwort war „Ja“! Und daraus entstand
eine wunderbar lange Ehe,
Ihr habt stets geliebt, viel gelacht, kaum geweint,
und was auch geschah, Ihr standet vereint,
ganz gleich, ob in Wohl oder Wehe.

Dabei war es anfangs gar nicht so leicht,
gemeinsam durch’s Leben zu gehen.
Erst Wehrdienst, dann Studium führten Dich fort,
zu näherem oder auch fernerem Ort,
Ihr konntet Euch selten nur sehen.

Und dann war’s geschafft. Doch mit dem Erfolg
kamen neue Herausforderungen.
Die Arbeit führte Euch nun nach Berlin,
gemeinsam zogt Ihr für immer dorthin,
Ihr und Eure beiden Jungen.

Die eigene Wohnung nach einigen Jahr’n,
die konntet Ihr nicht einmal testen.
Die Kultur zu vertreten im fremden Land,
hat man gern ’nen fähigen Mann zur Hand.
Drum schickte man mit Dir den Besten.

So ging es nach Ungarn, nach Budapest,
Kulturen sollt’st Du verbinden,
Künstlern zu helfen warst Du stets bereit,
Beruflich war’s Deine glücklichste Zeit
Und der Abschied schwer zu verwinden.

Noch weitaus schwerer wurde es dann,
als sie’s Ende des Landes beschlossen.
Erst standen sie auf für Demokratie,
dann beugten sie für D-Mark das Knie,
das hat Dich dann doch sehr verdrossen.

Doch Aufgeben war keine Sache für Dich,
Man konnte Dich nicht unterkriegen.
Du fingst nochmal ganz von vorne an,
wurdest Heizölverkäufer und ließest dann
den Kunden das Öl nie versiegen.

Bei Dir hatte selbst der Krebs keine Chance
und suchte verzweifelt das Weite.
Bei Dir Fuß zu fassen hat er nicht geschafft.
Du schlugst ihn mit Mut und mit Willenskraft
Und mit der Frau an Deiner Seite.

Nun hast Du die runde Achtzig erreicht,
Ein Meilenstein, gar keine Frage.
Und auch, wenn es schon mal hier und da zwickt,
nicht jedes Gelenk mehr ganz so leicht knickt,
für Dich ist das kein Grund zur Klage!

Sicher wirst Du mit Deinen nun achtzig Jahr’n
auf manch Vergang’nes rückschauen.
Doch bitte nur aus historischem Grund,
Denn besser sollt’st Du nach vorn blicken und
stets auf die Zukunft vertrauen.

Die Achtzig, was für ein Meilenstein!
Ein großer Geburtstag! Ein runder!
Ich denke, wenn Du so weitermachst,
mit Optimismus das Leben anlachst,
wär’n hundert Jahre kein Wunder.

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