An jedem Jahresende, am Silvesterabend, ist es mir mittlerweile eine liebe Tradition geworden, mich entgegen dem allgemeinen Treiben meiner Mitmenschen zurückzuziehen und ein wenig innere Einkehr zu halten, zu reflektieren, was war, darüber nachzudenken, was ist, und die eine oder andere Vorstellung zu entwickeln, wie es im neuen Jahr weitergehen soll, mir zu überlegen, was ich ändern möchte, aber auch, was ich beibehalten oder weiterentwickeln will. Und so sitze ich auch jetzt wieder bei einem guten Glas Wein im Schein einer kleinen Lampe und denke über dieses vergangene Jahr nach.
Der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam, als ich diesen Text begann, steht gleich an seinem Anfang.
Vorbei. Aus. Vorüber.
Und auch, wenn ich versucht bin, noch ein „Endlich!“ hinterherzudenken, tue ich es nicht. Denn das Jahr mag zu Ende gegangen sein. Die aktuelle Situation ist es nicht.
Dieses Jahr 2020, es hat mich in mehrfacher Weise sprachlos gemacht. Unmittelbar ablesen kann ich das schon allein daran, daß dieser kleine Jahresendtext unmittelbar auf den des vorigen Jahres folgt.
Doch was soll ich zu diesem Jahr denn auch sagen. Daß ich zu seinem Beginn nie und nimmer damit gerechnet hätte, daß es so verlaufen würde, wie es verlaufen ist? Eine Binsenweisheit. Wer hätte das denn? Hätte ich jedes Mal auch nur einen Cent erhalten, wenn in diesem Jahr jemand einen Satz mit den Worten „Hätte mir vor einem Jahr jemand gesagt, daß heute…“ in meiner Gegenwart begonnen hat oder ich einen solchen gelesen habe, ich wäre mittlerweile steinreich.
Was gäbe es denn sonst über 2020 und die aktuelle, weiter andauernde Situation zu sagen, was nicht irgendwer im Laufe des Jahres irgendwann einmal schon geäußert hat? Mir fällt nichts ein. Nach meinem Eindruck ist es so, wie Karl Valentin es einst formulierte:
Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.
Da muß ich nicht auch noch mittun. Und ich will es auch nicht, denn es brächte nur sinnlose Aufregung. Und so denke ich lieber darüber nach, was mir dieses Jahr ganz persönlich an Erkenntnissen beschert hat.
Angst ist kein guter Ratgeber.
So sagt es ein Sprichwort. Momentan haben alle Angst. Aber jeder vor etwas anderem. Vor einem Virus. Vor dem Tod. Vor den Maßnahmen dagegen. Vor dem Zerfall der Gesellschaft. Vor was weiß ich. Auch mir ist Angst in diesem Jahr nicht fremd geblieben. Nun ist Angst an sich ja ein gutes und wichtiges Gefühl in einer konkreten Gefahrensituation, denn es hält uns davon ab, leichtsinnig zu agieren, und bringt uns dazu, auf unsere Sicherheit bedacht zu sein. Es ist jedoch ein völlig kontraproduktives Gefühl, wenn es zum Dauerzustand wird. Wenn es sich zur Panik steigert. Aus welchem Grund auch immer.
Und so bemühe ich mich nun aktiv, die Angst loszulassen. Das schreibt sich einfacher, als es ist.
Was dabei auf jeden Fall hilft, ist die Einschränkung des Medienkonsums. Nicht mehr jeden Tag auf irgendwelche Zahlen, R- und sonstige Werte und Diagramme mit auf- und absteigenden Kurven (je nachdem, wer sie gerade wieder zu welchem Zweck veröffentlicht) starren, nicht mehr jeden Tag irgendwelche Meinungsartikel studieren, die entweder wilde Szenarios totalitärer Zukunftsaussichten entwerfen oder die neuesten Maßnahmen anpreisen, nicht mehr jeden Tag die neuesten Horrorschlagzeilen lesen, nicht mehr jeden Tag nachsehen, was gerade bei Twitter oder sonstwo trendet oder wer wieder wen wegen irgendwas beschuldigt oder beleidigt – all das mal für eine gewisse Zeit einfach wegzulassen, ist ungemein befriedend. Und so verzichte ich zeitweise ganz auf Medien und nehme eine komplette Auszeit. Das sorgt schon mal für eine angenehme Stille. Eine Stille, in der ich die eigenen Gedanken und das eigene Befinden überhaupt erst einmal wieder wahrnehmen kann, in der ich wieder zu mir selbst komme. Im eigenen Kopf ist schon genug Geplapper der Gedanken vorhanden, das muß die mediale Dauerbeschallung nicht noch verstärken.
Dazu beschäftige ich mich mit Dingen, die dazu einen direkten Gegenpol bilden – lebensbejahend sind. Rauszugehen in die Natur – wie erholsam, belebend, anregend das ist, das habe ich in diesem Jahr regelrecht neu entdeckt. Verwunderlich? Nun, ich bin Softwareentwickler. Da ist man nicht soviel unterwegs. Tatsächlich habe ich mich nun aber wohl noch nie soviel bewegt wie in den letzten Monaten. Unterwegs zu sein, mit dem Rad oder zu Fuß, das macht mir richtig Spaß. Und wenn ich mittlerweile nicht mindestens eine Wanderung oder wenigstens einen ausgedehnten Spaziergang – besser zwei – in der Woche unternommen habe, dann fehlt mir was. Daß das Immunsystem und damit die Gesundheit dadurch gestärkt beziehungsweise gefördert werden, ist ein mehr als angenehmer Seiteneffekt. Und wenn der Weg vor die Stadt und in den Wald doch mal zu weit ist, dann geht das auch in der Stadt. Und so fühle ich mich, auch wenn ich in diesem Jahr praktisch nicht mehr im Fitneßstudio war, körperlich beweglicher und wohler denn je. Den Vertrag hab ich gekündigt.
Überhaupt sind aktive Hobbies, bei denen man in irgendeiner Form, ob körperlich wie beim Wandern oder geistig wie beim Schreiben, tätig ist, auch ein hilfreiches Mittel, wie ich selbst feststellen konnte. Für meine Website Anderes.Berlin sind auf diese Weise in diesem Jahr soviele Beiträge entstanden wie noch nie zuvor. Dafür ist mein Konsum über Streamingdienste – das Fernsehen hab ich ja schon vor Jahren für mich abgeschafft – an Filmen und Serien praktisch auf knapp über Null gesunken. Mir fehlte plötzlich völlig das Interesse dafür. Das Netflix-Abo hab ich auch gekündigt.
Was dieses Jahr mir auch eindrücklich gezeigt hat, ist die Tatsache, daß man Menschen in einer Krise erst so richtig kennenlernt. Das kann zu sehr guten Erfahrungen führen, aber leider auch zu mitunter schmerzhaften Enttäuschungen. Doch wie ich schon einmal 2016 nach einer ähnlichen Erfahrung feststellen konnte, kann beim Umgang damit eine Sichtweise helfen, die sich aus dem Wort Enttäuschung selbst ergibt:
In ihm steckt nämlich durchaus auch etwas Positives, denn wörtlich genommen bedeutet eine Ent-Täuschung, daß man einer Täuschung, einer Illusion entledigt wurde.
Wichtig ist dann allerdings auch, die guten Erfahrungen besonders zu schätzen und sich für die Menschen, denen man sie verdankt, weiter zu öffnen. Denn nichts ist wichtiger bei der Überwindung von Angst als Gemeinschaft mit Menschen, die einem lieb und teuer sind.
In diesem Sinne hoffe ich darauf, daß das neue Jahr 2021 ein besseres und für uns alle angstfreieres Jahr wird als das alte, mittlerweile vergangene 2020. Ich wünsche es Euch und nicht zuletzt auch mir selbst.
Rot funkelt der Wein im Glase. Eine kleine Lampe auf dem Tisch vor mir erleuchtet nur spärlich die nähere Umgebung, und auch der am Fenster sanftes, goldenes Licht spendende Schwibbogen vermag den Rest des Zimmers kaum zu erhellen. Doch das ist auch nicht nötig. Leise spielt Musik und untermalt die ruhige und besinnliche Atmosphäre, die ich mir geschaffen habe und mit der es mir gelingt, all den Trubel auszublenden, der von der dem Jahreswechsel entgegenfiebernden Welt vor meinen Fenstern veranstaltet wird.
Das vierte Jahr in Folge halte ich es nun schon so. Es ist eine mir inzwischen lieb gewordene kleine Tradition, das Ende des Jahres allein und zurückgezogen zu begehen und leicht in das neue Jahr hinüberzugleiten. Sanft und ohne raschen Rutsch. Ganz in Ruhe.
Das Besinnliche nehme ich dabei gern wörtlich: mich besinnen auf das, was im vergangenen Jahr gewesen ist und was ich erreicht habe. Und auch, was nicht.
Ich nehme mir vor, achtsamer mit meiner Zeit umzugehen. Sie gleichermaßen bewußt zu nutzen und bewußt zu verschwenden – kurz: sie bewußt zu leben. Jedenfalls mehr als bisher.
So hatte ich es zum Ende des vorigen Jahres formuliert. Und natürlich, die Frage steht im Raum: Habe ich das erreicht? Ja? Nein? Gar nicht so leicht zu beantworten. Zumindest nicht, wenn es nicht oberflächlich sein soll. Mal sehen.
Zunächst einmal kann ich feststellen, daß mir zu der gewählten Überschrift dieses Textes „Und wieder ist ein Jahr vorüber…“ – ja, die stand tatsächlich als erstes fest – nicht wie im letzten Jahr sofort die Frage „Hatte das nicht gerade eben erst angefangen?“ und gleich danach der Satz „Das kann doch unmöglich schon wieder vorbei sein.“ eingefallen sind. Und tatsächlich, wenn ich so über das vergangene Jahr nachdenke, dann habe ich nicht den Eindruck, daß die Zeit einfach so verronnen ist. Und das liegt zu einem nicht geringen Teil daran, daß ich in der Folge meiner letztjährigen Überlegungen zu diesem Thema begonnen habe, mir Gedanken zu machen. Gedanken darüber, was falsch läuft in meinem Leben. Und was richtig. Was mir wichtig ist. Und auch, was nicht.
In der Folge dessen habe ich einige Dinge neu bewertet. Ganz persönlich. Für mich. Womit möchte ich meine Zeit verbringen? Und womit verbringe ich sie tatsächlich?
Als ich begann, darüber nachzudenken, landete ich unweigerlich bei meinem Job. Meiner beruflichen Tätigkeit. Wie stand es damit? Die Arbeit eines Softwareentwicklers ist, was ich gelernt habe und was ich seitdem ohne Unterbrechung ausübe. Dabei ist die Idee einer Karriere für mich völlig irrelevant. Und das kann ich so sicher sagen, weil ich sie ausprobiert habe. Wie so viele andere auch habe ich als Softwareentwickler begonnen und bin den Weg ins Management gegangen. Doch nach einer Weile bin ich umgekehrt. Das war es nicht, was mich interessierte. Was mir wirklich Spaß macht, worin ich gut bin, ist etwas völlig anderes. Für ein echtes Problem eine Software zu entwickeln, die es löst, ist etwas, das unglaublich erfüllend sein kann. Es beginnt bereits bei der Analyse des Problems, wenn sich Erkenntnis aufbaut und man beginnt zu verstehen, worum es geht. Es setzt sich fort, wenn man dann den kreativen Schritt macht und eine Lösung entwirft. Hier ist Kreativität gefragt. Man tritt ein in den Zyklus aus Idee, Ausprobieren, Verwerfen, Von-vorn-beginnen mit einer neuen Idee. Und hat man dann endlich einen Ansatz gefunden, der funktionieren kann, arbeitet man ihn aus und entwickelt ihn zur fertigen (Software-)Lösung. Und all das tut man nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen. Man tauscht Ideen aus, man diskutiert, mal streitet man auch. Aber nichts geht über das wunderbare Gefühl, wenn man gemeinsam, auf Augenhöhe miteinander arbeitend, etwas geschaffen hat.
Aber was lief dann falsch? Wenn ich doch die meiste Zeit Software entwickelte und mir das Spaß machte, warum hatte ich dennoch immer öfter das Gefühl, daß meine Zeit verstrich, ohne daß ich sagen konnte, wo sie denn geblieben war? Und warum blieben so viele meiner persönlichen Interessen unbeachtet, so viele meiner persönlichen Vorhaben ungetan? Ich kam zu dem Schluß, daß ich offenbar dazu übergegangen war, meine Prioritäten mit den Jahren völlig falsch zu setzen. Beginnt man wie ich als Softwareentwickler in einem kleinen, aufstrebenden Unternehmen, scheint diese Tätigkeit das Wichtigste der Welt zu sein, in das man all seine Zeit investiert. Selbst dann, wenn es nicht die eigene Firma und man nur angestellt ist. Es ist wie ein eigenes Werk, ein Baby, das man voranbringen will. Und so waren Überstunden zwar an der Tagesordnung, doch ich nahm sie gern in Kauf, konnte ich doch die erreichten Ergebnisse sehen, die ja irgendwie auch meine waren. Beginnt man dann den Weg ins Management, scheint dieselbe immense zeitliche Investition erforderlich, erst recht, wenn man seine Arbeit ernst nimmt und das Beste erreichen will. Es ändert sich nur der Grund dafür. Doch arbeitete ich mittlerweile weder in einem kleinen, aufstrebenden Unternehmen noch war ich auf der Management-Karriereleiter unterwegs. Und dennoch hatte ich, was meine Zeit betraf und wie ich sie investierte, einfach so weitergemacht wie vorher. Daß meine beruflichen und meine persönlichen Interessen und Projekte nicht vollständig deckungsgleich waren, daß also mein Beruf mir zwar Spaß machte, aber nicht meinen einzigen Lebensinhalt bildete, war mir auf meinem Weg durch mein Arbeitsleben irgendwie aus dem Blick geraten.
Doch nun, wo mir das klar geworden war, gab es keinen Grund mehr, einfach so weiterzumachen wie bisher. Beruf und Persönliches mußten wieder in die richtige Balance. Und so fällte ich die Entscheidung, die Zeit, die ich meinem Beruf zukommen ließ, zu verkürzen. Dabei beließ ich es nicht mit dem Vorsatz, einfach weniger oder keine Überstunden mehr zu machen. Ich ging einen radikaleren Schritt und entschied, nur noch vier Tage in der Woche zu arbeiten. Ein Entschluß, den ich bis heute nicht bereut habe.
In der Folge hat sich einiges für mich verändert. Was meinen Beruf betrifft, habe ich sogar den Eindruck, deutlich produktiver als vorher zu sein. Wichtig ist bei einem solchen Schritt natürlich, daß man nicht versucht, die Arbeit von fünf Tagen an vieren zu schaffen. Die Umstellung auf eine Vier-Tage-Arbeitswoche hat mich auch im Job dazu gebracht, wesentlich bedachter auszuwählen, welchen Aufgaben ich mich widme und welchen nicht. Es war ein äußerst wichtiger Lernschritt für mich zu erkennen, wie unglaublich produktivitätssteigernd ein zur rechten Zeit geäußertes Nein sein kann. Und wenn man nach eigenem Gefühl die richtige Balance zwischen Arbeit und Persönlichem erreicht hat, investiert man seine Zeit und Fähigkeiten viel bewußter in die aktuelle Tätigkeit, weil man überhaupt erst einmal in der Lage ist, darüber nachzudenken, was wichtig ist und was nicht und wann der beste Zeitpunkt ist, eine übernommene Aufgabe zu erledigen. Nach meinem Eindruck schaffe ich in den vier Tagen pro Woche in meinem Job jetzt sogar mehr als vorher in fünfen, ohne daß ich deshalb das Gefühl habe, mich zu übernehmen.
Und auch außerhalb des Jobs kam es zu deutlichen Verbesserungen in meinem Leben. Klar, ich hatte mehr Zeit. Doch das allein macht ja noch nichts besser. Es kommt darauf an, sie bewußt einzusetzen. Ich schreibe hier absichtlich nicht „sinnvoll nutzen“. Denn mir kommt es nicht darauf an, meine neu gewonnene Zeit zu rationalisieren. Wichtig ist mir, sie bewußt für das zu verwenden, was für mich gerade wichtig und erforderlich ist. Das kann ein Projekt sein, daß ich umsetzen, ein Ziel, das ich erreichen will. Das kann aber auch bewußte Verschwendung sein, wenn die Seele danach verlangt. Tagträumen, müßiggehen, bummeln, nichts erreichen müssen. Für von allem ein bißchen habe ich mir im vergangenen Jahr Zeit genommen: für einen vergleichsweise spontanen Ausflug nach Nürnberg an einem verlängerten Wochenende; für einen Urlaub im schönen Wien, wohin ich immer schon einmal wollte, und für einen anderen im Schwarzwald, wo ich vor Jahren schon einmal war, woran ich mich aber kaum noch erinnern konnte; für die Fertigstellung einer schon lange geplanten vierteiligen Artikelserie über die Spittelkolonnaden auf meiner Website Anderes.Berlin; für die Recherche zu einer weiteren, an der ich gerade noch arbeite; für die Zusammenstellung einer Spotify-Playlist mit epischer Musik, unglaublich motivierend bei allen möglichen Gelegenheiten; für die Wiederaufnahme meiner brachliegenden Mitgliedschaft im Fitneßstudio – Sport macht Spaß, Sport macht Spaß, Sport macht Spaß…
Unglaublich befreiend ist auch das Abwerfen von Ballast. Im wahrsten Sinne des Wortes. Stimmt die Balance im Leben nicht, neigt mancher zur Kompensation. Was durchaus eine gewisse Zeit funktionieren kann. Erst recht, wenn man gerne Dinge sammelt. Bücher, CDs, Schallplatten. Oder Star-Trek-Raumschiffmodelle. Deren Anschaffung kann eine gute Kompensation sein. Für eine Weile. Bis man das Gefühl hat, daß sie einen erdrücken und die Balance zusätzlich durcheinanderbringen. Dann sollte man sie dringend loswerden. Was plötzlich sehr einfach wird, wenn man seine Balance wiederfindet, wie ich in diesem Jahr ebenfalls feststellen konnte.
Ich nehme mir vor, achtsamer mit meiner Zeit umzugehen. Sie gleichermaßen bewußt zu nutzen und bewußt zu verschwenden – kurz: sie bewußt zu leben. Jedenfalls mehr als bisher.
Und? Habe ich das nun erreicht? Ich meine, in diesem Jahr ist mir dafür ein recht guter Anfang gelungen. Und bedenke ich es recht, ist dieses Vorhaben keines, bei dem man an irgendeinem Punkt im Leben sagen kann: Jetzt habe ich es geschafft. Weiter geht es nicht. Vielmehr ist es eine Haltung, eine Einstellung zum Dasein. Seine Zeit bewußt zu leben – das ist ein Vorhaben, das man jeden Tag umsetzen muß. Und dafür muß man es jeden Tag auf’s Neue in Angriff nehmen.
In diesem Sinne wünsche ich Euch allen ein gesundes neues Jahr 2020. Setzt die Zeit, die Ihr habt, so bewußt ein, wie Ihr könnt.
Fertig ist sie, meine Beitragsserie über die Geschichte der Berliner Spittelkolonnaden. Vier einzelne Beiträge, jeweils zu einer einzelnen Periode aus der Geschichte dieses schönen Bauwerks, dazu eine umfassende Fotogalerie mit historischen Aufnahmen und aktuellen Bildern – alles das ist nun auf der Website meines Berlin-Projektes Anderes.Berlin zu finden.
Das war ein ganz hübsches Stück Arbeit. Angefangen von zahllosen Samstagen, die ich in der Abteilung für Berlin-Studien der Zentralen Landesbibliothek zugebracht habe, um zu recherchieren und Informationen zusammenzutragen, über viele, viele Stunden Online-Recherche, um weitere Daten und Fakten zu finden, bis hin zum Schreiben der Texte für die einzelnen Artikel, war ich wenigstens ein halbes Jahr damit befaßt – Zeit, angefüllt mit dem Aufstöbern und Studieren einzelner, kleinerer und größerer Zeitungsartikel, dem Lesen von Büchern, dem Durchsuchen von Bibliothekskatalogen, dem Sitzen in Lesesälen öffentlicher Bibliotheken, dem Durchsuchen des Internets, dem Notieren jedes noch so winzigen Fakts, dem buchstabengetreuen Abschreiben wichtiger Zitate, dem zeitlichen Ordnen der Fakten, dem Protokollieren jeder benutzten Quelle und so weiter und so fort. Besonders spannend wird es, wenn solche Quellen einander widersprechen. Welche Aussage stimmt? Was ist wahr, was falsch? Gibt es weitere Quellen, bestenfalls sogar schriftliche Zeugnisse aus der betreffenden Zeit selbst? All das macht wahnsinnig Spaß und erinnert manchmal an Detektivarbeit.
Als ich dann alle Fakten und Informationen gesammelt hatte, ging es an’s Schreiben. Nun mußte ich all die Daten und einzelnen Geschichtchen zu einem großen Ganzen zusammenbringen, zu einer zusammenhängenden, unterhaltsamen und möglichst spannenden Geschichte. Eine Herausforderung! Ich wollte bei der Beschreibung historischer Zusammenhänge und Abläufe die stets damit verbundene Gefahr bannen, daß der Text zu trocken gerät, sich zu sehr auf die Aneinanderreihung der Fakten konzentriert und es versäumt, eine Geschichte zu erzählen. Doch wie stellte ich das am besten an? Nach einiger Überlegung verfiel ich auf die Idee, jedem der vier Artikel eine kleine Geschichte voranzustellen. Eine Geschichte, die nicht nur mit dem Gegenstand der Beitragsserie, den Spittelkolonnaden, zu tun hatte, sondern auch den jeweiligen Zeitraum jedes Artikels näher illustrierte. Eine Geschichte, die ich mir jeweils ausdachte, die aber dennoch so oder so ähnlich passiert sein könnte. Ob mir all das gelungen ist oder nicht, möge jeder Leser der Beitragsreihe selbst beurteilen. Mir hat es auf jeden Fall sehr viel Spaß gemacht, sie zu schreiben.
Nun war das geschriebene Wort also fertig. Doch das war ja erst der Inhalt. Solch eine Artikelserie lebt aber nicht vom Text allein. Wer will schon eine Webseite lesen, die wie eine einzige Bleiwüste daherkommt, zumal, wenn es um historische Ereignisse und Orte geht? Da müssen Illustrationen her, die das im Text Erzählte visualisieren. Darstellungen aus der Vergangenheit und, wenn wie in diesem Fall das Bauwerk noch existiert, auch aus der Gegenwart machen den Text lebendiger, nachvollziehbarer und damit letztlich interessanter. Während das für aktuelle Aufnahmen noch relativ einfach ist, für die ich nur eine kleine Fototour unternehmen, das Bauwerk fotografieren, die Bilder bearbeiten und auf die Website laden muß, stellt sich das für historische Aufnahmen schon deutlich schwieriger dar. Gibt es überhaupt welche? Und wenn ja, wo sind diese zu finden? Wieder waren viele Stunden Suche und Recherche vergangen, bis ich schließlich für jede einzelne Periode der Geschichte der Spittelkolonnaden ansprechende Darstellungen – Zeichnungen und Fotografien – gefunden hatte.
Doch damit war es nicht getan. Während ich meine eigenen Fotos ohne Probleme auf meiner Website verwenden kann, ist das für historische Bilder nicht so einfach. Da gilt es, das Urheberrecht zu beachten. Nicht alles, was man so findet, ist auch frei verfügbar. Auch nicht, wenn man es im Internet aufstöbert. Also setzte sich die Recherchearbeit fort. Diesmal ging es darum, für jedes einzelne Bild herauszufinden, wer es aufgenommen hatte und wann, ob es noch urheberrechtlich geschützt ist und wenn ja, wer die Rechte daran besitzt. Gerade der Zeitraum vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis heute ist da immer problematisch. Fotografien aus dieser Zeit sind einfach noch nicht alt genug, um bereits gemeinfrei zu sein. Hier gilt es herauszufinden, ob die Urheber, also die Fotografen, noch am Leben sind oder nicht. Sind sie es nicht, ist wichtig zu wissen, wann sie verstorben sind. Ist das bereits mehr als 70 Jahre her? Und selbst wenn das der Fall ist, gibt es eventuell noch andere Personen, die ebenfalls noch Rechte an der Aufnahme haben? Ein Gemälde kann beispielsweise gemeinfrei sein. Will ich jedoch ein Foto dieses Gemäldes verwenden, kann der Fotograf wiederum Urheberrechte beanspruchen, die ich beachten muß. Es ist kompliziert.
Als ich dann endlich für jedes Bild, das ich verwenden wollte, alle entsprechenden Informationen zusammenhatte, kam der nächste Schritt, denn natürlich waren nicht alle Bilder, die ich gefunden hatte und verwenden wollte, für mich so ohne weiteres nutzbar. Nun mußte ich die einzelnen Rechteinhaber anschreiben und um die Genehmigung für die Verwendung der Bilder bitten. Erfreulicherweise waren fast alle bereit, mir die Bilder für die Verwendung auf meiner Website zur Verfügung zu stellen. Danken möchte ich in diesem Zusammenhang besonders dem Bildarchiv Foto Marburg und der Stiftung Stadtmuseum Berlin, die mir einige sehr schöne und für meine Artikelserie wichtige Bilder kostenfrei zur Verfügung gestellt haben. Ich habe mich sehr gefreut, daß sie auf diese Weise mein Projekt unterstützen wollten. Für ein aus reiner Liebhaberei betriebenes, nicht kommerziell orientiertes und werbefreies Website-Projekt ist es nicht so einfach, die entsprechenden Kosten, die beispielsweise durch die nicht eben geringen Gebühren verschiedener Bildarchive entstehen können, finanziell aufzubringen.
Nun hatte ich also die Texte und ich hatte die Bilder. Jetzt galt es, all dies zusammenzubringen und möglichst ansprechend zu gestalten, damit lesenswerte Artikel daraus entstehen konnten. Auch das ist natürlich wieder eine ganze Menge Arbeit gewesen, trotz der technischen Unterstützung durch eine entsprechende Software zur Entwicklung, Gestaltung und Pflege von Websites. Bis die vier Beiträge nach und nach fertig und veröffentlicht waren, verging noch einmal ein gutes Vierteljahr. Doch nun ist es vollbracht. Viel Zeit und viel Arbeit waren also das Resultat. Aber, und das ist für mich das Wichtigste überhaupt, auch viel Spaß und Freude!
Nun war ja diese Artikelserie zu den Spittelkolonnaden nicht meine erste. Ich habe in der Vergangenheit ja schon einige Artikel auf Anderes.Berlin veröffentlicht. Warum also schreibe ich hier darüber? Wozu noch dieser Blogbeitrag?
Nun, zum einen wollte ich allen, die es vielleicht interessieren mag, einmal einen kleinen Einblick geben, was es bedeutet, eine solche Artikelserie zu verfassen, zu gestalten und ins Leben, also online zu bringen. Zum anderen aber hat diese spezielle Artikelserie zu den Berliner Spittelkolonnaden für mich einen besonderen Stellenwert. Denn die Säulengänge des Carl von Gontard begleiten mich schon eine recht lange Zeit meines Lebens. Und das nicht nur, weil ich als Kind und Jugendlicher in der Leipziger Straße gewohnt und in der Gegend zur Schule gegangen bin, so daß ich auf meinem Schulweg tagtäglich an dem steinernen Halbrund vorüberkam.
Es begann, als ich in der fünften Klasse und gerade neu an die 18. Polytechnische Oberschule „Reinhold Huhn“ gekommen war, eine der beiden Schulen, die damals für das Wohngebiet rund um die Leipziger Straße zuständig waren. Um bei uns Kindern das Interesse für unsere nähere Umgebung und ihre Geschichte zu wecken und gleichzeitig gemeinschaftliches Arbeiten an einem gemeinsamen Projekt zu lernen, vergaben die Lehrer an jede Klasse einen Forschungsauftrag. Ziel war die selbständige Erforschung eines historischen Ereignisses, das sich in unserer Wohngegend ereignet hatte, oder der Geschichte eines Bauwerks, das sich im Umfeld unserer Schule befand. Unsere Klasse bekam den Auftrag, die Geschichte der Spittelkolonnaden zu erforschen, die erst wenige Jahre zuvor in der Leipziger Straße wiedererrichtet worden waren. Dafür wurde in unserer Klasse eine sogenannte Forschungsgruppe eingerichtet, die aus mehreren Schülern bestand und die an dem Forschungsauftrag arbeiten sollte. Heute würde man das vielleicht Projektgruppe nennen. Und weil man damals der Meinung war, daß jede Arbeitsgruppe auch einen Leiter braucht, wurde einer der Schüler dazu bestimmt. Warum unsere Klassenlehrerin dabei auf die Idee verfiel, daß ich das sein sollte, der ich doch gerade erst neu in der Klasse war und noch kaum jemanden wirklich kannte, ist für mich immer ein Geheimnis geblieben.
Nun, das mit der Projektgruppe hat nicht so geklappt, wie es sollte. Weder haben wir als Arbeitsgruppe wirklich funktioniert (das Leiten lag mir wohl noch nie so recht), noch ging ohne Anleitung durch einen Lehrer das Konzept, mit dieser Maßnahme bei den Schülern ein breites Interesse für Stadtgeschichte und ihre nähere Umgebung zu wecken, wirklich auf. Letztlich hat sich niemand in der Klasse für den Forschungsauftrag wirklich begeistert. Wirklich niemand. Außer mir. Für mich war das eine ziemlich spannende Angelegenheit. Und so trug ich allerlei Informationen über die Spittelkolonnaden und ihre Geschichte zusammen und lieferte das Ergebnis ab – für die Klasse, versteht sich. Was ich da im einzelnen alles herausfand und zusammengefaßt darstellte, entzieht sich heute leider meiner Erinnerung. Was ich jedoch noch sehr gut weiß, ist, daß ich in Bezug auf die Klasse zwar der einzige war, der an dem Projekt arbeitete, daß ich dabei jedoch keinesfalls allein war. Denn wer mich dabei massiv unterstützte, waren meine Eltern. Durch sie lernte ich, wie man an so eine Aufgabe, bei der man am Anfang nur die Zielsetzung kennt und keine Ahnung von der Materie hat, herangeht. Für diese und all die andere Hilfe, die ich von ihnen immer erfuhr, bin ich ihnen stets dankbar.
So ist auf diese Weise mit den Spittelkolonnaden meine erste eigene Arbeit zur Geschichte eines Berliner Bauwerks verknüpft. Mit ihnen wurde mein Interesse für die Geschichte meiner Heimatstadt Berlin geweckt, das mich seitdem nicht mehr losgelassen und letzten Endes – viele Jahre später – zu meinem Webprojekt Anderes.Berlin geführt hat. Und so ist es nur angemessen und auch folgerichtig, daß ich den Spittelkolonnaden nun endlich auch eine eigene umfassende Artikelserie auf Anderes.Berlin gewidmet habe. Es wurde Zeit dafür.
Und wieder einmal ist es Silvester. Das Jahr 2018 neigt sich unweigerlich dem Ende entgegen. Hatte das nicht gerade eben erst angefangen? Das kann doch unmöglich schon wieder vorbei sein.
So oder so ähnlich mag es manchem gehen, da bin ich sicher nicht der einzige. Im Alltag fällt uns meist gar nicht auf oder wir ignorieren mehr oder weniger bewußt, daß die Zeit unweigerlich voranschreitet. Doch an Tagen wie diesem, die uns mit ihrer besonderen Bedeutung, die wir ihnen beimessen, aus dem Alltäglichen herausholen, kann es geschehen, daß wir uns plötzlich dessen bewußt werden, und wir fragen uns, wo die Zeit denn nur geblieben ist.
Und so sitze auch ich nun hier und denke über das zurückliegende Jahr nach. Wieder einmal halte ich mich fern von den alljährlichen Silvesterparties. An diesem Abend, wenn alle Welt feiert und feuerwerkt, ist mir eher nach Besinnlichkeit. Während alle mit einem hoffentlich guten Rutsch ins neue Jahr schliddern, möchte ich lieber sanft hinübergleiten. Ein Glas roten Weins an einem ruhigen Abend – mehr brauche ich nicht. Es muß mir allerdings gelingen zu ignorieren, daß von draußen vor dem Fenster Geräusche an mein Ohr dringen, die mich glauben lassen könnten, es wäre Krieg.
Warum um alles in der Welt ist jetzt schon wieder Jahresende? Ach, die Zeit verrennt. Das ist ein Satz, den viele sagen.
Eins, zwei, drei – im Sauseschritt eilt die Zeit. Wir eilen mit.
So dichtete bereits Wilhelm Busch. Doch kann Zeit eilen? Oder rennen? Wohl eher nicht. Also stimmt der Satz nicht? Dem widerspricht der Eindruck, der sich bei manchem so manches Mal – und auch bei mir gerade jetzt – einstellt, daß schon wieder soviel Zeit vergangen ist, ohne daß man es so recht merkte. Moment, ohne daß man es merkte? Ohne daß ich es merkte? Das bedeutet ja… Mir will nicht so recht gefallen, was es bedeutet. Wenn Zeit unbemerkt vergehen kann, dann geht man achtlos mit ihr um. Und Achtlosigkeit führt – das kennt man auch von anderen Ressourcen – in aller Regel zu Verschwendung.
Aber ist das denn schlimm? Ich bin kein großer Freund davon, alles und jedes zu rationalisieren. Das passiert in unserem Zeitalter sowieso schon allerorten. Alles wird nur noch nach dem Nutzen, den es haben könnte, bewertet. Doch mit Zeit – und insbesondere der eigenen Lebenszeit – sollte man das auf keinen Fall tun. Es sei denn, man sucht das unfehlbare Rezept für permanente Unzufriedenheit. Zeit verschwenden – das kann so schön sein. Tagträumen, müßiggehen, bummeln, nichts erreichen müssen – ab und zu braucht die Seele das. Und dann sollte man mit Zeit nicht sparen, um ihr das zu gewähren.
Eine derartige Verschwendung von Zeit kann, wenn sie bewußt geschieht, eine Bereicherung sein. Der achtlose Umgang damit führt jedoch zum genauen Gegenteil. Verschwendung aus Achtlosigkeit – das wird unweigerlich zu Verlust, aus dem wieder Unzufriedenheit resultiert; Unzufriedenheit, die sich in der Frage, wo denn nur die Zeit geblieben ist, ausdrückt.
Nein, die Zeit verrennt nicht. Sie schreitet voran – immer im gleichen Tempo. Behauptet man, sie renne, versucht man nur, die Schuld am eigenen achtlosen Umgang mit ihr auf sie abzuwälzen. Doch ändert man nur einen Buchstaben in diesem Satz, drückt er plötzlich aus, was dann wirklich passiert: Die Zeit verrinnt. Und zwar wie Sand durch die Finger…
Silvester und Neujahr – das ist stets die Zeit der guten Vorsätze. Ich denke, dieses Mal belasse ich es bei einem einzigen. Ich nehme mir vor, achtsamer mit meiner Zeit umzugehen. Sie gleichermaßen bewußt zu nutzen und bewußt zu verschwenden – kurz: sie bewußt zu leben. Jedenfalls mehr als bisher.
In diesem Sinne wünsche ich Euch allen ein gesundes und fröhliches, vor allem aber ein bewußt gelebtes Jahr 2019. Laßt es Euch gut gehen!
Am Nachmittag des 2. Juni 2018, einem Sonnabend, veranstaltete der Verein für die Geschichte Berlins e. V., gegründet im Jahre 1865, eine Führung der besonderen Art. Führungen durch Museen oder Ausstellungen jeglicher Art ist man gewohnt. Auch Stadtführungen kennt man zur Genüge. Wenngleich viele davon interessant sind, so sind sie doch meist nichts, was man außergewöhnlich nennen würde. Doch eine Führung über einen Bahnhof? Das gibt es nicht alle Tage. Als Eisenbahn-Liebhaber im allgemeinen und Freund der Berliner S-Bahn im besonderen war es keine Frage, daß ich mir das nicht entgehen lassen durfte.
Unter der überaus sachkundigen Führung von Sven Heinemann, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und Autor des Buches „Mythos Ostkreuz“ (VGB-Verlagsgruppe, Fürstenfeldbruck), der bereits mit seinem gleichnamigen Vortrag am 16. Mai 2018 auf das Thema eingestimmt und auf diesen Nachmittag neugierig gemacht hatte, wanderte ich mit den anderen Expeditionsteilnehmern runde zweieinhalb Stunden treppauf, treppab über den Bahnhof und durch seine nähere Umgebung. Dabei bewegten wir uns ausschließlich auf öffentlich zugänglichem Terrain: Bahnsteige, Straßen, Gehwege, Fußgängerbrücken, Treppen. Gelände also, das Jedermann jederzeit betreten und betrachten kann. Und auch wenn man als Berliner, täglicher S-Bahn-Benutzer oder einfach nur Interessierter meinte, den Bahnhof, auch wenn er in den letzten Jahren massiv umgebaut wurde, zur Genüge zu kennen, so wurde man binnen kurzem eines Besseren belehrt.
Lebendig und anschaulich ließ Heinemann vor dem inneren Auge die Geschichte des Bahnhofs aufleben, berichtete von den Vorgängerbahnhöfen, der Entstehung des Bahnhofs Stralau-Rummelsburg und seiner Entwicklung bis hin zum allseits bekannten und wenig geliebten Rostkreuz, auf die schließlich der große Umbau der letzten Jahre folgte, der leider nur wenig von der historischen Substanz des einstigen Ostkreuzes übrig ließ. Doch dieses Wenige hatte er akribisch aufgespürt und führte es uns vor Augen. Und was wir da im öffentlichen Raum zu sehen bekamen und entdeckten, bewies wieder einmal, daß man meist nur wahrnimmt, was man weiß. Originale Pfeiler des Bahnhofsdaches auf dem Bahnsteig D? Originalteile der (noch nicht völlig wiederhergestellten) Fußgängerbrücke über den gesamten Bahnhof? Welcher der Reisenden, die täglich diesen Bahnhof passieren, nimmt sie wahr? Und wer weiß eigentlich, daß die erwähnte Fußgängerbrücke den Namen ihres Architekten trägt und Brademannbrücke heißt?
All das und noch so vieles mehr erfuhren wir auf diesem überaus spannenden Rundgang. Und so manche Erinnerung an diesen Bahnhof, an Eigenartiges und heute Verschwundenes lebte auch in mir wieder auf und bescherte mir so manchen „Ach ja! – So war’s!“-Moment; – wie den der Erinnerung an den eigentümlichen Bahnsteig A, der zwar zwei Bahnsteigkanten besaß, an denen aber die Züge zweier verschiedener Linien hielten – an der einen die stadtauswärts über die Südkurve fahrenden Züge nach Schönefeld, an der anderen die aus Buch über die Nordkurve kommenden, die ins Stadtinnere wollten. Und die Züge der jeweiligen Gegenrichtung? Die hielten hier einfach nicht. Als Kind hatte mich diese Merkwürdigkeit stets fasziniert. Heute ist der Bahnsteig abgerissen, die Nordkurve ist mit ihm verschwunden und die Südkurve führt über eine vollkommen neue Brücke aus Beton, die nicht mehr rosten kann. Die sie überquerenden Züge halten nun hier gar nicht mehr – in beiden Richtungen. Das ist zwar eigentlich nicht im Sinne eines Bahnhofs, aber wenigstens ist jetzt Symmetrie hergestellt.
Doch nicht nur die Geschichte des Bahnhofs erzählte Sven Heinemann, sondern auch immer wieder kleine Geschichten. Wie die der Bewohner des südlichen Beamtenwohnhauses an der Südkurvenbrücke, des heute ältesten Gebäudes am Bahnhof Ostkreuz. Geschichten wie diese machen die Historie eines Ortes erst wirklich lebendig.
Bei dieser kurzweiligen Tour verging die Zeit wie im Fluge, und als sie zu Ende war, hatten wir viel erfahren und erlebt – und waren überdies um die Erkenntnis reicher, daß es, wie es der Vorsitzende des Vereins formulierte, nicht nur Stadtführer gibt, sondern auch Bahnhofsführer. Und davon hätten wir gern mehr, denn interessante Bahnhöfe gibt es in Berlin noch einige…
Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Wieder einmal ist Silvester. Und ich schwänze auch dieses Jahr die Party. Es ist nicht das erste Mal.
In den Tagen und Wochen vorher bekommt man oft die Frage gestellt, was man denn Silvester mache. Kommt die Reihe an mich, Antwort zu geben, sage ich einfach:
„Nichts!“
„Wie, nichts?“
„Na, nichts! Ich bin zu Hause!“
„Aber es ist doch Silvester! Das mußt Du doch feiern!“
Muß ich? Wieso eigentlich?
Meistens fällt es mir schwer, zu einem festgelegten Zeitpunkt auf Abruf in Feierlaune zu kommen. Und dieser Zeitpunkt ist ja schon besonders willkürlich. Irgendwann in der Geschichte der Menschheit hat jemand gefunden, daß es eine gute Idee wäre, die vergehende Zeit in feste Abschnitte einzuteilen. Irgendwie konnte er die Anderen davon überzeugen, wie toll seine Idee ist. Gute Argumente gab es sicher zuhauf. Beispielsweise vereinfacht es Verabredungen ungemein. Wahrscheinlich waren sich alle schnell einig über das Grandiose dieser Idee. Über die Anzahl der Abschnitte, ihre Bezeichnung, ihren Anfang und ihr Ende konnte dann allerdings im Laufe der Geschichte keine Einigung erzielt werden. So änderte man immer mal wieder den Kalender, aus den unterschiedlichsten Erwägungen. Und auch heute gibt es bei verschiedenen Völkern durchaus verschiedene Kalender. Es gibt sogar Menschen, die nach zwei Kalendern gleichzeitig leben. Kommt man da eigentlich nicht durcheinander?
Wie ich so darüber nachsinne, kommt mir der Gedanke, doch mal im Internet über Kalender nachzuschlagen. Im Bereich „Schlagzeilen“ liefert mir Google gleich einen passenden Artikel der Frankfurter Rundschau: „Zählt, wie es Euch gefällt – Kalender im Wandel der Zeit“. Veröffentlicht vor etwa zwei Stunden. Wie überaus passend. Als hätte ich gefragt.
Daß wir den Jahreswechsel heute feiern, ist also lediglich eine willkürliche Festlegung. Wäre es nicht besser, das im Sommer zu tun? Da wäre es doch viel wärmer. Das müßte doch gerade jene freuen, die sich jetzt am Brandenburger Tor oder anderswo im Freien bei einer der vielfältigen Silvesterparties den Hintern abfrieren. Obwohl, in diesem Jahr geht’s ja noch. Wir haben ja fast frühlingshafte Temperaturen. Dennoch. Silvesterparty im Freien, wo’s kalt ist? Laßt mich kurz nachdenken… Nein.
Und was heißt überhaupt heute? Zwar wird der Gregorianische Kalender heute rund um die Welt in vielen Ländern verwendet und es feiern die Menschen dort Silvester auch am heutigen Tag, aber wegen der Zeitzonen ist das ja relativ. Während wir uns also am Nachmittag des 31. Dezember auf den Jahreswechsel vorbereiten, haben die Australier ihn längst vollzogen. Ob die da auch so sinnlos rumballern wie wir hier? Und wenn alle rund um den Erdball das genau so machen, zieht dann das Silvesterfeuerwerk wie eine riesige La-Ola-Welle um die Welt? Kann man das vom Weltraum aus sehen? Hat das eigentlich schon mal jemand die Kosmo- oder Astronauten auf der ISS gefragt?
Doch ich schweife ab. Weder ist also der Jahreswechsel ein ehernes Datum, noch begehen ihn alle Menschen der Welt zur selben Zeit. Das ist natürlich ein wirklich schöner Grund, nicht auf Bestellung in Feierlaune zu verfallen. Und man kann darüber auch sehr gelehrt und lang dozieren. Vielleicht würde man den einen oder anderen sogar überzeugen.
Doch warum ich heute nicht auf einer Party bin, sondern stattdessen gemütlich in der warmen Stube sitze und bei einem Glas Rotwein und ruhiger Musik über den Jahreswechsel sinniere, das neue Jahr erwarte und mir den einen oder anderen Gedanken durch den Kopf gehen lasse, auf das alte 2017 zurückschaue und überlege, was ich denn im nächsten Jahr so tun oder lassen möchte, hat einfach den einen Grund: ich will es so. Es ist schön. In all dem Trubel und der Hektik, die die heutige Zeit so mit sich bringt, in der man so oft meint, das Heft in der Hand zu halten und dabei gar nicht merkt, daß man tatsächlich nur ein Getriebener ist, tut es gut, einfach mal innezuhalten und nicht dem allgemeinen Trend zu folgen, mich zurückzuziehen, von der Welt um mich herum für ein paar Stunden Abstand zu nehmen und mich ganz auf mich zu konzentrieren. Und dafür ist ein willkürlich festgelegter Jahreswechsel gar nicht mal der schlechteste Zeitpunkt.
In diesem Sinne: Ein gesundes, neues Jahr Euch allen. Laßt es ruhig angehen!
Auf Yelp habe ich heute den folgenden Beitrag zum Restaurant Sisaket veröffentlicht:
Der recht unscheinbare schmale Eingang dieses Restaurants in der Dircksenstraße macht es trotz seiner Nähe zum Hackeschen Markt einfach, diese gastronomische Perle zu übersehen. Das wäre jedoch ein außerordentlich bedauerlicher Fehler, wie wir bei unserem Besuch am zweiten Weihnachtsfeiertag selbst feststellen konnten.
Das Ambiente ist außerordentlich angenehm. Tritt man durch den Eingang von der Dircksenstraße herein, findet man sich in einem geräumigen Restaurant wieder, das man von außen so gar nicht erwartet hätte. Obwohl außer uns noch einige Gäste anwesend waren, war die Atmosphäre angenehm ruhig. Im Hintergrund ist leise Musik zu hören, die auf das Ambiente abgestimmt ist und es unterstützt. Kein Gedanke an die nervige Fahrstuhlmusik, die anderswo aus allen Ritzen zu kriechen scheint und die Gehörgänge malträtiert. Die Ausstattung bietet was für’s Auge, angefangen von den beiden Holzelefanten am Eingang über die Bilder an den Wänden und die Lampen, die für ein angenehm gedämpftes Licht sorgen, bis hin zu der Kleidung des Personals – hier hat man sich offensichtlich Gedanken darum gemacht, wie man es dem geschätzten Gast so angenehm wie möglich machen kann.
Und das hört beim Ambiente nicht auf. Das Personal ist freundlich und zuvorkommend, ohne aufdringlich zu sein. Für mich besonders beeindruckend: unsere Bestellung wurde von der Kellnerin aufgenommen, ohne daß sie sich auch nur das Geringste notiert hätte. Jeder von uns hatte etwas anderes bestellt, sowohl beim Essen also auch bei den Getränken. Als sie das Gewünschte brachte, war nicht nur alles korrekt und vollständig, sondern sie wußte auch noch genau, wer was bestellt und zu bekommen hatte. Angesichts der Vielzahl ungelernter und oftmals auch am Gast völlig uninteressierter Hilfskräfte, mit denen man sich anderswo heute oft herumschlagen muß, ist allein das schon ein Grund, dieses Restaurant zu mögen.
Der Hauptgrund dafür ist jedoch das Essen – deswegen besucht man schließlich ein Restaurant. Und das ist hier wirklich exquisit. Auch wenn wir nicht die ganze Karte durchprobiert haben – bei drei verschiedenen Essen inklusive Vor- und Nachspeise haben wir, so glaube ich, eine recht guten und repräsentativen Eindruck von der hier gebotenen Qualität gewinnen können. Die Küche ist thailändisch und außerordentlich vielfältig. Salate, Suppen, Gerichte ohne und mit Fleisch – Huhn, Ente, Rind werden geboten – oder Meeresfrüchten – wer da nichts findet, ißt vermutlich nie. Dabei merkt man schon beim Lesen der umfangreichen Karte, daß es hier wahrhafte Gerichte gibt und kein Bausatzessen, mit dem man durch Kombination der verfügbaren Zutaten verschiedene Gerichte simuliert und die Karte so künstlich aufbläht. Die Auswahl fällt schwer, denn schon das Lesen der Karte macht Appetit auf alles.
Zwischen Bestellung und Erhalt des Gewünschten vergeht einige Zeit. Das ist aber kein Indiz für einen langsamen Koch oder eine unorganisierte Küche, sondern dafür, daß das Essen für jeden Gast frisch zubereitet wird, was einfach seine Zeit braucht, wenn man kein Fertigessen möchte. Und das gibt es hier nicht! Wer das nicht zu schätzen weiß, ist hier falsch.
Für die Wartezeit wird man mit – ich sagte es schon – exquisitem Essen belohnt, das jede gewartete Minute wert ist. Und hier ißt das Auge mit! Für einige Gerichte hat man sich ausgefallene Anrichtungen einfallen lassen. Mein gebratener Reis mit Eierstich, Gemüse, Hähnchenbrustfilet-Stücken und Garnelen schmeckte nicht nur anbetungswürdig gut, er wurde auch in einer frischen, ausgehöhlten Kokosnuß serviert. Daß nur mit frischen Zutaten gekocht wird, versteht sich fast schon von selbst und ist dem Essen unbedingt anzumerken. Fein gewürzt, die Schärfe nuanciert, jede Zutat ist im Essen mit ihrem Eigengeschmack zu erleben. Das ist thailändische Küche auf absolutem Spitzenniveau.
Die Preise sind für die gebotene Qualität moderat, das Essen jeden einzelnen Cent wert.
Wer also Hunger und Lust auf wirklich exquisite thailändische Küche hat, ist in diesem Restaurant bestens aufgehoben. Ich komme auf jeden Fall wieder!
Wieder stehe ich am Wassertorplatz, doch diesmal auf der anderen Seite des Hochbahnviadukts. Vor mir liegt die vierte Etappe meiner Wanderung auf dem Grünen Hauptweg Nr. 19. Vom Engelbecken hatte mich der Weg auf dem ehemaligen Luisenstädtischen Kanal entlang bis hierher geführt. Und auf eben dem Grünstreifen, den der zugeschüttete Kanal hinterlassen hat, geht es nun weiter.
Waren die Parkwege kurz vor dem Wassertorplatz zuletzt etwas ungepflegter, so sind sie nun um so eleganter. An einem Spielplatz vorbei führen sie mich an sorgsam gestutztem, saftig grünem Rasen vorbei, der sanft gewellte Hügel bedeckt. Ein winziges Tal zwischen ihnen, das eigentlich nur als Tälchen bezeichnet werden kann, wird von einer filigranen, metallischen Brücke überspannt, die reiner Dekoration dient. Denn weder strömt Wasser unter ihr entlang noch ist der Talboden weiter als einen Meter von ihrem Steg entfernt. Hübsch sieht sie aber aus.
Auf der linken Seite begleitet der Erkelenzdamm den Parkstreifen. Die Hausnummern 59 und 61 gehören zu einem schönen Gebäude, an dem in goldfarbenen Lettern „Elisabeth-Hof“ steht. Zwei Toreinfahrten direkt nebeneinander führen hinein. Weil sie offenstehen, trete ich neugierig hindurch und gelange in einen kleinen sauberen Hof. Ein Brunnen erfüllt ihn mit seinem fröhlichen Plätschern und ist umgeben von üppigem Grün. An seinem Rande sitzt ein kleiner Froschkönig mit seiner goldenen Kugel. Zu den Seitenflügeln führen dunkelbraune Türen, die mit heraldischen Lilien verziert sind und von Supraporten gekrönt werden, die hier als halbkreisförmige Reliefs über dem Türsturz gestaltet sind. Das Quergebäude wird wiederum von zwei nebeneinanderliegenden Durchfahrten durchbrochen. An ihrem Ende liegt ein weiterer Hof, den ich aber nicht erreichen kann, weil die Durchfahrten mit Gittertoren verschlossen sind. Durch sie kann ich nur in ihn hineinblicken. Vor mir liegt der erste von drei Gewerbehöfen, die neben dem Wohnhof, den ich bereits durchschritten habe, zum Ensemble dieses Gebäudekomplexes gehören, der eine der größten Industrie- und Gewerbehofanlagen in Kreuzberg ist. Die Aufgänge in die Seiten- und Quergebäude sind hier als Portale bezeichnet und durchnumeriert. Über Portal I, das mir genau gegenüberliegt, befindet sich im ersten Stock eine Tafel in der Fassade, die an den Architekten dieser Anlage erinnert: Kurt Berndt. In der zweiten Etage ist eine Uhr in die Hauswand eingelassen, die links und rechts von den Worten „Die Stunde ruft – nütze die Zeit!“ begleitet wird. Da weiß man doch gleich, worum es geht. Hier wird gearbeitet! Müßiggang hat hier keinen Platz! Nun, das sehe ich zumindest für den heutigen Tag völlig anders. Und bevor noch jemand kommt und mich zur Arbeit ruft, verlasse ich lieber den Elisabeth-Hof und gehe zurück in die Parkanlage am Erkelenzdamm.
Es sind nur noch wenige Schritte auf dem ehemaligen Luisenstädtischen Kanal, da verbreitert sich der Park nach links und rechts, und vor mir schimmert Wasser zwischen den Bäumen und Büschen hindurch. Es ist der vom Landwehrkanal durchflossene Urbanhafen, wo einst der Luisenstädtische Kanal abzweigte. Am gegenüberliegenden Ufer befindet sich ebenfalls eine Grünanlage, die jedoch von einem dunkelgrauen und – man verzeihe mir die abwertende Beurteilung – häßlichen Betonklotz dominiert wird. Das Urbankrankenhaus ist wirklich kein schöner Bau, weswegen ich auch keine weiteren Worte darüber verlieren will und meine Aufmerksamkeit lieber dem Wasserbecken zuwende, an dessen Ufer sich Schwäne tummeln. Auf meiner Seite wird es von einer schönen Uferpromenade mit angeschlossenem Park gesäumt. Mein Weg biegt nun nach rechts ab und folgt ihr am Kanal entlang. Ich passiere malerische Trauerweiden, die ihre Zweige weit über die Wasserfläche hängen lassen. Ich liebe diese Bäume, die immer von einem Hauch Melancholie umgeben zu sein scheinen.
Der Park, der hier das Ufer begleitet, ist übrigens der Böcklerpark, der nach Hans Böckler, einem Politiker und Gewerkschaftsfunktionär benannt ist. Ich muß auch nicht lange warten, da begegne ich ihm höchstselbst – allerdings nur in Form einer Büste. Da habe ich schon fast die Prinzenstraße erreicht und damit auch das Ende des Urbanhafens. Der Grüne Hauptweg Nr. 19 wechselt hier das Ufer und überquert den Landwehrkanal über die Baerwaldbrücke. Schnell noch ein letzter Blick zurück auf den Urbanhafen und dann noch einer voraus, der mir den von grünen Ufern gesäumten Kanal präsentiert. Im Hintergrund erhebt sich der Turm der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche über den Baumwipfeln.
Am Carl-Herz-Ufer führt der Weg nun weiter den Kanal entlang. Das Kreuzberg, das ich hier durchwandere, wirkt ruhig und beschaulich. Die Häuser sind ebenso wie die Straßen sehr sauber und gepflegt. Mit dem oft assoziierten alternativen Kreuzberg um Oranienstraße und Kottbusser Tor hat dieses hier gar nichts gemein. Es wirkt vielmehr fast schon bürgerlich. Das unterstreicht auch das Haus, das ich an der Straßenecke Carl-Herz-Ufer / Tempelherrenstraße erreiche. Seine Fassade ist vollkommen instandgesetzt und renoviert und wirkt wie neu. Erst auf den zweiten Blick fällt mir auf, daß die einst reichlich vorhandenen Stuck- und Fassadenelemente nicht mehr alle vorhanden sind. Hier fehlt eine Fensterbekrönung, dort ein Stück der Rahmendekoration, und da ist nur noch ein halbes Stuckrelief vorhanden. Diese fragmentierte Fassade übt einen ganz eigenen Reiz aus, so wie antike Reste, gefunden bei einer Ausgrabung. Direkt unter dem Dach befindet sich die einzige Ausnahme. Den nur noch teilweise vorhandenen Stuckfries hat man mit Malereien ergänzt. Nun tummeln sich hier merkwürdig eckige Figuren, die ihren ganz eigenen Tanz aufzuführen scheinen.
Nur wenige Meter weiter meine ich dann plötzlich, mich irgendwo auf dem Lande zu befinden. Direkt am Ufer des Landwehrkanals steht inmitten hoher Bäume ein Fachwerkhaus. Auch wenn es sich älter macht als es ist – das Alte Zollhaus wurde erst 1901 als Depot für die Berliner Stadtreinigung erbaut und später als Kontrollstelle der Berliner Dampfschiffahrt genutzt -, so ist es doch ein sehr schöner und idyllischer Ort, was das darin heute beheimatete Restaurant nach Kräften unterstützt.
Immer weiter am Kanalufer entlang führt der Weg durch das Grün, bis die nebenherlaufende Brachvogelstraße – benannt nach dem Schriftsteller Albert Emil Brachvogel, dessen bekanntestes Werk der biografische Roman über Friedemann Bach ist – unvermittelt in einem Wendekreis endet. Der Weg führt ein paar Stufen hinauf durch ein Hecke – und ich stehe plötzlich am Rand einer vom Verkehr durchtosten Straße. Diese überquert über eine Brücke den Kanal, auf dessen anderer Seite sich ihm die Hochbahntrasse nähert, auf der quietschend eine U-Bahn vorbeirumpelt. Es hupt, es dröhnt, es brummt allerorten. Nach dem grünen Idyll am Kanalufer ist die Kreuzung aus Zossener und Lindenstraße mit der Gitschiner Straße ein kleiner Kulturschock.
An der naheliegenden Ampel geht es zuerst über die Zossener Straße und dann über die Waterloo-Ufer genannte Verkehrsader, so daß ich schnell wieder am Kanal stehe. Von hier aus offenbart ein Blick zurück wieder den Turm der Heilig-Kreuz-Kirche, die nun ganz nahe ist.
Zwischen Kanal und Straße wandere ich weiter bis zur nächsten Brücke. Diese trägt heute den Namen Hallesches-Tor-Brücke, war früher jedoch unter dem Namen Belle-Alliance-Brücke bekannt. Während eines kurzen Intermezzos von 1953 und 1974 führte sie auch den Namen Mehringbrücke. Zwei Skulpturen zieren das Ende des Kanalübergangs am Waterloo-Ufer, auf jeder Seite eine. Sie gehörten einst zu einem Figurenensemble von insgesamt vier Allegorien: der Flußschiffahrt, dem Fischfang, dem Gewerbefleiß und dem Fruchthandel. Nachdem zwei der Skulpturen dem Hochbahnbau weichen mußten und in der Folgezeit nach mehreren Umzügen verlorengingen, sind heute nur noch der Fischfang und die Flußschiffahrt hier zu betrachten.
Ein kurzer Abstecher zum nahegelegenen Mehringplatz, der einst der Belle-Alliance-Platz war, führt mich zu einer weiteren steinernen Figur. Sie wurde vom Bildhauer Albert Wolff geschaffen und trägt den Namen „Der Friede“, was der Palmzweig, den sie in der Hand hält, deutlich werden läßt. Die ihr zur Seite gestellte „Geschichtsschreibung“ ist gerade nicht zu sehen, denn sie umgibt ein blickdicht verplantes Baugerüst. Da sie auf diese Weise selbst auch nichts sehen kann, wird ihr Geschichtsbuch wohl einige Lücken aufweisen.
Dominiert wird der runde Platz jedoch von einer anderen Skulptur: der Viktoria, die in seinem Zentrum auf einer hohen Säule den Siegerkranz in die Höhe hält. Diese Friedenssäule wurde von Christian Gottlieb Cantian entworfen. Ganze 19 Meter ist sie hoch, was der obenstehenden, von Christian Daniel Rauch geschaffenen Viktoria einen schönen Rundblick über die Stadt verschaffen dürfte.
Auf dem Rückweg zum Landwehrkanal fällt der Eingang zum U-Bahnhof ins Auge, an dem in großen Lettern „BAHNHOF HALLESCHES TOR“ steht. Man muß jedoch nicht unter ihnen durch-, sondern den längeren Weg an ihnen vorbei gehen, um den Bahnhof zu erreichen. Weil es vermutlich deshalb immer einige Leute ziemlich eilig haben, die Straße zu überqueren – notfalls auch bei Rot anzeigender Ampel -, muß man als müßiger Stadtwanderer aufpassen, von ihnen nicht umgerannt zu werden.
Über die Hallesches-Tor-Brücke geht es zurück auf die andere Kanalseite und dann an diesem weiter in die vorherige Richtung. Die Straße trägt jetzt den Namen Tempelhofer Ufer. Ich bin nur wenige Meter gegangen, da fällt mir auf der anderen Straßenseite ein roter Ziegelbau ins Auge. Das alte Postamt SW 61 erinnert an den gotischen Baustil, ist aber viel jünger, denn es stammt vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Heute trägt es den Namen „Hallesches Haus“.
Ich überquere den Mehringdamm, der auf der anderen Kanalseite in die Wilhelmstraße übergeht, und wandere weiter – rechts von mir der Kanal, links die Straße. Dieser Abschnitt des Grünen Hauptwegs Nr. 19 ist wegen des vorbeibrausenden Verkehrs nicht mehr so idyllisch. Die Wegmarkierungen sind sich hier nicht so recht einig, wo der Weg nun eigentlich entlangführt, denn es gibt sie auf beiden Seiten des Landwehrkanals. Ich habe also die Wahl zwischen dem Tempelhofer oder dem Halleschen Ufer. Letzteres lockt mit einem von Büschen gesäumten Weg am Kanal, der direkt unter dem Hochbahnviadukt entlangführt, doch ich entscheide mich dennoch für das Tempelhofer Ufer. Als Berliner Stadtkind schreckt mich die Straße nicht, und diese Seite hat einiges mehr zu bieten, was sich anzusehen lohnt, auch wenn man es nur auf den zweiten oder gar dritten Blick entdeckt.
Um diesen zweiten oder dritten Blick riskieren zu können, muß man allerdings hin und wieder die Straße überqueren und einen Abstecher in manch offenstehende Toreinfahrt wagen. So entdecke ich in Hausnummer 10 einen eigentlich recht unspektakulären zweiten Hinterhof. Ein hoher Ziegelschornstein und ein Flachbau zwischen den umgebenden Häusern, wie er einer Werkstatt oder einer kleinen Manufaktur als Domizil dienen könnte – mehr scheint hier nicht zu sehen zu sein. Doch selbst hier hat man früher nicht auf schmückendes Beiwerk verzichtet. Der Eingang zu einem der Hinterhofhäuser ist über seiner Tür mit einem kleinen Relief verziert, das altes Handwerk darstellt.
Ein paar Hausnummern weiter – diesmal ist es Tempelhofer Ufer 15 – führt ein unscheinbarer Toreingang auf den großen Hof der Hector-Peterson-Schule. Der Namensgeber – eigentlich Hector Pieterson – war ein südafrikanischer Schüler, der im Alter von 12 Jahren während des Soweto-Aufstandes 1976 erschossen wurde. Als ich aus der Toreinfahrt heraustrete, erblicke ich vor und rechts von mir einen großen Bau, der irgendwie auf den ersten Blick als Schulbau erkennbar ist. Der Hof ist auf der linken Seite von hohen Bäumen bestanden, und auch in seiner Mitte grünt und blüht es. Dazwischen sind beim Bummel hindurch zahlreiche kleine und große Kunstwerke zu entdecken. Über den Eingangstüren zum Schulgebäude hat man kleine, runde, steinerne, an Medaillons erinnernde Plaketten angebracht, die Kinderfiguren zeigen. Alles in allem ein sehr verträumt wirkender Ort, der an Schultagen sicher einen anderen, weitaus lebhafteren Eindruck vermittelt.
Als ich ein Stück weiter den U-Bahnhof Möckernbrücke erreiche, fällt mir das Haus Tempelhofer Ufer 20 – wieder ein Bau mit schöner Ziegelfassade – auf. Die Fenster in der mir zugewandten Seitenwand des Hauses erkenne ich erst auf den zweiten Blick als aufgemalt. Sie scheinen sich auf einem Vorhang zu befinden, der die halbe Hauswand bedeckt und gerade herübergezogen wird. Die andere Hälfte gibt einen vom Vorhang teilweise noch verdeckten, ebenfalls gemalten Baum zur Ansicht frei. Dieses 1981 von Irene Niepel geschaffene Wandbild ist ein schönes Kunstwerk mitten im städtischen Raum. Leider ist es am unteren Ende von den Händen geistloser Narren mit stumpfsinnigen Graffiti beschmiert worden.
Weiter führt der Grüne Hauptweg Nr. 19 am Landwehrkanal entlang und erreicht schließlich die Anhalter Brücke. Einst befand sich an dieser Stelle eine Brücke der Berlin-Anhaltinischen Eisenbahn, über die die Zufahrtstrecke zum alten Anhalter Bahnhof führte. Die heutige Fußgängerbrücke, an der die Schriftzüge „BERLIN“ und „ANHALT“ an die alte Eisenbahnstrecke erinnern, wurde 2001 fertiggestellt. Das Viadukt der Hochbahn, das hier den Landwehrkanal verläßt, überquert an dieser Stelle Kanal und Anhalter Brücke gleichzeitig, was einen imposanten Anblick bietet.
Mein Weg führt nun am Deutschen Technikmuseum vorbei, was mir Gelegenheit gibt, den über dem Gebäude schwebenden Rosinenbomber zu bestaunen. Ich mache mir im Geiste eine Notiz, diesem Museum auch bald mal wieder einen Besuch abzustatten. Mit dem Kanal unterquere ich das Hochbahnviadukt, das hier direkt auf das BVG-Haus am Tempelhofer Ufer zuführt. Bis zum Zweiten Weltkrieg ist die U-Bahn hier wirklich durch ein Haus hindurchgefahren. Dann wurde es jedoch zerstört. Der heutige Neubau erinnert mit dem über der Strecke schwebenden BVG-Logo nur noch vage daran.
Nachdem die Hochbahn vom Kanal verschwunden ist, wird er nun beidseitig von Bäumen gesäumt, was ihm gleich ein viel grüneres Antlitz verleiht, obwohl ihn immer noch Straßen begleiten. Die auf meiner Seite wechselt alsbald ihren Namen in Schöneberger Ufer. Auf der anderen Seite ist ein alter Ziegelbau mit einem langen Schornstein zu sehen. Dieses alte Pumpwerk am Halleschen Ufer steht unter Denkmalschutz. Es diente von 1978 an als Lapidarium, in dem alte steinerne Denk- und Standmale bewahrt wurden, ist aber seit 2010 geschlossen und öffentlich nicht mehr zugänglich.
Auf meiner Seite des Kanals passiere ich derweil einen prachtvollen Klinkerbau mit zwei runden Ecktürmen. Dieses ehemalige Dienstgebäude der Königlichen Eisenbahndirektion Berlin, das Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde, beherbergt heute die Bundespolizei. An seine Eisenbahnzeit erinnert noch das Flügelrad über dem Haupteingang im Mittelbau.
Nur wenige Schritte weiter unterquere ich schon wieder ein Hochbahnviadukt. Hier überquert die U-Bahnlinie U2 den Kanal und strebt linker Hand dem Gleisdreieck entgegen. Den Eingang zum Park am Gleisdreieck passiere ich hinter dem architektonisch wenig ansprechenden Parkhaus, dessen Einfahrt überdimensionierte steinerne Rosen zieren, die beweisen, daß übermäßige Vergrößerung auch wunderschöne Dinge in Monstrositäten verwandeln kann.
Gegenüber ragen hinter dem Landwehrkanal die Bauten der ehemaligen Daimler-City auf, die bis zum Potsdamer Platz reichen. Der Grüne Hauptweg Nr. 19 wendet sich jedoch von ihnen ab und führt in den kleinen Park am Karlsbad hinein, eine mir sehr willkommene grüne Oase nach dem langen Marsch direkt an der Straße. Im 19. Jahrhundert befand sich hier ein Kurbad, das den Namen „Auf dem Karlsbade“ trug. Später errichtete man hier Wohnhäuser, die jedoch im Zweiten Weltkrieg ihr Ende fanden. 1950 entstand dann der Park, den ich, nachdem ich die als „Schreitender“ bezeichnete Skulptur von Hans Haffenrichter passiert habe, wieder verlasse.
Hier kreuzt der Landwehrkanal die Potsdamer Straße, die ich nun überquere. Auf dem Mittelstreifen nehme ich mir kurz die Zeit, das von Gerhard Rommel geschaffene Denkmal für den „Eisernen Gustav“ zu betrachten. Ein Blick in die andere Richtung präsentiert mir die Staatsbibliothek zu Berlin und das Kulturforum. Das markante Dach des Sony-Centers grüßt herüber. Am Kanal steigt der Weg eine steile Treppe hinab, an deren Fuß er dann eher an einen Trampelpfad erinnert. Das ist jedoch nur kurz der Fall, denn schon nähert sich von links wieder die Straße und der Pfad wird breiter. Unter Bäumen geht es nun am Ufer weiter.
Auf der anderen Seite trägt die Straße mittlerweile den Namen Reichpietschufer, und dort kommt jetzt das von August Busse entworfene Gebäude in Sicht, das einst der Sitz des Reichsversicherungsamtes war. Ende des 19. Jahrhunderts wurde es errichtet und hat die Zeiten und zwei Weltkriege überstanden. Der sogenannten modernen Überformung durch den britischen Architekten James Stirling, die lediglich die kanalseitige Fassade übrigließ, hatte es dann jedoch nichts mehr entgegenzusetzen. Heute ist hier das Wissenschaftszentrum Berlin untergebracht.
Am Schöneberger Ufer, an dem ich immer noch entlangwandere, passiere ich einen Hauseingang, an dem eine Berliner Gedenktafel an den Kunsthändler Ferdinand Möller erinnert, der hier einst seine Galerie hatte und, obwohl von den Faschisten mit der Verwertung der im Rahmen der Verfolgungsaktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmten Kunstwerke beauftragt, viele von ihnen vor der Vernichtung bewahrte.
Hinter der Bendlerbrücke rückt nun auf der gegenüberliegenden Kanalseite das gleichnamige Gebäude ins Blickfeld – der Bendlerblock. Er diente einst dem Reichsmarineamt als Sitz und beherbergt heute das Bundesministerium für Verteidigung. Bekannt ist er auch, weil sich hier die Gedenkstätte Deutscher Widerstand befindet.
Die nächste Brücke ist ein kleiner Steg, der Fußgängern vorbehalten ist und den Namen Hiroshimasteg trägt. Der Grüne Hauptweg Nr. 19 überquert auf ihm den Landwehrkanal und führt dann auf dem Herkulesweg durch einen kleinen Parkstreifen. Hier in der Galandrellianlage bemerke ich auf einer Wiese einen etwa mittelgroßen Hund, der jedoch schon von weitem etwas merkwürdig anmutet. Als ich näherkomme, erkenne ich den Grund – ich habe etwas vor mir, was man in Berlin nicht alle Tage sieht: ein Schwein. Sein Besitzer führt es aus wie einen der bellenden Vierbeiner, die man sonst in Berlins Grünanlagen anzutreffen gewohnt ist. Man könnte also sagen, es handelt sich um einen echten Schweinehund.
Am Ende des Parkstreifens trifft der Weg auf eine Mauer, an der er nun entlangführt. Hinter ihr steht ein weißer villenartiger Bau, den ich genauer betrachten kann, als ich ihn passiert habe. Die Villa von der Heydt ist eine der ältesten und heute die einzige erhaltene freistehende Villa, die von der einstigen Villenbebauung des großen Tiergartenviertels aus dem 19. Jahrhundert noch erhalten ist. Direkt an sie an schließt sich das Bauhaus-Archiv, ein Museum, das Arbeiten, Dokumente und Literatur, die in Zusammenhang mit dem Bauhaus stehen, sammelt und präsentiert.
Die Corneliusstraße, auf der es nun weitergeht, gibt mir mit ihrem Namen schon einen Hinweis. Und richtig, an der nächsten Brücke habe ich ihn erreicht – den Endpunkt meiner Wanderung. Ich bin dort angekommen, wo ich vor vier Etappen begonnen habe: an der Corneliusbrücke. Der Rundkurs des Grünen Hauptwegs Nr. 19 ist vollendet – ein Rundkurs um Berlins Zentrum, auf grünen Wegen und doch mitten in der Stadt. Schön war’s.
Seit der letzten Etappe ist eine kleine Weile ins Land gegangen, und so ist es nun endlich an der Zeit, meine Wanderung auf dem Grünen Hauptweg Nr. 19 fortsetzen. Und auch wenn das Wetter heute etwas durchwachsen ist und immer wieder kleine Regenschauer niedergehen, soll mich das nicht an meinem Vorhaben hindern.
Startpunkt ist wiederum der Endpunkt der letzten Stadtwanderung. Von der Kulturbrauerei, dort, wo die U-Bahn in der Schönhauser Allee ans Tageslicht tritt und auf ihr Viadukt hinauffährt, geht es nun ein Stück die Sredzki-Straße entlang, begleitet von den Ziegelmauern der Bauten der ehemaligen Schultheiß-Brauerei. Schon an der nächsten Straßenecke wechselt der Weg die Richtung und folgt nun der Knaackstraße. Beide Straßen erinnern an deutsche Kommunisten – Siegmund Sredzki und Ernst Knaack -, die aktiv gegen den deutschen Faschismus gekämpft hatten und ihm im Jahre 1944 zum Opfer fielen. Mein Weg führt mich an der Grundschule am Kollwitzplatz vorbei, auf deren Gelände eine von Heinz Worner geschaffene Stele mit dem Titel „Traditionen der deutschen Arbeiterklasse“ auch an diese beiden Widerstandskämpfer erinnert.
Wenige Schritte weiter erreiche ich mit dem Kollwitzplatz die erste grüne Oase, die die heutige Etappe des Grünen Hauptwegs Nr. 19 heute für mich bereithält. Ich mache einen kurzen Abstecher in den kleinen Park und zum Denkmal für Käthe Kollwitz, das vom Bildhauer Gustav Seitz geschaffen wurde. Auf der von der Knaackstraße gebildeten Platzseite passiere ich ein kleines unscheinbares Metalltor, in dem unter den zahlreichen, es verunstaltenden Graffitis die darin eingelassenen beiden Davidsterne kaum noch auffallen. Sie bilden Gucklöcher in den geschlossenen Torflügeln, und ein Blick hindurch lohnt durchaus. Er fällt auf einen grasbewachsenen Weg, der zunächst zwischen den Hauswänden hindurchführt und dann auf der rechten Seite von einer Mauer begleitet wird. Ich blicke auf den sogenannten Judengang, der hinter dem jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee verläuft, einst eine rituelle Funktion besaß und heute eines der wenigen erhaltenen Beispiele eines jüdischen Begräbnisganges ist.
An der Ecke Knaackstraße und Kollwitzstraße steht ein unscheinbarer Neubau, der nicht weiter auffällt. Eine Tafel daran belehrt mich, daß hier in der ehemaligen Weißenburger Straße einst das Haus stand, in dem Käthe Kollwitz nach der Heirat mit ihrem Mann Karl Kollwitz wohnte.
Der Weg Nr. 19 verläßt hier den Kollwitzplatz, folgt noch ein Stück der Knaackstraße und erreicht am Wasserturm die nächste grüne Oase. Er biegt in die Diedenhofer Straße ein, wo er um den kleinen Park herumführt. Ein kleiner Abstecher in die Grünanlage lohnt sich auf jeden Fall. Steigt man auf den kleinen Hügel, unter dem sich die Gewölbe der Wasserspeicher befinden, hat man einen schönen Blick über die Stadt und kann sich den behäbigen Wasserturm und den schmalen Steigturm aus der Nähe besehen.
Von hier aus geht es weiter durch die Belforter Straße. Nummer 24 gehört zum Hotel Ackselhaus. Weil die Toreinfahrt gerade offensteht, trete ich hinein und finde mich in einem schön gestalteten Hauseingang wieder. Ein Sofa lädt zum Verweilen ein, an den Wänden hängen kleine Kunstwerke, die Decke ist mit Stuck versehen und gibt vor, der auf sie aufgetragenen Farbe Lebewohl zu sagen. Ein Kronleuchter spendet Licht. Eine Tür öffnet sich zu einem schön gestalteten Innenhof mit einem Wasserbecken, in dem sich Fische tummeln. Ein Hort der Ruhe und Entspannung. Lediglich die an zwischen den Hauswänden gespannten Schnüren aufgehängten riesigen rosafarbenen aufgeblasenen Kraniche wirken fehl am Platze und übermäßig kitschig.
Wenige Meter weiter quert der Grüne Hauptweg die Prenzlauer Allee. Links die Straße hinauf grüßt der Turm der Immanuelkirche herüber, blickt man nach rechts, tun Fernsehturm und das Park-Inn-Hotel am Alexanderplatz es ihm nach. Weiter geht es nun durch die Heinrich-Roller-Straße. Rechter Hand wird sie alsbald von einer Ziegelmauer begleitet. Ein Toreingang steht offen und gibt den Weg hindurch frei. Ich stehe in einer kleinen Parkanlage, die den Namen Leise-Park trägt. Einst gehörte das Areal zum Friedhof St. Marien und St. Nicolai, wurde jedoch schon seit 1970 nicht mehr für Bestattungen genutzt. Den Namen hat man dem Park tatsächlich verliehen, um Besucher darauf hinzuweisen, leise zu sein. Das ist auch mehr als angemessen, nicht nur, weil die kleine Grünanlage, auf die ich hier unverhofft getroffen bin, ein Ort der Erholung sein soll, sondern auch, weil sich einige der Grabanlagen hier noch erhalten haben. Vom breiten Hauptweg zweigen links und rechts kleine Pfade ab, die von ihm weg in den Park hinein und verschlungen durch’s Gezweig wieder zu ihm zurückführen. Bänke mitten im Grün laden zum Verweilen ein und über allem liegt eine Ruhe, wie man sie hier inmitten der Stadt gar nicht vermuten würde. Ein wirklich schönes Erholungsareal, das hinter der alten Friedhofsmauer darauf wartet, entdeckt zu werden.
Ich passiere die Winsstraße. Weicht man hier vom Grünen Hauptweg Nr. 19 für einen kurzen Ausflug ab und folgt ihr ein Stück, gelangt man zum Haus Nummer 63. Hier erinnert eine Berliner Gedenktafel an den Rundfunk- und Fernsehmoderator Hans Rosenthal, der einst hier wohnte. Von den Faschisten verfolgt und zur Zwangsarbeit verurteilt, überlebte er mit Glück und Hilfe den Holocaust. In der Nachkriegszeit wurde er einer der beliebtesten Showmaster im Fernsehen. Seine Sendung „Dalli Dalli“ und sein Ausruf „Das war Spitze!“ gehören heute gewissermaßen zum Allgemeingut.
Zurück in der Heinrich-Roller-Straße folge ich ihr, bis sie die Greifswalder Straße erreicht. Hier biegt der Weg nach rechts ab und führt kurz darauf an eine große Kreuzung. Hier stand einst das zweite Königstor, das Eingang durch die Akzisemauer gewährte. Als es schon nicht mehr stand, gab man dem Platz den Namen „Platz am Königstor“, den er heute allerdings nicht mehr trägt.
Den Prenzlauer Berg nun verlassend, überquert der Grüne Hauptweg Nr. 19 die hier beginnende Greifswalder Straße, und ich tue es ihm gleich. Eine weitere Straßenüberquerung später stehe ich auf der anderen Seite der Straße „Am Friedrichshain“ und am Eingang des Volksparks, der einem ganzen Stadtbezirk seinen Namen gibt. Durch ein Eingangstor, das von zwei kleinen Putten flankiert wird, führt der Weg in den Park hinein und direkt auf Berlins möglicherweise bekanntesten Brunnen zu: den Märchenbrunnen. Eine terrassenartig angelegte Wasserkaskade mit kleinen Fontänen, wasserspeienden Fröschen und einer Arkade am hinteren Ende bilden das schöne Ensemble, das von zahlreichen, Figuren aus den Grimmschen Märchen darstellenden Statuen eingerahmt wird. Aschenputtel, Dornröschen, Hans im Glück, Hänsel und Gretel – alle sind sie da. Ein Ort, der zum Verweilen einlädt – und diese Einladung nehme ich gerne an.
Als ich weiterwandere, führt der Weg durch die Arkade und an einer weiteren Fontäne im Park dahinter vorbei. Das gesamte Areal ist von einem Zaun eingefaßt, der es vom eigentlichen Volkspark trennt. Durch ein weiteres Tor führt der Weg zunächst in diesen hinein, biegt jedoch gleich nach rechts ab und wendet sich der Friedenstraße zu, die er kurz darauf erreicht. Hier passiert er das Denkmal für die Interbrigadisten, die den spanischen Freiheitskampf gegen General Franco zwischen 1936 und 1939 unterstützten.
Am Platz der Vereinten Nationen verläßt der Weg den Park und überquert den Platz. Ein einsetzender Nieselregen erzwingt eine kurze Unterbrechung der Wanderung, geht aber glücklicherweise schnell vorüber. Ein Springbrunnen, der jedoch gerade pausiert und sich daher lediglich als etwas willkürliche Ansammlung großer Steine präsentiert, befindet sich dort, wo sich einst das große Lenindenkmal von Nikolai Tomski erhob, das man 1991 gegen den Widerstand der Anwohner abriß.
Durch die grüne Lichtenberger Straße führt der Weg nun zum Strausberger Platz. Der in seiner Mitte stehende Brunnen, den der Kunstschmied Fritz Kühn und der Architekt Heinz Graffunder gestalteten, ist in Betrieb und seine Fontäne verleiht dem Platz ein würdiges Zentrum. Die Biermeile, die an diesem Wochenende gerade stattfindet und allerlei am Gerstensaft interessiertes, lautstarkes Volk anzieht, ignoriere ich nach Kräften und überquere schnell die Karl-Marx-Allee. Ihr Namensgeber hatte mehr Glück als Lenin, denn seine vom Bildhauer Will Lammert geschaffene Büste steht noch und ist mir natürlich einen eingehenderen Blick wert.
Anschließend führt der Weg weiter die Lichtenberger Straße entlang. Sie ist eine sehr grüne Verkehrsader, verfügt sie doch über einen breiten, rasenbewachsenen und baumbestandenen Mittelstreifen, den an ihren Rändern weitere Grünstreifen mit teils recht hohen Bäumen ergänzen. Überhaupt ist das Stadtviertel, das sie durchquert und das von zahlreichen Plattenbauten gebildet wird, durch seine mit vielem Grün gefüllte Weitläufigkeit ein schöner Ort zum Wohnen. Es ist lohnend, sich die Zeit zu nehmen und einmal links oder rechts des Weges durch die Wohnanlagen zu pilgern.
Hinter der Holzmarktstraße unterquert der Grüne Hauptweg Nr. 19 das Viadukt der Stadtbahn und erreicht wieder die Spree, die er über die Michaelbrücke überwindet. Auf der anderen Seite folgt ein kurzer Abschnitt, der nur wenig für’s Auge bietet. Rechter Hand erstreckt sich der Zaun, hinter dem das Heizkraftwerk Mitte seine Anlagen sortiert hat, linker Hand stehen vergleichsweise langweilige Geschäftshäuser. Wenn man jedoch auf seinen Weg und seine Umgebung achtet, kann man selbst hier etwas entdecken. Etwa in der Mitte der Strecke bis zur nächsten Querstraße sind direkt vor dem Zaun des Kraftwerks drei Stolpersteine in den Gehweg eingelassen. Sie erinnern an von den Faschisten verschleppte und ermordete jüdische Bürger der Stadt, die in den zu jener Zeit hier noch stehenden Wohnhäusern lebten. Die Inschriften sind jedoch kaum noch zu erkennen. Straßendreck deckt sie nahezu völlig zu. Mit einem kleinen Feuchttuch ist der jedoch leicht zu beseitigen, so daß die Steine kurze Zeit später ihre Botschaft der Mahnung wieder weitergeben können.
Der Weg führt die Michaelstraße weiter, quert die Köpenicker Straße und läuft nun direkt auf einen großen Kirchenbau zu. Als er den Michaelkirchplatz erreicht, gabelt sich die Straße um einen grünen, baumbestandenen Platz, in dessen Mitte sich besagte Kirche erhebt. Sie trägt – die Bezeichnung des Platzes läßt es bereits ahnen – den Namen Sankt-Michael-Kirche. Als ich um sie herumgehe, wird deutlich, daß sie eine Ruine ist, die nur teilweise wieder aufgebaut wurde. Der Zweite Weltkrieg hat sie ebensowenig verschont wie den Rest der alten Luisenstadt, wie dieses Stadtviertel einst hieß. Der von den Bomben der Alliierten entfachte Feuersturm – der einzige, den es in Berlin gab – hat hier nahezu keinen Stein auf dem anderen gelassen.
Rings um die Kirche zieht sich eine kleine Parkanlage. Das Kirchenschiff selbst ist nicht mehr vorhanden. Nur noch Teile der Außenmauern markieren, wo es sich befand, das Dach ist verschwunden. Ganz oben auf der Frontseite der Kirche steht allerdings noch die Statue des Heiligen Michael, die von August Kiß geschaffen wurde.
Vor der Kirche erstreckt sich eine Wasserfläche. Das Engelbecken ist das letzte Überbleibsel des ehemaligen Luisenstädtischen Kanals, der einst Landwehrkanal und Spree verband. Hier am Engelbecken knickte der Kanal, von Süden vom Landwehrkanal her kommend in einem Winkel von neunzig Grad nach Osten ab. Sein Verlauf ist auch heute noch gut zu erkennen, denn als man den Kanal 1926 zuschüttete, legte man an seiner Statt eine Grünanlage an. Dieser folgt der Weg nun nach Süden – so wie ich auch nach einer kurzen Rast im Café am Engelbecken.
Unter dicht bewachsenen Laubengängen, in die kaum ein Sonnenstrahl einzudringen vermag, geht es in einen kleinen Rosengarten hinein und dann weiter im tieferliegenden ehemaligen Bett des Kanals zwischen Ufermauern entlang. In der Mitte steht ein kleiner indischer Brunnen, ein von kleinen Frauenfiguren und Löwenköpfen gebildetes kegelförmiges Gebilde, auf dessen Spitze eine größere Frauenfigur sitzt.
Der Weg führt unter einer Brücke hindurch, über die die Waldemarstraße den alten Kanal überquert. Am Legiendamm rechts ist ein kleiner Ziegelbau zu erkennen. Das darin untergebrachte Restaurant trägt den Namen „Zur kleinen Markthalle“. Es ist ein Überbleibsel der alten Markthalle VII, die sich einst hier befand und bis zur nahegelegenen Dresdner Straße erstreckte, an der man noch heute den alten Haupteingang der Markthalle findet.
Hinter der Brücke steigt der Weg langsam an und die alten Ufermauern verschwinden. Hier ist der alte Kanal vollständig zugeschüttet worden, so daß ich nun auf einer Art Mittelstreifen zwischen zwei Straßen, dem Legien- und dem Leuschnerdamm weiterwandere. Zwei Büsten links und rechts erinnern an die Namensgeber der beiden Straßen, die Gewerkschaftsführer Karl Legien und Wilhelm Leuschner.
Kurz darauf erreicht der Weg den Oranienplatz, das einstige Zentrum der Luisenstadt. Ein etwas merkwürdig anmutender Brunnen will zunächst passiert werden, bevor die Oranienstraße in der Platzmitte überquert werden kann. Auf der anderen Seite setzt sich die aus dem ehemaligen Kanal hervorgegangene Parkanlage fort. Auf der linken Platzseite steht an der Ecke zur Oranienstraße ein Bau, der auf den ersten Blick als ehemaliges Warenhaus zu erkennen ist. Hier war einst das Kaufhaus Brenninkmeyer untergebracht. Auch wenn in diesem Haus heute keine Waren mehr feilgeboten werden – die Kaufhauskette gibt es noch. Sie heißt heute C & A. Links auf der gegenüberliegenden Platzseite prangt an einem Gebäude der Schriftzug „Oranien-Apotheke“. Nun, die Apotheke ist auch nicht mehr existent. 1860 wurde sie eröffnet. Das alte Apothekenmobiliar kann man heute noch betrachten – das nun hier befindliche Café hat sie weitestgehend erhalten.
Als ich in die hinter dem Platz sich fortsetzende Parkanlage eintrete, fällt mir an dem Gebäude rechts der daran angebrachte Name „Max-Taut-Haus“ auf. Das Gebäude wurde vom namensgebenden Architekten als Warenhaus der Konsumgenossenschaften entworfen.
Der Weg führt jetzt weiter durch den Park auf dem ehemaligen Luisenstädtischen Kanal. Er wirkt nun etwas ungepflegter, ist oft sandig und wegen des Regens der vergangenen Tage auch matschig. Ein Zaun umschließt eine Baustelle, an der niemand arbeitet – ein Umstand, der auf viele Baustellen in Berlin zutrifft. Dann läuft der Weg direkt auf einen Zaun zu, in dem sich ein Tor befindet. Dieses steht zwar offen, doch erstreckt sich dahinter nur ein Verkehrsgarten. Es ist wenig wahrscheinlich, daß der Wanderweg da hineinführt. Und richtig, an einem der zahlreichen Bäume findet sich ein Wanderzeichen, das mich anweist, um die Anlage herumzulaufen.
Noch bevor ich das tun kann, höre ich lautes Rumpeln und Quietschen. Irgendwo fährt langsam ein Zug vorüber. Als ich unter den Bäumen hervortrete, sehe ich die Quelle: das Hochbahn-Viadukt in der Skalitzer Straße. Ich stehe am Wassertorplatz. An einem Hochbahnviadukt habe ich die heutige Etappe begonnen. Und an einem Hochbahnviadukt beende ich sie auch. Dazwischen lag ein Weg voller grüner Oasen im Herzen der Stadt.
“Eine Durchsage für die Fahrgäste an Gleis 2! Der ICE nach Berlin Ostbahnhof hat heute 15 Minuten Verspätung! Grund ist…”
Ich höre gar nicht so genau hin. Entspannt sitze ich auf einer Bank auf dem Bahnsteig und warte auf meinen Zug. Draußen vor der Bahnhofshalle ragt der Kölner Dom in den grauen Himmel, aus dem gerade ein sommerlicher Regen herniederfällt. Auch er kann mich nicht aus der Ruhe bringen, denn das Dach der weit geschwungenen Bahnhofshalle hält ihn von mir fern. 15 Minuten. Was ist das schon. Ich hab’s nicht eilig.
Ich bin auf der Rückfahrt von Bonn nach Berlin, von der ich den kleineren Teil, die Fahrt von Bonn nach Köln, schon absolviert habe. Hinter mir liegen vier phantastisch schöne Tage. Vier Tage, die ich in anderen Welten verbracht habe. Vier Tage, die ich jetzt schon vermisse, während ich auf dieser Bank auf dem Bahnsteig am Gleis 2 sitze. Vorbei ist sie, die 26. FedCon, und der Con-Blues hat mich voll im Griff.
Doch viel Zeit bleibt mir glücklicherweise nicht, um ihm nachzugeben. Die angekündigten 15 Minuten Verspätung sind noch nicht vorbei, da fährt er ein – mein Zug. Ich steige ein, suche und finde meinen Platz, wuchte meinen Koffer hoch in die Gepäckablage und richte mich ein. Es dauert nicht lang und der Zug rollt an. Langsam gleitet vor dem Fenster der Bahnhof vorbei, der Dom, dann die große Brücke über den Rhein. Wieder beginnt es zu regnen, draußen ist alles grau. Passendes Wetter für einen Abschied. Und ich denke zurück…
Tag 1
(1. Juni 2017)
Es ist der Tag vor der Con. Anreisetag. Ich steige am Berliner Hauptbahnhof in den Zug, der mich auf die Minute pünktlich in Köln abliefert. Sieben Minuten habe ich zum Umsteigen. Fast zu wenig, denn ich stehe am Anfang eines Bahnsteigs, der voller Menschen ist. Und der nächste Abgang ist irgendwo in der Bahnsteigmitte. Dann mal los. Links, rechts, links, rechts – ich schlängle mich durch die Menschen, die alle viel mehr Zeit zu haben scheinen als ich. Hoffentlich bleibe ich mit meinem Koffer nicht irgendwo hängen. Da, endlich, die Treppe. Runter, links rum und die nächste Treppe wieder hoch. Der nächste Zug geht glücklicherweise gleich vom Nachbarbahnsteig. Auch hier ist die Treppe voller Leute. Als ich endlich oben ankomme, kommt der einfahrende Zug gerade zum Stehen. Ich steige erstmal irgendwo ein, und kurz darauf rollen wir auch schon los. Puh, das war knapp.
17 Minuten später bin ich schon in Bonn. Ich steige aus und mache mich auf den Weg zur U-Bahn. Oder Straßenbahn. Das ist hier alles eins. Als ich da ankomme, steht sie schon da. Na, das klappt ja heute alles wie am Schnürchen. Ein gutes Omen, denke ich. Kurz darauf bin ich dann am Ziel: im Bonner Maritim-Hotel. Hier findet sie statt, die Con. Und hier wohne ich auch.
Als ich an der Rezeption einchecke, betritt eine Frau mit einem kecken Hütchen auf dem Kopf die Hotellobby. Sie wird lautstark von einer Gruppe Leute, die in ein paar Sesseln sitzen, begrüßt. Ich schaue zu ihr hin und erkenne sie sofort: Chase Masterson ist da! Jeder Star-Trek-Fan kennt sie als Leeta aus der Fernsehserie “Star Trek: Deep Space Nine”. Sie ist in diesem – genauso wie im vergangenen – Jahr die Mistress of Ceremonies der FedCon. Sie hier zu sehen, versetzt mich gleich in Con-Stimmung. Fast hätte ich die Aufforderung des Rezeptionisten überhört, der noch etwas Geld von mir will – für irgendeine Gebühr, die die Stadt Bonn Hotelgästen abverlangt. Echt jetzt? Hm. Ach was soll’s. Ich laß mir die Laune nicht verderben. Er kriegt seinen Obulus, ich meine Schlüsselkarte – und wenig später bin ich in meinem Zimmer im ersten Stock.
Einen ausgepackten Koffer später bin ich wieder unterwegs nach unten. Den verbleibenden Spätnachmittag und Abend will ich noch für einen kurzen Abstecher in die Bonner Innenstadt nutzen. Ein kleiner Bummel durch die ausgedehnte Fußgängerzone des Zentrums, vorbei am Beethovenhaus, ein Spaziergang über den Rhein und schließlich ein gemütliches Abendessen in einem Restaurant, das “Im Stiefel” heißt, beschließen diesen Tag. Auf dem Rückweg ins Hotel grüble ich darüber nach, ob ein solcher Name für ein Restaurant, das auch Steaks serviert, wirklich so glücklich gewählt ist… Obwohl das Steak in Ordnung war.
Tag 2
(2. Juni 2017)
Weil die Con erst mittags losgeht, schlafe ich aus. Urlaub ist doch was Schönes. Frühstücken und ein kleiner Einkauf bestreiten den Vormittag. Getränke gibt’s zwar auch im Hotel, aber die Preise sind reine Phantasie, also astronomisch hoch. Da hole ich mir doch lieber Wasser im Supermarkt. Den finde ich im Ortszentrum von Bad Godesberg, das nicht sehr weit entfernt ist.
Am Mittag bin ich dann wieder zurück im Hotel. Zuerst muß das Wichtigste erledigt werden: die Anmeldung. Anstehen muß ich dafür glücklicherweise nicht – für Goldtickets gibt es einen Extratisch. In diesem Jahr scheinen allerdings nicht soviele verkauft worden zu sein wie sonst, denn ein handgemaltes Plakat verkündet in großen Buchstaben, daß noch welche verfügbar seien. Das ist neu – zumindest habe ich Vergleichbares in den Jahren zuvor nie bemerkt. Vielleicht ist die Schmerz- bzw. obere Preisgrenze für diese Tickets, die in den letzten zehn Jahren immer wieder einmal teurer geworden sind und mittlerweile bei 700 Euro liegen, wenn man sie gleich auf der Con für das nächste Jahr kauft, nun erreicht. Für den Preis gibt es zwar einen Platz in den ersten Reihen vor der Bühne – zumindest im Hauptsaal – und von jedem anwesenden Star ein Autogramm, aber trotzdem will das Geld dafür erst einmal aufgebracht werden.
Wie dem auch sei – ich zeige mein Ticket vor, bekomme meinen Con-Ausweis und mein obligatorisches Armbändchen, das ich die nächsten Tag nicht mehr ablegen darf, sowie eine Tasche mit allerlei Zeug darin. Das meiste ist nur Werbematerial. Ich behalte nur das Con-Programmheft und den Doctor-Who-Comic. Als Goldticket-Inhaber darf ich mir am Merchandise-Stand noch eine Tasse und ein T-Shirt aussuchen und ohne weitere Kosten mitnehmen. So kommt ein Star-Trek-T-Shirt in meinen Besitz, auch wenn mir eines der diesjährigen FedCon lieber gewesen wäre. Aber das scheint es nicht zu geben – jedenfalls finde ich keines. Ist wohl der Star-Trek-Merchandise-Lizenz zum Opfer gefallen, die die FedCon seit vergangenem Jahr hat. Irgendwie schade.
Dann schaue ich mich auf dem Con-Gelände um. Im Händler-Raum gibt’s wohl alles, was das Fanherz begehrt. Und noch mehr. Bücher, Comics, Filme. Stapelweise Autogrammfotos, mit und ohne Autogramme. Hunderte von T-Shirts, dazu Action-Figuren, Sammelkarten, Poster, Modelle von Raumschiffen, Hüte, Brillen, Kostüme – und natürlich auch jede Menge Klimbim. Sich hier zu fragen, wer das denn alles kauft und warum, ist müßig. Hier laufen jede Menge Fans herum, hier findet alles dankbare und vor allem glückliche Abnehmer. Auch einschlägige Verlage, Fernsehsender, Filmstudios und -vertreiber präsentieren sich und ihr Programm. Ein Paradies für Science-Fiction-Fans aller Art.
Was mich jedoch noch mehr interessiert, sind die Panels der anwesenden Schauspieler. Die Gründe, eine Convention wie die FedCon zu besuchen, sind vielfältig. Vielfach wird gesagt, den meisten Spaß an der Con mache es, andere Fans zu treffen, sein Fan-Sein auszuleben, Cosplay zu praktizieren, andere Leute kennenzulernen. Und natürlich Party zu machen. Nun, das mag für viele zutreffen. Meine Motivation ist eine andere. Für mich ist das Interessanteste an einer Con tatsächlich die Möglichkeit, die Stars zu treffen, sie live auf der Bühne zu sehen, ihnen zuzuhören, wenn sie von den Dreharbeiten, ihren Projekten erzählen, und so vieles rund um meine Lieblingsfilme, -serien und -stars zu erfahren – aus erster Hand sozusagen. Und natürlich werde ich dabei oft auch bestens unterhalten, denn unter den Schauspielern sind stets einige, an denen Komiker verloren gegangen sind. Das leben sie dann auf Conventions wie dieser aus.
Für all das nehme ich gerne die Reise in Kauf, dafür zahle ich gerne auch die nicht ganz kleinen Ticketkosten. Wo komme ich schon dazu, soviele Stars an einem Ort auf einmal zu treffen? Und meiner Autogramm-Sammelleidenschaft kann ich dabei auch noch nachgehen. Wenn es sich dann nebenbei ergibt, daß ich noch interessante Leute treffe – um so besser. Party und feuchtfröhliche Feiern bis tief in die Nacht – ach, die waren meine Sache noch nie. Und sind es auch hier eher nicht.
Und so finde ich mich alsbald im Hauptsaal ein, in dem die Panels der Stars stattfinden. An diesem ersten Tag höre ich zunächst Sasha Roiz zu, den ich aus der Serie “Grimm” kenne, dem anschließend Marina Sirtis aus “Star Trek: The Next Generation” folgt. Wer sie noch nicht auf einer Con erlebt hat, dem ist bisher definitiv etwas entgangen. Wie sie selbst sagt, ist sie das blanke Gegenteil ihrer Rolle der Counselor Troi. Ihre Panels sind legendär, in erster Linie deshalb, weil man hinterher Muskelkater vom Lachen hat, aber auch, weil sie definitiv kein Blatt vor den Mund nimmt. Wer ihr bei Twitter folgt, weiß das. Doch auf der Bühne ist sie gewissermaßen eine Naturgewalt. Hier auch nur ansatzweise etwas davon wiedergeben zu wollen, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, weshalb ich es gar nicht erst versuche.
Ihr folgt dann Hubert Zitt, der jedes Jahr auf der Con zwei seiner Vorträge hält, in denen er Science-Fiction-Serien und -Filme wissenschaftlich betrachtet. Das ist stets so unterhaltsam, daß mittlerweile stets der mehrere tausend Plätze umfassende Hauptsaal dafür notwendig ist, um alle Interessierten aufzunehmen.
Und dann ist es Zeit für meinen persönlichen Favoriten der diesjährigen Con: Matt Smith, der elfte Doctor Who, kommt auf die Bühne. Und was soll ich sagen – ich bin sofort begeistert. Absolut natürlich und fan-nah – sein Panel hat richtig viel Spaß gemacht. Und manches Mal meinte ich fast, der Doctor selbst stünde auf der Bühne, so nah aneinander sind Schauspieler und Rolle bei ihm.
Die Eröffnungszeremonie steht dann am Abend auf dem Programm. Klingt komisch, ist aber so. Die findet immer erst am Abend des ersten Tages statt, auch wenn vorher schon einige Panels gelaufen sind. Bis dahin sind die meisten Fans dann auch wirklich angekommen. Bei dieser Zeremonie kommen immer alle anwesenden Stars und natürlich auch die Vortragenden auf die Bühne. Viel Worte brauche ich darüber nicht zu verlieren, denn viel mehr passiert diesmal eigentlich auch nicht. Besondere Showeinlagen, wie es sie in den Vorjahren immer wieder einmal gab, sind dieses Mal offenbar nicht vorgesehen, und so gibt es auch keine. Trotzdem befeuert die “Opening Ceremony” die Vorfreude auf die nächsten drei Con-Tage.
Und damit ist mein erster Tag auch schon vorbei. Das sich anschließende Comedy-Panel mit Casper van Dien und Mark Dacascos lasse ich wegen meines mangelnden Interesses einerseits und einem starken Hungergefühl andererseits aus und widme mich lieber dem Abendessen.
Tag 3
(3. Juni 2017)
Der zweite Con-Tag ist der stressigste – zwar im positiven Sinne, aber dennoch. Zunächst einmal heißt es für mich: Aufstehen um sechs Uhr morgens. – Was? Wieso das denn? – Na, die Anmeldung für die Con im nächsten Jahr beginnt um 8 Uhr. Und weil die Plätze im Hauptsaal in der Reihenfolge der Anmeldung vergeben werden, muß sich, wer einen Platz möglichst nah an der Bühne haben will, so früh wie irgend möglich anmelden. Und das gilt mittlerweile auch für die Goldtickets. Außerdem möchte ich gerne um 10 Uhr mit der Anmeldung durch sein, denn dann findet das zweite Matt-Smith-Panel statt. Das will ich nicht verpassen. – Na und? Das sind doch zwei Stunden Zeit. Das reicht doch ganz sicher. – Könnte man meinen, ja. Aber ich kenne mich mittlerweile aus und bin daher auch nicht überrascht zu sehen, daß die Schlange, als ich mich um kurz nach sieben Uhr anstelle, gut und gerne schon 150 bis 200 Leute umfaßt. Die ersten stellen sich wohl immer schon mitten in der Nacht da an…
Glücklicherweise werden, als es um 8 Uhr dann losgeht, die Gold- und Platinticket-Anmeldungen in eine eigene Schlange gelotst. Das gibt es meines Wissens auch zum ersten Mal, ist aber eine hervorragende Idee. So stehen plötzlich nicht mehr eine dreistellige Anzahl Leute vor mir, sondern nur noch etwa dreißig. Und da beide Schlangen völlig unterschiedliche Ticket-Interessen haben und sich so gegenseitig auch nichts wegnehmen, gibt’s ja auch für niemanden einen Grund, sich dadurch benachteiligt zu fühlen. Dank dieser Maßnahme bin ich um 8.20 Uhr bereits angemeldet und habe plötzlich noch viel Zeit bis zu Matt Smiths Panel.
Als es dann soweit ist, ist es großartig. Ein Fan stellt eine Frage, die Matt bereits gestern einmal gestellt wurde. Er weist darauf hin. Als der Fragesteller sich entschuldigt, weil gestern noch nicht dagewesen sei, berichtigt ihn Matt. Nicht der Fan, sondern er habe sich zu entschuldigen, weil er gestern bereits dagewesen sei, so daß der Fragesteller ihn nicht erleben konnte. Und er beantwortet die Frage noch mal. Sehr charmant.
Vom nachfolgenden zweiten Vortrag Hubert Zitts entgeht mir der Anfang. Ich muß erst mal ein Autogramm von David Hasselhoff holen, dessen außerordentliche Autogrammstunde gerade eben angekündigt wurde. Glücklicherweise bin ich gleich unter den ersten, die anstehen und so schon nach zehn Minuten im Besitz meines Autogramms. Also schnell zurück zum Vortrag. Und der ist auch wieder toll. Es geht um Star Wars und die darin vorkommende Technik. Ist zwar nicht gerade mein Lieblingsfranchise, aber der Vortrag ist trotzdem unterhaltsam für mich. Danach muß ich leider aus dem Hauptsaal raus und mich in die nächste Autogrammschlange einreihen – diesmal für Matt Smith. Die wird in einen langen Hotelflur der ersten Wohnetage geleitet. Die Hotelgäste, die ihr Zimmer verlassen wollen, stehen also plötzlich in einer riesigen Menschenmenge, die vor ihren Zimmern herumlungert und den Flur entlang ansteht. Und Lärm macht. Natürlich. Da vermutlich aber sowieso fast nur Congäste im Hotel wohnen, gibt es damit wohl keine Probleme. Als aber mehr und mehr Fans eintrudeln und das Fassungsvermögen des Flurs nicht mehr ausreicht, beginnt eine kleine Umzugsaktion zumindest für den ersten Teil der Schlange. Hier merkt man allerdings, daß sich ziemlich viele Con-Veteranen unter den Fans befinden, denn alles geht geordnet vor sich und die in der Schlange Stehenden helfen sogar noch dem Conpersonal bei der Einweisung von Neuankömmlingen. Alle sind ziemlich entspannt, sogar dann, als sich der Beginn der Autogrammstunde auch noch um eine gute halbe Stunde verzögert.
Schließlich geht’s aber los, und weil ich’s erneut glücklich geschafft habe, ziemlich weit vorne zu stehen, bin ich auch alsbald dran. Als ich mein Autogramm hab, muß ich mich ziemlich beeilen, denn schon ist die Zeit ran für den Treffpunkt der Goldticket-Inhaber zur offiziellen Autogrammstunde mit allen anderen Stars. Als ich dort eintreffe und meine Unterlagen ordne, stelle ich mit Schrecken fest, daß ich den Zettel mit den Autogrammgutscheinen offenbar verloren habe. Weil jedes Goldticket ein Autogramm jedes anwesenden Stars einschließt, erhält man bei der Anmeldung einen solchen Zettel, auf dem der Name jedes Stars steht. Darauf werden dann die Namen der Schauspieler, deren Autogramm man sich holt, abgestrichen. Bei Matt Smiths Autogrammstunde hatte ich den Zettel eben noch vorgelegt, jetzt ist er aber weg. In Anbetracht der Tatsache, daß dieser kleine Zettel mehrere Hundert Euro wert ist und ich ohne ihn die Autogramme nicht bekommen werde, ist mir nun doch etwas flau im Magen.
Ich hetze zurück. Nein, bei Matt Smith ist der Zettel nicht liegengeblieben. Also weiter ins Con-Büro. Dort trage ich mein Mißgeschick vor und man reagiert sehr hilfsbereit. Ich soll zunächst zum Infostand gehen und nachfragen, ob jemand den Zettel dort vielleicht abgegeben hat. Falls nicht, soll ich wiederkommen. Dann würde sich schon eine Lösung finden, verspricht man mir. Ich laufe, so schnell es geht, zu besagtem Infostand und frage ohne viel Hoffnung nach. Hm, meint die Dame, sie schaue mal nach. Sie kramt in diversen Kästen, und als sie sich wieder umdreht, fragt sie mich, ob ich von dem Zettel schon Autogramme geholt hätte. Ich bejahe und sage ihr, welche. Daraufhin streckt sie mir – ich traue meinen Augen kaum – den Zettel entgegen. Wir vergleichen noch die darauf stehende Ticketnummer mit meinem Con-Ausweis und dann habe ich das gute Stück doch tatsächlich wieder in meinen Händen. Gibt’s sowas? Hätte ich den Glauben an die Menschheit endgültig verloren, jetzt würde ich wohl ein Stück davon wiederfinden. Ich danke hiermit ausdrücklich dem unbekannten ehrlichen Finder – oder der ebensolchen Finderin! Er oder sie hat mir sowohl die Autogramme als auch den Tag als auch die ganze Con gerettet.
Als ich ziemlich abgehetzt wieder am Treffpunkt für die Autogrammstunde ankomme, bin ich immer noch zugleich fassungslos und dankbar über soviel Glück. Die Umstehenden, die mein Mißgeschick mitbekommen hatten, beglückwünschen mich herzlich, und dann geht es auch schon los. Ich hole mir alle Autogramme, was bedeutet, sich bei jedem Star einmal anstellen zu müssen. Darüber vergeht der Nachmittag. Glücklich und zufrieden verlasse ich den Saal. Nun ist alles erledigt und ich kann das Folgende einfach nur noch auf mich zukommen lassen.
Da die Con ganz im Zeichen des 30. Geburtstags der Serie “Star Trek: The Next Generation” steht, folgen drei weitere Panels von Schauspielern, die in dieser Serie mitspielten: John de Lancie, Michael Dorn und Colm Meaney. Wobei letzterer in dieser Serie eigentlich nur eine Nebenrolle hatte, die erst in der nachfolgenden Serie “Star Trek: Deep Space Nine” zur Hauptrolle wurde. Auf Colm Meaney hatte ich schon seit meiner ersten FedCon gewartet, die, nebenbei bemerkt, die zehnte war. Jetzt, bei der 26., ist es endlich soweit. Er war mittlerweile der einzige Hauptdarsteller einer Star-Trek-Serie, den ich noch nie gesehen hatte (sieht man einmal von jenen ab, die leider nicht mehr unter uns weilen). Ich bin also dementsprechend glücklich und zufrieden.
Den Abschluß des Tages bildet dann für mich das Panel von David Hasselhoff. Warum er auf dieser Con ist und dann quasi auch noch als Stargast, hat sich mir im Vorfeld nicht so ganz erschlossen. Seine Rolle in “Guardians of the Galaxy 2” ging über einen Cameo-Auftritt nicht hinaus und “Knight Rider” ist eigentlich nur im allerweitesten Sinne eine Science-Fiction-Serie. Es gibt darin halt ein sprechendes Auto – in den Achtzigern. Aber reicht das, um als Science Fiction durchzugehen? Egal. Wie ich nun erfahre, hat er früher mal in einem Science-Fiction-Film mitgespielt, dessen Titel ich vergessen habe. Auf ihn angesprochen, bezeichnet er ihn als sehr schlechten Film und will von dem Fragesteller wissen, warum er sich den denn angesehen habe. Damit beweist Hasselhoff eine Selbstironie, die ich ihm gar nicht zugetraut hatte. Insgesamt bin ich von ihm angenehm überrascht. Ich weiß nicht, was ich genau erwartet hatte, aber einen derart aufgeräumten und sich selbst nicht zu ernst nehmenden The Hoff bestimmt nicht, auch wenn hin und wieder eine Spur übertriebenes Selbstbewußtsein durchschimmert und sein immerzu wiederholter Hinweis auf seine Comedy-Show “Hoff the Record” irgendwann etwas nervt. Trotzdem ist er insgesamt sehr unterhaltsam.
Tag 4
(4. Juni 2017)
An diesem Tag schlafe ich wieder aus. Er beginnt mit dem zweiten Teil der Autogrammstunde, wo ich ja nicht mehr hinmuß. Die vormittags laufenden Vorträge und Lesungen liegen nicht so auf meiner Linie – die, die es im Laufe der Con getan hätten, fanden leider immer gerade statt, wenn Schaupieler-Panels liefen, die ich unbedingt sehen wollte. Nun, alles kann man eben nicht haben.
So beginne ich den Tag erst mittags mit dem Panel von Chase Masterson. Als Mistress of Ceremonies finde ich sie wirklich zauberhaft. Überhaupt nicht marktschreierisch, moderiert sie sehr liebenswürdig. Pannen scheinen ihr wirklich nahezugehen, auch wenn die niemand übelnimmt. Sie ist sicher keine Moderatorin, die die Massen im Saal animiert und dadurch anheizt, aber mir gefällt gerade das sehr gut. Wenn jeder Gast und jedes Bühnenereignis angekündigt wird, als bekäme ich jetzt das Jahrhundertereignis schlechthin zu sehen, ist das nicht nur nach kurzer Zeit ermüdend, sondern auch dämlich. Schön also, daß Chase genau das nicht zur Grundlage ihrer Anmoderationen macht. Statt dessen liefert sie darin immer ein paar interessante Informationen über den angekündigten Gast, was mir schon allein deshalb besonders gefällt, weil sich die Convention-Macher diese im aktuellen Programmheft einfach mal gespart haben. Bis zum vergangenen Jahr gab es die dort immer auch zum Nachlesen.
In ihrem Panel erzählt Chase von ihrer Rolle und der Zeit bei der Serie “Star Trek: Deep Space Nine”, stellt die von ihr begründete Pop Culture Hero Coalition vor, mit der sie gegen Mobbing an Schulen vorgehen möchte und die ihr sehr am Herzen liegt, und singt auch ein paar sehr schöne Songs.
Jenna Coleman, die die Begleiterin des elften Doctor Who spielte, ist nach der Autogrammstunde im Hauptsaal auf der Bühne und mir ebenfalls sehr sympathisch. Leider mußte Matt Smith schon vorzeitig abreisen, so daß es nicht zu einem gemeinsamen Panel der beiden kommt. Das hätte ich sehr schön gefunden. Jenna wirkt ein wenig abgehetzt und müde – auch sie ist, wohl wegen anderer Verpflichtungen, nur zwei Tage auf der Con -, doch das tut ihrem Panel keinen Abbruch, in dem sie auf mich einen sehr netten und sehr freundlichen Eindruck macht.
Dann ist wieder Next-Generation-Zeit. Gates McFadden, Colm Meaney und Marina Sirtis kommen nacheinander auf die Bühne. Letztere erzählt, daß sie vor der letzten US-Wahl zu ihrem Mann gesagt habe, wenn Trump gewählt würde, müßten sie nach Großbritannien, wo sie geboren ist, umziehen. Als er gefragt habe, warum, habe sie gesagt, sie wolle nicht in einem Land voller Dummköpfe leben. Dann sei Trump gewählt worden, und sie habe schon überlegt, ihre Aussage wahrzumachen. Doch dann sei der Brexit gekommen…
Im anschließenden zweiten Panel David Hasselhoffs wird dieser von einem Fan gebeten, “I’ve been looking for freedom” einmal vollständig zu singen. Bisher war es bei jedem seiner Auftritte immer nur kurz als Auftrittsmusik eingespielt und dann ausgeblendet worden. Er macht das ganz offensichtlich gerne – und der Saal kocht. Laut mitklatschend singen die meisten lauthals mit.
Aber dann ist es Zeit für den wahren Höhepunkt des Tages: Das gemeinsame Panel aller sechs anwesenden Next-Generation-Darsteller: Gates McFadden, Michael Dorn, Marina Sirtis, LeVar Burton, Denise Crosby und John de Lancie. Es ist ein Fest! Am Ende können sich weder die Schauspieler auf der Bühne noch das Publikum im Saal vor Lachen halten, insbesondere als sie nach ihren Tricks, bestimmte Gefühle darzustellen, gefragt werden und John de Lancie eine Story vom Stapel läßt, wie er einst vom Drehbuch aufgefordert wurde, beim Blick auf eine Schauspielkollegin “smitten with love” zu sein, aber nicht gewußt habe, wie er das darstellen solle. Er habe dann eine Hand in die Hosentasche gesteckt, mit den Fingern ein Loch hineingerissen und dann… der Rest ist nicht so ganz jugendfrei, aber danach sei er auf jeden Fall “smitten with love” gewesen. Wäre Platz gewesen, hätten jetzt alle im Saal vor Lachen auf dem Boden gelegen. So krümmen wir uns nur lachend auf unseren Stühlen.
Der anschließende Kostümwettbewerb ist schon wieder der letzte Teil des Tages. Es sind einige sehr sehr schöne Kostüme dabei, die von ihren Trägern zu recht mit Stolz vorgeführt werden, haben sie sie doch zum größten Teil auch selbst gefertigt. Die vielen Stunden Handarbeit haben sich jedenfalls ausgezahlt – man sieht sie den oftmals perfekten Kostümen an.
Die Preisvergabe durch die Jury empfinde ich jedoch als Enttäuschung, denn den ersten Preis gewinnt mit einer Mischung aus Star-Wars-Stormtrouper und Karnevalsclown ein reines Spaßkostüm, das mit einigen der anderen hinsichtlich Perfektion, Detailliebe und Ästhetik für mein Empfinden wirklich nicht mal ansatzweise mithalten kann. Und wie aus dem Gespräch mit dem Kostümträger hervorgeht, hat er große Teile seines Kostüms auch nicht selbst hergestellt. Zugegeben, der Auftritt mit Buddies im Borat-Stil war der bei weitem witzigste, aber das allein reicht mir nicht. Nun, die Jury sieht das anders und so trägt heute Trash über Qualität den Sieg davon.
Tag 5
(5. Juni 2017)
Gates McFadden und Michael Dorn eröffnen in einem Doppelpanel den Tag. Ihnen folgt Denise Crosby in ihrem leider einzigen Solo-Panel. Es ist dafür um so interessanter, erzählt sie doch die Geschichte ihres frühen Ausstiegs aus der Serie “Star Trek: The Next Generation” und wie es kam, daß sie später ihre Rolle doch noch einmal aufnahm und sich daraus weitere Gastauftritte entwickelten.
LeVar Burton ist danach sichtlich schockiert, als er von einem Fan erfährt, daß es im Internet von Fans geschriebene Geschichten gebe, die seinen Charakter Geordie LaForge mit Data in eine romantische Beziehung bringen. Als er gefragt wird, wie er das finde und ob er solche Stories gerne verhindern würde, meint er, daß er es schön fände, wenn die Figuren aus der Serie bei den Fans weiterleben würden und diese ihre Phantasie spielen ließen. Er sei nicht zum Richter darüber bestellt, ob das, was daraus entstünde, nun gut oder schlecht sei. Das sollen mal die Leser entscheiden.
Das Ende der Con wird dann mit der Abschlußveranstaltung eingeläutet. Die Closing Ceremony beginnt mit einem sehr schönen Lied von Chase Masterson, gefolgt von einem Versuch eines Fans, mit einer auf die FedCon umgedichteten Version von “I’ve been looking for freedom” für Stimmung zu sorgen. Leider ist der Vortrag nicht gelungen genug, um diese aufkommen zu lassen. Nun, manchmal gehen Dinge auf Cons eben auch schief. Was aber dennoch zählt, ist der Mut, es versucht zu haben. Und Mut gehört für einen Auftritt vor wenigstens zweitausend Fans auf jeden Fall dazu.
Als am Ende alle Vortragenden und Darsteller noch einmal gemeinsam auf der Bühne stehen und sich verabschieden, wird endgültig klar, daß die vier Tage Con nun unweigerlich zu Ende gehen. Und bei der abschließenden kleinen Fotoshow mit Eindrücken dieser vier Tage kommt dann schon erste Wehmut auf. Nun dauert es wieder ein ganzes Jahr bis zur nächsten FedCon.
Ich verbringe den sonnigen Abend mit einem ruhigen Spaziergang und einem gemütlichen Abendessen in der Bonner Innenstadt. Nach den vielen bunten Eindrücken und dem ganzen Trubel der Con erscheint mir das als passendes Ende.
Epilog
Mein Zug ist nun kurz vor Berlin. Das Wetter hat sich die gesamte Fahrt über nicht wirklich geändert. Der Himmel blieb meist grau und manchmal war der immer mal wieder einsetzende Regen so stark, daß ich vor den Fenstern nicht mehr viel erkennen konnte. Doch nun, während ich dies schreibe, stiehlt sich ein Sonnenstrahl verschämt durch die Wolken und durch mein Zugfenster herein. Vielleicht will er mich daran erinnern, daß nach der Con auch immer vor der Con ist. Wenn ich es mir recht überlege, hat er damit wirklich recht, und so sage ich dem Con-Blues Lebewohl und widme mich der ersten Vorfreude… auf die kommende 27. FedCon 2018. Sind ja nur noch reichlich 340 Tage oder so.
LLAP.
A good traveller has no fixed plans and is not intent on arriving. (Lao Tzu)