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Barther Kirchentag

Dieser Beitrag ist Teil 6 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!
Bo-bomm!
Bomm!

Von irgendwo läßt sich ein sanftes Trommeln vernehmen. Zuerst nur ganz leise, doch dringt es, sich in seiner Vehemenz beharrlich durchsetzend, lauter und lauter durch die Schleier hindurch, die der Schlaf um mich gewoben hat, bis sich diese endlich verflüchtigen und mich aus meinen Träumen in die reale Welt zurückführen. Noch wehre ich mich dagegen, doch schließlich kann ich nicht mehr umhin, die Traumwelt endgültig zu verlassen und meine Aufmerksamkeit diesem unablässigen Trommeln zuzuwenden.

Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!

Ein Weile lausche ich dem Geräusch, das mich aus dem Schlaf geholt hat. Was könnte das sein? Ein tropfender Wasserhahn vielleicht? Nein, dazu ist es zu vielfältig. Das müßten schon mehrere Wasserhähne zugleich sein, die da so stetig vor sich hin tropfen. Und es kommt ja auch gar nicht aus dem Badezimmer. Nein, das Geräusch kommt definitiv von draußen. Es dringt durch das geöffnete Fenster und zwischen den schweren Vorhängen hindurch, die das Zimmer in einem beständigen Halbdunkel halten. Nur durch den schmalen Spalt zwischen ihnen fällt ein wenig Licht des bereits angebrochenen Tages. Von dort kommt auch das ewige Trommeln.

Mein Gehirn kommt nur langsam in die Gänge. Doch schließlich findet es den Gedanken, nach dem es gesucht hat, seit ich von dem Geräusch geweckt worden bin: Regen! Das muß Regen sein.

Auf einmal erscheint mir das Bett als ein ausgesprochen sympathischer Aufenthaltsort für den Tag. Ich könnte mich ja nochmal auf die andere Seite drehen und eine weitere Runde schlafen…

Andererseits ist das Verschlafen des hellichten Tages keine Option, die sehr unterhaltsam und interessant klingt. Und so wirklich müde bin ich eigentlich auch nicht mehr…

Ach, was soll’s! So ein bißchen Regen wird mir nicht den Tag verderben. Und wer weiß, vielleicht hört er ja auch bald auf. Entschlossen schlage ich die Decke zurück und stehe auf. Zunächst will ich mir doch einmal ansehen, was denn das eigentlich für ein Regen ist, der da vor meinem Fenster herumtrommelt. Ich tappe durch das Halbdunkel des Raumes um das Bett herum und ziehe die Vorhänge zurück. Licht strömt ins Zimmer, doch ist es nicht gerade blendend. Dafür ist der Tag, der vor dem Fenster herumlungert, viel zu grau. Und naß.

Das Trommeln, das mich geweckt hat, kommt von irgendwo dort draußen, ohne daß ich genau ausmachen kann, woher eigentlich. Es hört sich so an, als befände sich an irgendeiner Stelle des Hauses in der Nähe meines Fensters ein Blech, auf das Wasser tropft. Daß es der feine Regen ist, der unaufhörlich herniederströmt, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Offenbar sammelt er sich jedoch irgendwo und verursacht stetig fallende Tropfen. Den Klängen nach an gleich mehreren Stellen.

Egal. Ich bin wach. Laß es tropfen.

Ich suche nicht weiter. Stattdessen starte ich frohen Mutes in den Tag. Von dem bißchen Regen lasse ich mir nicht die Laune verderben. Zunächst stehen Waschen, Zähneputzen und Frühstücken auf dem Programm. Und wer weiß, wenn ich damit fertig bin, hat der Regen ja vielleicht auch schon aufgehört.

Tatsächlich ist das der Fall. Als ich den Frühstücksraum meiner Pension verlasse, auf mein Zimmer zurückkehre und einen Blick aus dem Fenster werfe, sind die Regenschleier verschwunden. Der Himmel sieht zwar immer noch so aus, als habe er sich heute in Asche gewandet, doch das stört mich nicht weiter. Solange es einigermaßen trocken ist, wird mich nichts davon abhalten, vor die Tür zu gehen. Allerdings erscheint es mir klug, dem regenschwangeren Wetter doch Rechnung zu tragen und keine Ausflüge in Gegenden zu unternehmen, in denen es vor vom Himmel herniederstürzendem Wasser keinerlei Schutz gibt. Da kommt es mir sehr zupaß, daß sich auf der Liste meiner Ausflugsziele für diesen Urlaub noch eines findet, das sich ganz wunderbar für solch einen Tag eignen könnte: Barth. Die auf dem Festland am südlichen Ufer des nach ihr benannten Boddens gelegene Kleinstadt ist, orientiert man sich an ihrer ersten urkundlichen Erwähnung, fast so alt wie Berlin. Tatsächlich ist sie älter, denn in eben jener Urkunde aus dem Jahr 1255 ist bereits von einer Stadt die Rede. Das könnte also ein für mich als an Geschichte Interessiertem ein lohnendes Ziel sein.

Auch sagen mir meine Erinnerungen, daß wir in unseren Urlauben zu den Zeiten meiner Kindheit und Jugend mehrfach in Barth gewesen sind. Ein Besuch dort gehörte in jedem Jahr einfach dazu. Vieles habe ich zwar mittlerweile vergessen, doch an die bereits geschilderte Fahrt über die Meiningenbrücke erinnere ich mich noch gut. Auch die Passage einer engen Durchfahrt durch eine Art Stadttor taucht aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf, wenn ich an Barth denke; und aus irgendeinem Grund weiß ich noch, daß wir pro Besuch stets nur ein einziges Mal hindurchfuhren. In die Gegenrichtung führte der Weg immer an dem Stadttor vorbei, wohl weil es so eng war. Zwar erinnere ich mich noch gut, daß ich das jedesmal irgendwie enttäuschend fand, doch könnte ich heute nicht mehr sagen, ob das auf der Fahrt in die Stadt hinein gewesen ist oder beim Verlassen derselben. Nun, das werde ich ja vielleicht ergründen können, wenn ich mich jetzt auf den Weg dorthin mache.

Ein kurzer Blick auf den Busfahrplan, den ich über mein Smartphone abrufen kann, belehrt mich, daß ich mehr als ausreichend Zeit habe. Und weil ich weder große Lust verspüre, diese auf meinem Zimmer zu verbringen, noch ein langes Herumstehen an der nahegelegenen Bushaltestelle im Zentrum des Ortes sonderlich verlockend finde, entschließe ich mich zu einem Spaziergang zur Hafenstraße, wo sich, wie ich von meinem Prerow-Rundgang ein paar Tage zuvor weiß, eine weitere Busstation befindet. Bis ich dort bin, dürfte die Zeit bis zur Abfahrt des Busses schon fast heran sein.

Wegweiser in Prerow
Jede Menge Ziele. Mitten im Zentrum, an der Ecke Wald- und Bergstraße, steht dieser bunte, typische Prerower Wegweiser.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Vorüber an den bunten Prerower Wegweisern, die ich dieses Mal allerdings lediglich zu fotografischen Zwecken beachte, da ich sie zum Auffinden des mir bereits bekannten Weges nicht benötige, spaziere ich durch Berg- und Lange Straße der Hafenstraße entgegen.

An selbiger angekommen, habe ich wider Erwarten doch noch mehr Zeit übrig als erwartet. Eine reichliche Viertelstunde muß ich noch auf den Bus warten. Angesichts des nach wie vor tiefgrauen Himmels und der sich beharrlich hinter der Wolkendecke verbergenden Sonne erscheint es mir nicht sehr sinnvoll, diese Zeit mit Herumstehen an der Haltestelle zu verbringen, denn ohne die wärmenden Strahlen der Sonne wird mir an diesem Apriltag doch recht schnell recht kühl. So spaziere ich ein wenig in der Gegend herum und nehme sie in Augenschein. Zunächst fällt mir erneut das Wartehäuschen auf. Mit mir warten einige Personen, die trotz dieses sauertöpfischen Tages recht fröhlich gestimmt scheinen. Ein junges Mädchen in rotem T-Shirt und knielanger blauer Sommerhose, ausgestattet mit Sonnenbrille und Strohhut sitzt auf seinem blauen Koffer direkt neben drei Sitzen, die sämtlich frei sind. Auf deren anderer Seite steht eine junge Familie mit zwei Kindern. Die Eltern tragen beide lange blaue Hosen und schulterfreie Tops, die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, stehen brav vor ihren Eltern und sind ebenfalls recht sommerlich angezogen. Etwas abseits wartet noch ein junger Mann mit Vollbart, der einen Rucksack über die Schulter geworfen hat und einen Koffer in der Hand trägt. Auch er ist lediglich mit knielangen Hosen bekleidet. Daß diese Gesellschaft Wartender bei diesem kühlen Wetter nicht friert und auch die freien Sitze beharrlich meidet, hat seinen Grund. Denn genau wie die Fenster des Häuschens sind alle diese Personen lediglich auf dessen Wand aufgemalt. Eine hübsche und durchaus passende Gestaltung für eine Bushaltestelle.

Die Bushaltestelle "Hafenstraße" in Prerow
Gemeinschaft im Wartestand – Das Wartehäuschen der Bushaltestelle an der Prerower Hafenstraße.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

In Berlin versucht man dergleichen auch immer wieder einmal, doch leider erweist sich ein solches Unterfangen stets als verlorene Liebesmüh, die Perlen vor die Säue streut, denn innerhalb kürzester Zeit sind tumbe Graffiti-Schmierfinken zur Stelle, um die mit viel Liebe gestalteten Wandbilder mutwillig zu beschmieren und so zu zerstören. Und das ist nicht nur in Berlin so. Auch andere der größeren deutschen Städte haben mit diesem Problem zu kämpfen. Es ist mir unbegreiflich, warum es nicht möglich ist, das in den Griff zu bekommen. Andere Städte dieser Welt schaffen das doch schließlich auch. Weder in Singapur noch in Auckland, Sydney, Melbourne, Adelaide oder auch Vancouver und Quebec habe ich derartiges in dem Ausmaß zu Gesicht bekommen, wie es in den Städten unserer heimischen Gefilde gang und gäbe zu sein scheint. Wenn es sich dabei wenigstens um Bilder mit zumindest etwas gestalterischem Anspruch handeln würde, ließe sich noch trefflich darüber streiten, ob das nun Ausdruck einer Art Subkultur oder einfach nur Geschmiere und Sachbeschädigung fremden Eigentums ist. Doch schaut man sich an, was da beispielsweise in Berlin an Hauswänden, Brückenpfeilern, Mauern, auf Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs und an sonstigen Flächen aufgesprüht wird, handelt es sich meist um irgendwelches unentzifferbares Gekrakel, mit dem seine Verursacher vermutlich lediglich eine Marke setzen wollen, die ihr Revier kennzeichnen oder auch nur ein profanes „Ich bin hier gewesen“ mitteilen soll. Am Ende ist es auch wieder nur eine neue Form des heute so allgegenwärtigen Hangs zur Selbstdarstellung. Solche Graffitis offenbaren lediglich die Geist- und Ideenlosigkeit ihrer Urheber. Vermutlich von ihnen ungewollt, doch dafür um so entlarvender. Besonders dreist und unverschämt wird es natürlich, wenn sie dabei die ästhetisch schönen und wertvollen Werke wirklicher Könner auf diesem Gebiet zerstören. Der Stadt und ihren Verantwortlichen scheint es egal zu sein. Ihnen fehlen ganz offenbar nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch der Wille, dies wirksam zu unterbinden. Doch wahrscheinlich ist dies nicht nur ein administratives, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Man kann wohl mit einigem Fug und Recht davon sprechen, daß eine Gesellschaft, die Derartiges widerspruchslos geschehen läßt, sich selbst längst aufgegeben hat – eine Feststellung, die ich einmal irgendwo gelesen habe, wobei mir leider entfallen ist, wo das gewesen ist und von wem sie stammt. Trotzdem erscheint sie mir wahr.

Auf meinem kleinen Streifzug durch die Umgebung der Bushaltestelle bin ich mittlerweile an der Straßenkreuzung angekommen, an der Hafen- und Strandstraße einander begegnen. Als ich ein paar Tage zuvor auf meinem Rundgang durch Prerow hier vorübergekommen war, hatte ich mich nicht allzu lange aufgehalten, denn viel gibt es wirklich nicht zu sehen. Der große Parkplatz, der nur eine zerfahrene Wiese ist, gegenüber die Darss-Passage mit dem Supermarkt und die Straßenkreuzung, an der sich ein kleiner Imbißstand befindet, der sich De lütt Eck nennt und als Prerows Snackbar bezeichnet. Viel mehr ist da nicht. Und doch, nun, da ich hier gewissermaßen die Zeit totschlagend herumlungere, bemerke ich zu meinen Füßen am Straßenrand, zwischen Fahrbahn und Gehsteig, eine Reihe von Blumenrabatten, die ganz offensichtlich liebevoll gepflegt werden und den Frühling in den Ort einladen. Und der hat das Anerbieten dankend angenommen und ist mit einer Reihe von Narzissen als Frühlingsboten in Prerow eingezogen, die mit ihren üppigen gelben Blüten dem heutigen Grautag einen willkommenen Farbtupfer bescheren.

Narzisse in Prerow
Bote des nahenden Frühlings – Narzisse am Prerower Straßenrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Und als ich gerade noch sinnend auf die hübschen Blumen herunterschaue, entdecke ich ein Stück voraus in Richtung Ortsausgang den Bus. Die Tatsache, daß ich mich ein Stück von der Bushaltestelle entfernt befinde, muß mich allerdings nicht in Hektik versetzen, denn mittlerweile bin ich nach mehreren bereits absolvierten Busfahrten gut darüber informiert, wie sich die Sache mit den Fahrten des öffentlichen Personennahverkehrs in Prerow verhält. Zunächst wird der Bus die Haltestelle an der Hafenstraße ignorieren und direkt ins Zentrum fahren. Nachdem er alle dort wartenden Fahrgäste aufgenommen hat, wird er wenden und schließlich hierher zurückkommen, einen kleinen Abstecher zur Haltestelle an der Hafenstraße einlegen und mir so die Möglichkeit geben, ebenfalls zuzusteigen und die Fahrt nach Barth anzutreten. Bis dahin bin ich ganz gemütlich und in Ruhe zu der Haltestelle zurückgelaufen. Und genauso geschieht es dann auch.

Die Fahrt ist mir bereits hinlänglich bekannt. Wieder einmal passiere ich den Prerower Hafen, den Alten Bahnhof, die Hohe Düne, die Engstelle zwischen Ostsee und Prerower Strom und die Haltestelle Prerow Hertesburg, an der es auch heute keinen Halt gibt. Dann bin ich auch schon wieder in Zingst. Von hier aus geht die Fahrt weiter zur Meiningenbrücke, die wir überqueren, um über Bresewitz und Pruchten schließlich nach Barth zu gelangen. Nun, da ich nach meiner zwischenzeitlichen Beschäftigung mit der Darßbahn und ihrer früheren Route weiß, worauf ich zu achten habe, gelingt es mir, ihre einstige Trasse während der Fahrt nahezu die gesamte Wegstrecke über in der Landschaft auszumachen, folgt die Straße in ihrem Verlauf doch im wesentlichen dem der einstigen Darßbahn. Ab Bresewitz ist das sogar bedeutend leichter, da hier zu großen Teilen noch die alten Gleise liegen. Von Barth bis Bresewitz war die Bahn noch einige Jahre länger in Betrieb gewesen, bis dieser 1947 auch hier eingestellt wurde und man die Gleise entfernte. Allerdings hatte, wie ich bereits weiß, die Nationale Volksarmee der DDR genau zwanzig Jahre später diesen Abschnitt wiederaufgebaut, um ihn für Truppen- und Materialtransporte zu nutzen. Dafür errichtete sie nahe Bresewitz eine Laderampe, über die ihr Übungsplatz in den Sundischen Wiesen und ihr Stützpunkt in Zingst versorgt werden konnten. Bis zur sogenannten Wende im Jahre 1989 blieb die Strecke in Betrieb und ist daher heute noch samt Gleisen vorhanden. Als mein Bus Bresewitz im Süden des Ortes verläßt, kann ich auf der rechten Seite den einstigen Darßbahn-Haltepunkt des Ortes erkennen, an dem es zwar kein Bahnhofsgebäude gibt, wohl aber drei alte Güterwaggons, die dort noch herumstehen und langsam vor sich hinrotten. Und auch das alte Bahnhofsschild und ein Formsignal sind noch vorhanden.

Rund fünfundvierzig Minuten dauert die Fahrt. Als wir die Barthe, einen in den Barther Bodden mündenden, knapp fünfunddreißig Kilometer langen Fluß, überqueren und kurz darauf die ersten Häuser Barths erreicht haben, beginne ich zu überlegen, wo genau ich aussteigen will. Ich beschließe, nicht bis zum Bahnhof mitzufahren, sondern möglichst nah am Zentrum der kleinen Stadt auszusteigen. Gespannt warte ich darauf, irgendwo voraus das alte Stadttor zu entdecken, das heute morgen bereits aus meinen Erinnerungen aufgetaucht war. Werden wir hindurchfahren? Oder drumherum?

Kurz darauf habe ich die Antwort. Gerade als ich durch das Frontfenster des Busses weit voraus ein hohes turmartiges Gebäude mit einer Toröffnung am Boden ausmachen kann, schwenkt der Bus nach links, verläßt die darauf zuführende Straße und umfährt das Zentrum der Stadt weiträumig in Richtung Bodden. Wenige Minuten später kommt er an der am Hafen der Stadt gelegenen Haltestelle zum Stehen. Die Türen öffnen sich und ich steige aus.

Just diesen Moment sucht sich der Himmel aus, um den Regen wieder einsetzen zu lassen. Zwar nieselt es nur leicht, doch ich verspüre dennoch nur wenig Lust, draußen herumzulaufen, während unablässig Wasser von oben auf mich herunterfällt. Wollte ich lediglich ein paar Besorgungen machen, wäre das nicht weiter schlimm, doch für einen Stadtbummel eignet sich Regenwetter eher weniger. So beschließe ich, den Hafen später einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen, und mache mich auf den Weg zum nahegelegenen Marktplatz, wo, wie ich weiß, die Sankt-Marien-Kirche zu finden ist. Eine eingehende Besichtigung des Gotteshauses sollte dem Himmel ausreichend Gelegenheit geben, den Regen wieder einzustellen. Stadt und Hafen würde ich danach noch ausgiebig besichtigen können.

Von der am Hafen vorüberführenden Straße, in der der Bus gehalten hatte und die passenderweise den Namen Hafenstraße trägt, biege ich in die Fischerstraße ein. Bereits nach wenigen Metern passiere ich die einstige mittelalterliche Stadtmauer, was allerdings kaum zu bemerken ist, da sie nicht mehr steht. Lediglich die hier die Fischerstraße kreuzende Mauerstraße erinnert mit ihrem Namen an das historische Bauwerk, das die Stadt einst vollständig umgeben hat. Genau hier hat sich auch eines der vier Tore befunden, die damals Zugang zur Stadt gewährten. Im Pflaster der Straße hat man dessen Standort markiert, indem man links und rechts der mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Fahrbahn die diese begrenzenden Mauern des Turms angedeutet hat. Warum man dafür auf der rechten Straßenseite allerdings erhöhte, in die Fahrbahn hineinragende und sie so verengende Bordsteinkanten verwendet hat, während sich die Markierung auf der linken Seite eben in das Straßenpflaster einfügt, erschließt sich mir nicht so ganz. Aber wie heißt es doch: Die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben. Ich muß unwillkürlich schmunzeln, als mir diese Redewendung aus vergangenen DDR-Tagen durch den Kopf geht.

Die meisten Häuser in der Fischerstraße haben drei Stockwerke, deren oberes durch ein Spitzdach nach oben hin abgeschlossen wird. Bis auf wenige wenden sie ihre Giebelseite der Straße zu. Die Fassaden sehen nahezu alle wie aus dem Ei gepellt aus. Hier hat man in den letzten Jahren und Jahrzehnten ganz offensichtlich viel gemacht. Die Häuserfronten sind sauber verputzt, allerdings meist in nur einer Farbe, was sie ein wenig langweilig macht. Einige wenige Häuser durchbrechen dieses Einerlei jedoch. Eines präsentiert stolz seine Ziegelfassade, ein anderes zeigt sich in schlichtem Fachwerk. Und eines ist dabei, das wohl als das schwarze Schaf der Straße bezeichnet werden muß, denn es scheint ihm nicht gelungen zu sein, es zu etwas zu bringen. Der Putz ist fleckig braun und bröckelt hier und da bereits ab, wodurch er die darunter liegenden Ziegel freilegt. Die Fenster im Erdgeschoß hat man mit Brettern und Sperrholzplatten verrammelt, in den oberen Stockwerken ersetzen, wie es scheint, blinde Plastiktafeln die Scheiben der ansonsten leeren Fenster. Und an der Giebelspitze bröckelt bereits die Dachkante nach und nach weg. Hier wohnt ganz offensichtlich niemand mehr.

Als ich das Ende der Fischerstraße erreicht habe, stehe ich an der nordöstlichen Ecke des Marktplatzes. Sein großes Areal wird an allen vier Seiten von ebensolchen Häusern umstanden, wie ich sie bereits in der Fischerstraße angetroffen habe, allerdings mit dem Unterschied, daß den hiesigen ein viertes Stockwerk gestattet wurde. Doch auch hier sehen allesamt so aus, als seien sie nagelneu. Der Markt besitzt eine rechteckige Grundform, wobei die Ost-West-Ausdehnung die größere Länge aufweist. Nord- und Südseite werden jeweils von einer Baumreihe gesäumt, wobei man die Bäume so zurechtgestutzt hat, daß sie nicht nur einheitlich hoch sind, sondern daß ihre Kronen auch an der Unterseite eine gerade Linie bilden. Zwar sind die Äste um diese Jahreszeit noch kahl, doch wird trotzdem sehr deutlich, daß die Baumreihen wie zwei große, auf mehreren Baumstammstelzen ruhende Balken aussehen. Es ist mir ein ewiges Rätsel, warum sich Menschen die Mühe machen, Pflanzen in ihrem Wachstum so zu dressieren, daß sie strenge Formen und Linien, einheitliche Höhen und strikte Symmetrie einhalten. Das ist in meinen Augen nicht nur gemein, sondern auch ausgesprochen langweilig anzusehen. Mehr Glück hatte da der Baum, der auf der Ostseite des Marktes allein stehen darf. Ihm ist es gestattet, so zu wachsen, wie er will. Der Verzicht auf jegliche Symmetrie, jede Beschränkung in Breite und Höhe und die Wahrung irgendeiner vorgegebenen Form läßt ihn trotz seiner momentanen Laublosigkeit ungleich viel interessanter aussehen als seine bedauernswerten in Reih und Glied gezwungenen Artgenossen an den Seiten des Platzes.

Aufgrund des regnerischen Wetters wirkt der Platz heute etwas trist. Weil er, sieht man einmal von dem einzelnen Baum, dem achteckigen Brunnen mit den drei auf einer Ziegelsäule aufragenden Fischen in der Mitte und ein paar vereinzelt parkenden Autos ab, weitgehend leer ist, dominiert sein rotes Ziegelpflaster das Erscheinungsbild des Platzes. Es glänzt in der Nässe, die der Regen ausgiebig darauf verteilt. Kaum eine Menschenseele ist zu sehen. Wie es scheint, haben es die meisten Bewohner der Stadt vorgezogen, sich im Inneren der Häuser aufzuhalten, wo es warm und trocken ist. Nur wer unbedingt muß, ist jetzt draußen unterwegs. Und ich.

Über den Dächern der Häuser an der Westseite des Marktes, meinem Standort genau gegenüber, kann ich das Dach und den Turm der Sankt-Marien-Kirche aufragen sehen, die sich dahinter befindet. Und weil ich angesichts des Regens keine Veranlassung sehe, mich länger als unbedingt nötig draußen aufzuhalten, lenke ich meine Schritte zielstrebig dorthin. An der Nordwestecke des Marktes angekommen, gehe ich an den Häusern vorbei in die Papenstraße hinein und bin nach wenigen weiteren Schritten an der nördlichen Längsseite der Kirche angekommen.

Eine kleine Grünanlage trennt die Kirche von der ebenfalls mit Kopfsteinen ausgelegten Fahrbahn der Straße. Direkt an der Wand des Gotteshauses führt ein Weg entlang, den ich einschlage. Links neben mir ragen die Backsteinmauern des Kirchengebäudes in die Höhe, die in regelmäßigen Abständen von riesigen, dreigeteilten und nach oben hin in einem spitzen Bogen auslaufenden Kirchenfenstern unterbrochen werden – unmißverständliche Hinweise auf den Baustil der norddeutschen Backsteingotik, der dem Bau zugrundeliegt.

Wann der Grundstein für die Sankt-Marien-Kirche, die das bedeutendste Gotteshaus Barths ist, gelegt wurde, weiß man nicht genau. Vermutet wird, daß es um das Jahr 1250 herum geschah. Aus dieser Zeit stammt der Chor der Kirche, an dem ich als erstes vorübergekommen bin, denn er ist dem Marktplatz zugewandt. Den Namen Sankt-Marien-Kirche trug das in Bau befindliche Gotteshaus damals noch nicht. Dessen erste urkundliche Erwähnung findet sich erst 1340. Gebaut hat man gute zweihundert Jahre. Mit der Vollendung des Turms waren die Bauarbeiten im 15. Jahrhundert schließlich abgeschlossen. Zu dieser Zeit war die Kirche natürlich noch katholisch, schlug doch Martin Luther seine 95 Thesen erst im Jahre 1517 an die Tür der Wittenberger Schloßkirche, womit die Reformation offiziell begann. Und da die Bürger der Stadt damals recht wohlhabend waren und die katholische Kirche gegen Prunk nichts einzuwenden hatte, war die Innenausstattung des Gotteshauses zu jener Zeit noch recht prachtvoll. Das änderte sich jedoch, als die Reformation schließlich auch nach Vorpommern kam und Fuß zu fassen begann. Offiziell eingeführt wurde sie hier um 1535. Das hatte eine erste und gleichzeitig radikale Umgestaltung des Kircheninneren zur Folge. Entsprechend den neuen Ansichten hatte die Ausstattung einer Kirche schlicht zu sein. So entfernte man die prächtige Innenausstattung, die die Bürger der damals reichen Hafenstadt über die Jahre  der Kirche hatten angedeihen lassen, und ersetzte sie durch eine bedeutend einfachere Ausgestaltung.

Als sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Aufklärung auch in den deutschen Landen durchzusetzen begann, erfuhr das Gotteshaus eine weitere Umgestaltung. 1820 wurde sie im Stil der Aufklärung renoviert und erhielt eine neue Orgel, die der Berliner Orgelbauer Johann Simon Buchholz gemeinsam mit seinem Sohn Carl August Buchholz schuf. Fast vierzig Jahre später kam es dann zu einer erneuten gravierenden Veränderung. Seit dem Jahre 1815 gehörte Pommern zum Königreich Preußen, dessen König Friedrich Wilhelm IV. der Provinz immer wieder einmal einen Besuch abstattete. Als er bei einer dieser Reisen auch einmal nach Barth kam und die Sankt-Marien-Kirche aufsuchte, mißfielen ihm deren in schlichtem Weiß gehaltene Innenbemalung und die nüchterne Ausstattung offenbar derart, daß er im Jahre 1857 eine umfassende Neugestaltung des Gotteshauses veranlaßte. Den Auftrag dazu vergab er an keinen Geringeren als den Architekten Friedrich August Stüler, einen Schüler Karl Friedrich Schinkels. Berliner sollten ihn als den Schöpfer des Neuen Museums, der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoje, der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel sowie der Kuppel des Berliner Stadtschlosses kennen. Passend zum gotischen Baustil des Kirchengebäudes verhalf Stüler dessen Innenraum zu seinem heutigen Erscheinungsbild, das er im Stile der Neugotik entwarf. Dieses selbst in Augenschein zu nehmen, bin ich mehr als gespannt.

Mittlerweile habe ich eine genau in der Mitte der Nordseite des Kirchenschiffes gelegene zweiflügelige Eingangspforte erreicht, deren Tür sich bei einem Druck auf die Klinke als offen erweist. Somit steht einem Besuch des Inneren der Sankt-Marien-Kirche nichts mehr im Wege und ich trete ein[1]Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende … [Weiterlesen].

Hatte ich erwartet, in einen von Dämmerlicht erfüllten Kirchenraum zu gelangen, so bin ich einigermaßen überrascht, als ich mich stattdessen in einem Kirchenschiff wiederfinde, das zwar von Licht nicht gerade überflutet wird, doch einen ausgesprochen hellen und freundlichen Eindruck macht. Verantwortlich dafür sind nicht nur die hohen, dreiteiligen und nach oben spitz zulaufenden Bogenfenster in den beiden Seitenschiffen, sondern auch die farbenprächtige Gestaltung des Raumes. Die Wände und die mächtigen, die drei Schiffe voneinander trennenden und das Gewölbe der Decke tragenden Pfeiler sind in einem hellen, sandsteinfarbenen Ton gehalten. Die einander kreuzenden Rippen dieses Gewölbes sind ebenso wie die spitz zulaufenden Bögen zwischen den Pfeilern rot und blau bemalt und teilweise mit Ornamenten verziert.

Auf dem Boden des Hauptschiffes stehen die Kirchenbänke, die zwischen den Pfeilern bis in die Seitenschiffe hineinragen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einfache, hintereinander aufgereihte lange Bänke, wie man sie aus vielen Kirchen kennt. Zwar sind die hiesigen, in hellem Grau gehaltenen Sitzgelegenheiten ebenfalls aus Holz und sehen mit ihren senkrechten Lehnen, die in strengen rechten Winkeln zur Sitzfläche stehen, auch genauso unbequem aus wie anderswo, doch hat man hier jeweils mehrere dieser Bänke zu Blöcken zusammengefügt, eingefaßt von hölzernen Wänden, die die gleiche Höhe wie die Banklehnen aufweisen und in denen Türen den Zugang zu den einzelnen Bänken gewähren. Es handelt sich um ein sogenanntes Kastengestühl.

Über dem Mittelgang, der zwischen den Kirchenbänken durch das gesamte Hauptschiff verläuft, hängen drei große Kronleuchter aus einem Metall, das ich für Messing halte. Der mittlere, heißt es, sei eine Stiftung Kaspar Kümmelbergs gewesen, der von 1577 bis 1655 lebte und in Barth Bürgermeister war. Die anderen beiden Leuchter hat der Stralsunder Gelbgießer Dominicus Slodt in den Jahren 1589 und 1590 geschaffen. Das Material dafür gewann man aus dem Deckel des Tauffasses, der dafür eingeschmolzen wurde.

Dieses Tauffaß ist ebenfalls noch in der Kirche vorhanden. Ich entdecke es direkt vor der Kanzel, die sich an der nördlichen Längsseite des Hauptschiffes am vom östlichen Ende aus zweiten Pfeiler befindet. Taufbecken habe ich in Kirchen schon viele gesehen, doch ein Tauffaß wie dieses noch nie. Auch als Tauffünte bezeichnet, gehört es zu den ältesten Stücken des Kircheninventars. Vollständig aus sogenanntem Rotmessing beziehungsweise Bronze bestehend, wurde es in der Zeit nach 1360 geschaffen. Daß mir ein so altes Taufbecken aus Metall ungewöhnlich erscheint, kommt nicht von ungefähr. Der ansonsten gebräuchliche Begriff Taufstein hat schließlich durchaus seinen Grund. Und tatsächlich ist das hiesige Exemplar die einzige erhaltene Bronzetaufe in ganz Vorpommern. Im Grundriß achteckig, zeigt das Faß, dessen Höhe ich auf etwa einen Meter und zwanzig Zentimeter schätze, an seinen acht Seiten jeweils zwei übereinanderliegende Reliefbilder. In jedem von ihnen stehen immer zwei Personen, die dem Kreis der Apostel, der christlichen Heiligen und der Figuren biblischer Geschichten entstammen. Am oberen Rand ragt an jeder der acht Kanten ein kleiner Kopf hervor. Menschen und Tiere sind dabei bunt gemischt. Unten ruht das Faß auf einem großen Fuß, dessen Standfläche den achteckigen Grundriß wiederholt. An vier der acht Seiten stehen darauf Figuren, die so gestaltet sind, daß sie das Faß auf ihren Schultern zu tragen scheinen.

An dem Pfeiler, vor dem das Tauffaß steht, windet sich eine steinerne Treppe zum Korb der Kanzel hinauf. Dieser zeigt an seinen Außenseiten in Feldern mit gotischen Formen als Relief gestaltetes steinernes Blattwerk. Die Felder wurden mit einem tiefblauen Hintergrund versehen, über dem sich die Ranken zu winden scheinen. Während an der unmittelbaren Vorderseite des Kanzelkorbes ein aufgeschlagenes Buch mit den beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega in das Blattwerk eingearbeitet wurde, sind es an den Seiten links und rechts davon Spruchbänder, ein Engel und ein Kelch. Am unteren Rand des Kanzelkorbes, der auf einem mächtigen Sockel ruht, blicken kleine Engelsköpfchen dem Betrachter entgegen. Nach oben hin wird die Kanzel durch eine Abdeckung abgeschlossen, die die Form eines gotischen Turmes besitzt und reich gegliedert ist. Im Gegensatz zum steinernen Kanzelkorb besteht diese Abdeckung aus tiefdunklem Holz.

Ausmalung und ornamentale Gestaltung wurden ebenso wie die Kanzel und die Emporen im Zuge der von Stüler vorgenommenen Umgestaltung entweder erneuert oder gänzlich neu geschaffen. Die Emporen befinden sich an den Seitenwänden der äußeren Kirchenschiffe sowie am westlichen Ende des Hauptschiffs. Während erstere aus Holz bestehen und nur eine Etage besitzen, ist die Westempore aus Stein gemauert und weist zwei Ebenen auf, von denen die obere die Orgel trägt. Das bereits vorhandene gewaltige Instrument hatte Stüler mit einem neuen Prospekt versehen lassen, der seinem Gesamtkonzept entsprechend im Stile der Neugotik geschaffen wurde. So bilden insbesondere Kanzel und Orgel eine gestalterische Einheit.

An einem der Pfeiler, deren Grundriß im übrigen ebenfalls achteckig ist – das scheint ein wiederkehrendes Motiv zu sein -, hat man an fünf seiner Seiten lange Tafeln angebracht, deren Form ebenfalls Elemente der Neugotik aufweist. Die darauf zu lesenden langen Namenslisten weisen sie ebenso wie die am oberen Ende sichtbaren Darstellungen von Kränzen und Eisernem Kreuz als Erinnerungsstätte für im Krieg gefallene Soldaten aus. Die Daten aus den Jahren 1914 bis 1918 zeigen, daß es sich um Soldaten handelt, die ihr Leben im Ersten Weltkrieg verloren und sicherlich alle aus Barth stammten. Insgesamt sind es 286 Namen, die für jedes Jahr nach den Ländern gruppiert sind, aus denen ihre Träger nicht zurückkehrten. Frankreich, Flandern, Rußland, Rumänien, Mazedonien – der Orte sind viele. Und wo man kein Land zuordnen konnte, hat man Gruppen wie „Lazarett“ oder „Auf See“ verwendet. Fast dreihundert Männer, an die der damalige Kriegerverein der Stadt mit diesen Tafeln erinnern wollte. Liest man anderswo, daß der Weltkrieg Millionen tote Soldaten zeitigte, ist das stets eine Größenordnung, die nur schwer Eingang in die eigene Vorstellungskraft findet. Doch die Zahl Dreihundert in Bezug zu einer Kleinstadt wie Barth läßt mit einem Mal deutlich werden, wie groß die Verluste an Menschenleben in diesem Krieg wirklich waren und wie sehr sie die Bevölkerung des Landes betrafen. Männer, die in fremde Lande auszogen, um dort irgendeinen Kampf zu kämpfen, der sie und ihr Leben eigentlich nicht betraf, und aus denen sie niemals zurückkehrten – zu ihren Familien, ihren Frauen und Kindern, ihren Müttern und Vätern, ihren Geschwistern, die von nun an ohne sie weiterleben mußten, betroffen von dem Verlust und dem vielleicht nie ganz zu verwindenden Schmerz darüber. Und dennoch wird die Menschheit nicht klüger. Dennoch werden bis zum heutigen Tage immer wieder Kriege geführt, in denen sich Soldaten gegenüberstehen und gegenseitig töten, die sich nicht einmal kennen und einander vorher nie etwas zuleide getan haben, die jedoch durch Kriegspropaganda so aufgehetzt wurden, daß sie ernsthaft glauben, sie kämpften für irgendeine gerechte Sache oder gegen einen bösartigen Feind und helfen, den Frieden zu sichern, indem sie Gewalt ausüben und töten. Und die Bevölkerung zu Hause wähnt sich derweil an der Heimatfront und übt sich in Haß auf den Gegner, in dem sie das personifizierte Böse zu erkennen glaubt, weil es in den Medien der Mächtigen tagtäglich so steht oder gesagt wird. Und keiner erinnert sich daran, was die älteren Generationen über vergangene Kriege erzählten, wieviel Leid sie brachten, wieviel sie unwiederbringlich zerstörten und welche Lehren man doch einst daraus gezogen zu haben glaubte, als man aus voller Überzeugung „Niemals wieder!“ gelobte. Hassen ist ja so einfach, besonders, wenn man über den vermeintlichen Gegner so gut wie nichts weiß, doch alles glaubt, was einem über ihn gesagt wird. Und so kommen zu den vergessenen Denkmälern vergangener Kriege nach und nach neue hinzu, wenn es denn nach den nächsten Kriegen noch Orte gibt, an denen man sie aufstellen kann, und wenn dann noch jemand da ist, der es tut. Nach dem zweiten der großen Weltkriege war das wohl schon nicht mehr der Fall, denn ein ähnliches Denkmal für die darin zu Tode gekommenen Männer Barths findet sich in der Kirche nicht. Vielleicht gab es einfach nur keinen Kriegerverein mehr, der das hätte tun können. Vielleicht waren es auch einfach zu viele Namen, die man hätte auflisten müssen, als daß sie an einen Pfeiler gepaßt hätten. Und wer weiß – wenn es demnächst erneut zu einem großen Krieg kommt, weil die Deutschen wieder einmal glauben, gegen den Russen in den Kampf ziehen zu müssen, weil die Medien ihnen das gesagt haben, dann wird es in dieser Kirche vielleicht nicht einmal mehr einen Pfeiler geben, an dem man ein weiteres Denkmal für die Gefallenen anbringen könnte…

Ich wende mich von den Tafeln mit den Namenslisten ab und gehe den Mittelgang des Kirchenschiffs entlang in Richtung des Chores, der sich am Ostende des Gotteshauses befindet. Ganz traditionell steht hier der Altar. Handelt es sich dabei zumeist um einen großen, mit einem Tuch verhängten Tisch, auf dem ein Kruzifix und vielleicht ein paar Kerzen stehen, so ist dieser hier etwas ganz Besonderes. Zwar gibt es auch hier einen großen Altartisch, doch ist dieser nicht komplett verhängt. Das große weiße Tuch, das ihn bedeckt, hängt nur an den Schmalseiten wenige Zentimeter herunter, doch insbesondere die Vorderseite läßt es frei. Hier hängt lediglich ein etwa ein Meter breites, hellgraues Leinentuch herab, auf dem ein goldfarbenes Kreuz und darüber eine ebensolche Krone eingestickt sind. Links und rechts davon kann man an den beiden seitlichen Enden des Tisches die beiden steinernen Säulen sehen, die ihn tragen, während die hintere Seite von einer massiven Rückwand abgeschlossen wird. Da diese lediglich unter der Tischplatte zu sehen ist und somit in tiefem Schatten liegt, kann ich leider nicht erkennen, ob sie aus Holz oder Stein besteht. Dafür ist die Kante der Altarplatte um so besser zu erkennen. Sie ist mit dicht aneinandergereihten goldenen Sternen verziert. Auf dem Altar stehen zwei große Kerzen auf schwarzen Leuchtern, zwischen denen man eine Vase aufgestellt hat, in der einige dicht mit weißen Blüten besetzte Zweige stecken. Hinter der Vase ragt ein übermannshohes Kruzifix mit einer marmornen Jesusfigur auf. Das beeindruckendste Accessoire des Altars ist jedoch der hohe Sandsteinbaldachin, der ihn überwölbt. Auf vier in einem Quadrat angeordneten starken Pfeilern ruhend, ist er ebenso wie Kanzelhaube und Orgelprospekt im neugotischen Stil gestaltet und sieht aus wie eine kleine Kirche in der großen. An jedem der vier Pfeiler befindet sich am Ansatz des Baldachin-Daches eine steinerne Statue. Die vier Seiten sind mit großen, spitz zulaufenden Bögen versehen, über denen sich jeweils ein dreieckiger Giebel befindet, auf dessen Spitze eine Engelsfigur steht. Im Inneren des Baldachins ist das Dach als Gewölbe gestaltet, dessen in der Mitte befindlicher Schlußstein die Figur einer weißen Taube trägt. Die Felder des Gewölbes sind mit tiefem Blau ausgemalt, auf dem sich eine Vielzahl goldfarbener Sterne befindet, was den schönen Eindruck erweckt, der Tisch des Altars befände sich unter einem prächtigen Sternenhimmel.

Einen solchen sogenannten Ziborium-Altar hatte Stüler ein paar Jahre zuvor bereits in der alten Berliner Garnisonkirche gestaltet[2]Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler … [Weiterlesen]. Dort war es ihm allerdings nicht möglich gewesen, ihn freistehend in der Mitte des Raumes zu plazieren, wie er das hier getan hatte, so daß der Altar gewissermaßen das Zentrum des Chorraumes bildet. In der Garnisonkirche hatte er ihn stattdessen mit der Rückseite an eine Wand anschließen müssen, was ihm andererseits jedoch die Möglichkeit geboten hatte, den Altar mit einem großen Altarbild über dem Tisch zu versehen. Heute wäre es sicher interessant, diese beiden Werke Stülers miteinander zu vergleichen, doch leider ist die Berliner Garnisonkirche im Zweiten Weltkrieg untergegangen – ein Schicksal, das ihr Ziborium-Altar teilte, auch wenn er sich zu dieser Zeit bereits nicht mehr im Kirchenraum befunden hatte, da er bei einem Umbau im Jahre 1899 von dort entfernt worden war.

Die Wände des Chorraums sind mit Scheinemporen versehen. Im unteren Bereich reihen sich als Spitzbögen ausgeführte Felder aneinander, die von als runde Säulen gestalteten Pilastern voneinander getrennt werden. Darüber ist eine Balustrade zu sehen, die den Anschein erweckt, als befände sich darüber eine Empore. Tatsächlich setzen sich jedoch, sieht man einmal vom ersten Drittel des Chorraumes ab, wo das tatsächlich der Fall ist, die Wände unmittelbar fort. Sie zeigen lebensgroße Darstellungen der zwölf Apostel, die der Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, der in hiesigen Gefilden auch als Barths Michelangelo bezeichnet wird, im Rahmen der von Stüler konzipierten und geleiteten Neugestaltung der Kirche geschaffen hat. Die Freskenmalereien sind von beeindruckender Natürlichkeit und wirken regelrecht lebensecht. Die Apostel sind dabei jeweils paarweise angeordnet und scheinen in von gotischen Baldachinen überdachten Nischen zu stehen, die jedoch ebenfalls aufgemalt sind. Jeder von ihnen ist an charakteristischen Gegenständen zu erkennen, mit denen er in der biblischen Geschichte verbunden ist und die er in der hiesigen Darstellung bei sich trägt. Jacobus der Ältere beispielsweise trägt die Jakobsmuschel sowie Pilgerhut und -stab, während Petrus an dem Schlüssel zu erkennen ist. Paulus hält das Schwert und Johannes der Evangelist den Kelch mit der Schlange. Bei einigen von ihnen bedarf es allerdings der Kenntnis ihrer Attribute nicht, denn ihre Namen sind in die steinernen Sockel zu ihren Füßen eingemeißelt.

Die östliche Rückwand des Chores wird in der Mitte von einem riesigen Fenster eingenommen. Es ist wohl das einzige Buntglasfenster der Kirche und vorwiegend mit roten und blauen Ornamenten gestaltet. Nur in seiner Mitte ist eine große Mandorla[3]Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt. zu sehen, in deren Innerem sich das Bildnis Der auferstandene Christus befindet. Es wurde im Jahre 1889 nach Entwürfen von Professor Andreas Müller geschaffen.

Als ich den Chorraum wieder verlassen will, komme ich an einem kleinen Ständer vorüber, der ein einfaches Textblatt trägt. Es weist mich auf zwei weitere von Karl Gottfried Pfannschmidt geschaffene Bildnisse hin, die sich im sogenannten Gurtbogen des Chores befinden. Der Gurtbogen ist der große steinerne Bogen, der gewissermaßen den Eingang in den Chor bildet und diesen vom Kirchenschiff abtrennt. Da ich meinen Blick beim Betreten des Chores auf den in dessen Zentrum befindlichen Altar gerichtet hatte, waren mir die beiden Gemälde völlig entgangen, obwohl sie sich doch in Augenhöhe und damit bedeutend tiefer als die Apostelfresken befanden. Aus dem Text erfahre ich, daß die Nordseite des Bogens Die Menschwerdung Christi zeigt, während auf der Südseite Die Auferstehung Christi zu sehen ist. Folgerichtig ist auf ersterem Gemälde die von den Hirten umgebene Maria zu sehen, die den neugeborenen Jesus auf ihrem Schoß hält, während das letztere den auferstandenen Heiland zeigt. Die Wahl der Themen für die beiden Gemälde, so heißt es in dem Text, geht auf Pfannschmidt selbst zurück, der sie vorschlug, nachdem Stüler im Anschluß an die Besichtigung der gerade fertiggestellten Apostelfresken angeregt hatte, daß man doch auch den unteren Teil des Gurtbogens noch mit weiteren Malereien Pfannschmidts versehen solle, um zu ermöglichen, daß die großartige Malkunst des Künstlers auch aus der Nähe gesehen werden könne. Und tatsächlich, so beeindruckend und schön die Darstellungen der Apostel im Chor der Sankt-Marien-Kirche auch sind, erst die Betrachtung dieser beiden Gemälde, die ich gewissermaßen direkt vor Augen nehmen kann, läßt mich die großartige Malkunst des Barther Michelangelo so richtig würdigen. Derart lebensechte Darstellungen habe ich in einer Kirche auf den dort üblichen Bildwerken selten zu sehen bekommen. Meist scheinen mir die Malereien religiös stark überhöht, die Figuren entrückt und weit jenseits gewöhnlicher Menschen zu sein. Ein Eindruck, der wahrscheinlich durchaus gewollt ist. Hier jedoch kann ich nicht umhin zu meinen, ganz gewöhnliche Menschen – im besten Sinne – vor mir zu sehen, wie man sie in jenen Zeiten allerorten hätte treffen können. Und doch strahlen die Gemälde gleichzeitig etwas Erhabenes aus, jedoch auf eine Weise, daß man sich als Betrachter nicht klein und weit davon entfernt fühlt.

Über ihren Schöpfer, den Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, erfahre ich später noch, daß er, der ursprünglich aus Mühlhausen in Thüringen stammte, sein Leben in meiner Heimatstadt Berlin beendet hat und auf dem Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof bestattet wurde, wo sein Grab seit 1984 ein Ehrengrab der Stadt Berlin ist. Zu seinen Lebzeiten hatte er gemeinsam mit Peter von Cornelius an der Ausschmückung der Vorhalle des Alten Museums gearbeitet und mit Wilhelm von Kaulbach die Ausmalung des Treppenhauses des Neuen Museums vorgenommen. Manchmal muß man erst ein Stück in die Ferne reisen, um etwas über die eigene Heimat zu erfahren.

Ich bewundere die Bildnisse, den Altarraum und die gesamte Kirche noch eine Weile, doch schließlich habe ich alles eingehend in Augenschein genommen, so daß es Zeit ist, das Gotteshaus wieder zu verlassen. Langsam begebe ich mich zum Ausgang, wo ich durch ein Hinweisschild noch auf die Bibliothek der Kirche aufmerksam werde, die sich in der nördlichen Seitenhalle des Turmes befindet. Sie wurde bereits im Jahr 1398 erstmals erwähnt und umfaßt etwa viertausend vorwiegend kirchengeschichtliche Werke – Handschriften, Bücher und Drucke. Darunter sind nicht nur die umfangreiche Sammlung des Barther Reformators Johannes Block, sondern auch die Erstausgaben sämtlicher Schriften Martin Luthers sowie einige Schriften Philipp Melanchthons. Zwei Weltkriege hatten ihr glücklicherweise nichts anhaben können, so daß sie heute weitgehend vollständig erhalten ist. Leider ist sie nicht öffentlich zugänglich, so daß ich sie nicht selbst in Augenschein nehmen kann.

Als ich schließlich durch die seitliche Kirchentür, durch die ich hereingekommen war, wieder ins Freie trete, muß ich feststellen, daß der Wettergott die Zeit weidlich genutzt hat, um den Regen noch zu verstärken. Nun nieselt es nicht mehr nur, sondern pladdert regelrecht. Zwar kann ich auf dem Straßenbelag noch keine Blasen sich  bilden sehen, doch kann das auch daran liegen, daß dieser hier konsequent aus Kopfsteinpflaster besteht, von dem ich nicht weiß, ob Regen darauf üblicherweise Blasen bildet.

Nun, das ist weniger schön. Doch will ich mich davon nicht abschrecken lassen. Das wäre ja noch schöner, denke ich. Wie heißt es doch so treffend? Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unangepaßte Kleidung. Genau! Das bißchen Regen wird mich nicht davon abhalten, mir die Stadt anzusehen.

Mutig laufe ich los. Zunächst geht es zur Westseite der Kirche, denn in dieser Richtung muß, wie ich weiß, das alte Stadttor liegen. Schließlich war mein Bus vorhin von Westen aus in die Stadt hineingefahren. Dort angekommen, finde ich mich vor einem großen Eingangsportal wieder, dessen Spitzbogen von einer dreifach abgestuften Ziegeleinfassung gebildet wird und das damit dem Seitenportal, durch das ich die Kirche zuvor betreten hatte, recht ähnlich ist. Dort waren es allerdings vier Abstufungen gewesen. Die große, zweiflügelige Holztür ist fest verschlossen. Hier kommt niemand hinein oder hinaus. Glücklicherweise hatte ich den an der Nordseite gelegenen offenen Eingang zur Kirche bereits vorher gefunden.

Das westliche Eingangsportal der Barther Sankt-Marien-Kirche
Tag der geschlossenen Tür – Das Westportal der Sankt-Marien-Kirche in Barth läßt an diesem Tag niemanden in die Kirche.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Das Kopfsteinpflaster der Papenstraße, auf der ich unterwegs bin, glänzt vor Nässe, die vom niederprasselnden Regen beständig erneuert wird. Nur wenige Schritte weiter stoße ich auf eine Kreuzung, an der die Papenstraße auf die Dammstraße trifft. An der Ecke steht ein Wohnhaus, dessen prächtige rote Fassade aus einfachen Ziegeln besteht. Über und unter den Fenstern hat man mittels gelber Steine Verzierungen eingemauert. Und zwischen der oberen Etage und dem Erdgeschoß verläuft ein breiter Streifen aus ebensolchen gelben Ziegeln, als habe man das Gebäude mit einer Art zick-zack-gemusterten Bordüre versehen wollen. Das Haus ist der Länge nach entlang der Papenstraße ausgerichtet und wendet der Dammstraße seine schmale Giebelfront zu. Es wirkt mit seinen Verzierungen sehr hübsch, strahlt aber gleichzeitig mit seiner rohen Ziegelfassade eine gewisse Rustikalität aus. Obwohl seine sich in der Dammstraße anschließenden Nachbarhäuser alle eine ähnliche Form aufweisen, ist es leider nur noch eines von zweien unter ihnen, die über eine Backsteinfassade verfügen. Alle anderen Häuser wurden von ihren Besitzern verputzt. Zum Teil hat man dabei auch die klassische Aufteilung in Fensterachsen aufgegeben und stattdessen großformatige Fensteröffnungen geschaffen, die derart riesige Ausmaße haben, daß an den schmalen Giebelfronten nur je eine pro Etage Platz gefunden hat. Dafür ist jedes der Häuser in einer anderen Farbe gehalten, was dem Anblick eine angenehme Buntheit verleiht. Jedes der Gebäude wird nach oben hin durch einen dreieckigen Giebel abgeschlossen. Während sich einige dabei an die klassische geometrische Form halten, bevorzugen andere abgestufte Treppengiebel.

Die Dammstraße in Barth
Kleinstädtische Häuserfront in der Barther Dammstraße.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Der Blick in die Straße hinein offenbart mir nicht nur, daß ich weit und breit der einzige Mensch zu sein scheine, der bei diesem Wetter in der Stadt unterwegs ist, sondern auch die Richtigkeit meiner Annahme, daß sich in dieser Richtung das alte Stadttor befinden müsse, kann ich es doch weiter hinten aufragen sehen. Es nimmt die ganze Breite der schmalen Straße ein.

Es sind nur wenige Schritte zu gehen, dann habe ich das Tor auch schon erreicht. Steht man unmittelbar davor, wirkt es in seiner Wuchtigkeit unglaublich beeindruckend. Trotzig ragt der fünfunddreißig Meter hohe Torturm in den grauen, wolkenverhangenen Himmel auf. Die Straße führt direkt auf ihn zu. Nur widerwillig scheint er ihr Durchlaß gewähren zu wollen, denn die spitzbogige Toröffnung ist, obwohl schon die kopfsteingepflasterte Fahrbahn nicht eben breit genannt werden kann, noch einmal schmaler als diese. Darüber ragt die glatte, aus Ziegeln festgefügte Turmwand auf, bis sich im dritten Stock endlich zwei kleine Bogenfenster zeigen. Ob sie über Fensterscheiben verfügen oder einfach die schwarzen Löcher sind, als die sie von hier unten erscheinen, kann ich nicht erkennen. Der vierte Stock tut es dem dritten gleich, allerdings scheinen hier die Fenster schmaler zu sein. Die fünfte Etage besitzt anstelle von Fensteröffnungen nur mehr ein kleines Guckloch, das sich in einem Erker befindet, dessen unteres Ende ebenfalls eine Öffnung zu haben scheint. Und in der Tat – diese sogenannten Trauferker, von denen es an jeder Seite des Turmes einen gibt, waren als sogenannte Pechnasen gestaltet, durch die man auf etwaige Angreifer hätte siedendes Pech hinabgießen können. Darüber erhebt sich das Spitzdach des Turmes, das von einer Wetterfahne bekrönt wird und an jeder Ecke ebenfalls einen Erker aufweist. Diese vier weiteren Vorsprünge sind diagonal ausgerichtet, besitzen ihr eigenes kleines Spitzdach sowie Gucklöcher.

Das Dammtor in Barth
Trutzturm ohne Funktion – der Turm des Dammtores ist der letzte verbliebene Rest der einstigen mittelalterlichen Wehranlagen der Stadt Barth.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Natürlich war dieser Turm einst nicht als Einzelstück errichtet worden. Vielmehr war er Bestandteil der mittelalterlichen Stadtmauer, in der er gemeinsam mit seinen vier Kameraden, dem Langen Tor im Süden, dem Wiecktor im Osten und dem Fischertor am Hafen im Norden, einen gesicherten Durchgang in die Stadt bot. Er selbst trägt den Namen Dammtor, der auf den Hochwasserschutzdamm Bezug nimmt, der unmittelbar vor ihm begann. Errichtet wurde das Dammtor um das Jahr 1425 herum. Was man von außen natürlich nicht sehen kann, ist der Umstand, daß es im Inneren des Stadttores keine Treppen gab. Von Etage zu Etage gelangte man nur über Leitern, die man jeweils hochziehen mußte, wollte man die nächste Ebene erreichen.

Heute ist nur noch der trutzige Torturm erhalten. Zu Zeiten der Stadtmauer hatte das Dammtor jedoch noch ein vorgelagertes Vortor besessen, von dem der Weg bis zum eigentlichen Haupttor durch Mauern eingefaßt wurde. Auch einen doppelten Wassergraben hatte es gegeben, der vor der Stadtmauer lag und auf dem Weg vom Vor- zum Haupttor überquert werden mußte. Davon ist heute leider nichts mehr zu sehen. Vielmehr wirkt es so, als hätte jemand einst einen großen Turm errichten wollen, sich aber nicht sonderlich darum geschert, ob er mit ihm jemanden behindern oder stören würde, und ihn so mitten auf der Straße plaziert. Weder Stadtmauer noch Vortor noch Wassergraben sind heute noch vorhanden. Lediglich ein paar Reste schmiedeeiserner Torangeln in den Mauern der Durchfahrt zeugen davon, daß diese nicht immer so offengestanden hatte wie heute, sondern mit schweren Holzbohlentoren verschlossen werden konnte.

Warum das Dammtor nicht wie seine anderen drei Pendants und die Stadtmauer insgesamt im 19. Jahrhundert abgerissen wurde, scheint heute nicht ganz klar zu sein. Die an seinen Mauern angebrachten Texttafeln, die ein wenig aus der Geschichte der Barther Wehranlagen plaudern, wissen dazu leider nichts Genaueres zu berichten. Noch im 20. Jahrhundert hatte man Pläne dafür gemacht, doch letztlich lediglich ein paar angrenzende Häuser abgerissen. So blieb das Dammtor als einziges der einstigen vier Stadttore Barths bis zum heutigen Tag erhalten. Daß hier allerdings der Bus, der mich in die Stadt gebracht hatte, nicht versuchte, durch die Toröffnung zu fahren, leuchtet mir angesichts ihrer Enge unmittelbar ein. Er wäre, hätte er es getan, wohl geradewegs steckengeblieben. Mit unserem kleinen Trabant 601 S war das hingegen damals kein Problem gewesen, und so ist mir die Durchfahrt durch das Tor nach wie vor in Erinnerung. Heute kann ich immerhin hindurchlaufen. Und das tue ich auch. Schon, um wenigstens für ein paar Sekunden einmal nicht im Regen zu stehen.

Da es in der Barthestraße, die die Dammstraße auf der anderen Seite des Torturms fortsetzt, nichts weiter zu sehen gibt, was für mich von Interesse wäre, wende ich mich wieder um und gehe in die Stadt zurück. An der Ecke Dammstraße und Papenstraße würdige ich noch einmal den prachtvollen Anblick der Sankt-Marien-Kirche, von dem ich vorher, als ich in der Gegenrichtung unterwegs gewesen war, keine Notiz genommen hatte.

Die Sankt-Marien-Kirche in Barth
Norddeutsche Backsteinromantik – die Barther Sankt-Marien-Kirche.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich gehe nun auf dieser, der Südseite der Kirche entlang, die ebenfalls durch eine kleine Grünanlage von der Straße getrennt ist. Auch hier gibt es ein in der Mitte der Kirchenwand gelegenes zweiflügeliges Portal, das den anderen beiden stark ähnelt, sich andererseits jedoch von ihnen dadurch unterscheidet, daß auf den Türflügeln zwei große preußische Kreuze zu sehen sind. Auch ist der Spitzbogen hier wieder mit vier Abstufungen versehen. Die Prüfung, ob die Tür offen oder verschlossen ist, spare ich mir diesmal allerdings und gehe weiter an der Grünanlage entlang. An ihrem östlichen Ende stoße ich auf einen großen metallenen Gegenstand, der hier auf der Rasenfläche abgelegt worden ist. Es handelt sich um eine große Glocke, die bei mir mit ihren beeindruckenden Ausmaßen einigen Eindruck schindet.

Eine Grünanlage scheint mir allerdings ein eher ungewöhnlicher Aufbewahrungsort für eine Kirchenglocke – denn um eine solche handelt es sich bei dem guten Stück unzweifelhaft – zu sein. Ganz sicher wird sie hier an diesem Ort keinen Ton mehr produzieren. Doch das muß sie auch nicht, denn sie ist eine der beiden Eisenglocken, mit denen man im Jahre 1925 die zwei kleineren der insgesamt drei Glocken der Kirche ersetzte. Weil Eisen jedoch als Glockenmaterial nicht sonderlich gut geeignet ist, da es nach nicht allzu langer Zeit ermüdet, mußte man die beiden Glocken bereits runde siebzig Jahre später stillegen. Das war 1997. Während die eine von ihnen im Stockwerk unterhalb der Glockenstube in der Kirche verblieb, legte man die andere an dieser Stelle vor der Kirche ab. Die dritte im Bunde, die große Glocke, wurde im Jahre 1911 gegossen, wobei man sich allerdings – wie bereits zweimal zuvor – an der 1585 gegossenen ersten Glocke orientierte. Vielleicht wollte man neben der Rücksicht auf Traditionen auch den mit ihr verbundenen Superlativ nicht verlieren, ist sie doch die zweitgrößte Bronzeglocke Vorpommerns.

Die Sankt-Marien-Kirche in Barth
Was macht eine Glocke auf dem Rasen? – Die ausrangierte Kirchenglocke von Sankt Marien in Barth.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nach wie vor prasselt der Regen ununterbrochen hernieder. Und wie ich mir nun eingestehen muß, ist es ihm mit seiner unverminderten Stärke mittlerweile gelungen, meinen Trotz, den ich ihm zuvor beim Verlassen der Kirche entgegengebracht hatte, Stück für Stück aufzuweichen. Zwar hält ihn meine Regenjacke nach wie vor wirksam von mir ab, doch erweist sich ein Stadtbummel bei Dauerregen dann doch als wenig erbauliche Angelegenheit, zumal inzwischen auch die Kälte beginnt, vom Boden aufzusteigen, meine Schuhe und Strümpfe zu überwinden und meine Beine hinaufzuklettern. So erkenne ich denn zähneknirschend den Sieg des Wetters über meine Pläne und meinen Willen, ihm zu trotzen, an und beschließe schweren Herzens, meinen Ausflug abzubrechen und zurückzufahren.

Ist eine Entscheidung, so ungeliebt sie auch sein mag, einmal gefallen, setzt sie doch neue Energie frei. Und auch das Denken und die eigene Stimmung passen sich unmittelbar daran an, wie ich interessiert an mir selbst beobachten kann. War ich zuvor noch voller Enthusiasmus gewesen, mir alles in der Stadt anzusehen, Neues zu entdecken oder auch auf alte Erinnerungen zu stoßen, so bin ich nun, da ich beschlossen habe, den Regen Regen sein zu lassen und nach Prerow zurückzukehren, nur noch daran interessiert, zu einer Bushaltestelle zu gelangen, wo ich mich in einen Bus setzen und Kälte und Regen für eine Weile entkommen kann. Nun, vielleicht ist es aber auch das Mißempfinden, das mich angesichts fortdauernder Nässe und aufsteigender Kälte befallen hat, das es mir jetzt verleidet, irgendwo noch einmal anzuhalten und eine schöne Hausfassade oder einen anderen interessanten Ort zu bewundern. Nicht gerade mißmutig, doch konsequent verfolge ich mein neues Vorhaben und gehe raschen Schrittes zurück zum Marktplatz und von dort durch die Lange Straße direkt zum Bahnhof. Ich hätte auch zurück zum Hafen gehen können, was vielleicht geringfügig näher gewesen wäre, doch erscheint mir das Warten auf den Bus am Ufer des Boddens, wo der Wind ungehindert wehen und mir den Regen um die Ohren schlagen kann, als die weniger attraktive Alternative.

Von der Langen Straße registriere ich auf meinem Weg eigentlich nur noch, daß sie wohl die Hauptgeschäftsstraße der Stadt ist, denn ich komme an einer Vielzahl von Geschäften aller Art vorüber. Auch daß es hier einige sehenswerte Gebäude gibt, deren eingehendere Betrachtung sich lohnen würde, bemerke ich zwar durchaus wohlwollend, doch weil der Regen seine Intensität nun sogar noch einmal verstärkt hat, weiche ich von meinem gefaßten Entschluß dennoch nicht ab. Ihre Besichtigung wird einem zukünftigen weiteren Besuch in Barth ebenso vorbehalten bleiben müssen wie die des Hafens, den ich eigentlich nach meiner Besichtigung der Kirche noch einmal hatte aufsuchen wollen. Ich setze daher gedanklich einen weiteren Barth-Besuch auf die Liste meiner zukünftigen Vorhaben.

Am Ende der Langen Straße angekommen, befinde ich mich direkt am Bahnhof. Ich setze mich in eines der Wartehäuschen, die sich an dem angeschlossenen großen Parkplatz befinden. Als einige Zeit später der Bus vor mir hält, steige ich ein und fahre den Weg zurück, den ich gekommen bin. Der Regen hört während der gesamten Fahrt nicht auf und prasselt auch auf mich herunter, als ich in Prerow von der Bushaltestelle im Zentrum des Ortes zu meiner Pension gehe. Wie es scheint, umfaßt das Regengebiet mittlerweile nicht nur Barth, sondern die gesamte Region der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst.

Es ist früher Nachmittag, als ich schließlich mit leidlich nasser Regenjacke, doch nicht durchnäßt durch die Tür meines Zimmers trete. Ich werde wohl den Rest des Tages hier verbringen müssen. Nun gut, dann soll es eben so sein.

Ich verfolge einige Zeit das Fernsehprogramm, das mir eindrücklich vermittelt, warum es vor einigen Jahren eine ausgesprochen gute Idee war, den Fernseher aus meiner Wohnung zu verbannen. Was man dort an einem Nachmittag wie diesem geboten bekommt, ist kaum anders zu bezeichnen als mit Volksverblödung.

Da gibt es Quizsendungen, in denen die Fragen entweder so trivial sind, daß man sie auch noch beantworten kann, wenn man sein Gehirn im Tanzbein aufbewahrt, oder so abgehoben, daß selbst ein Hochschulstudium einem keine Chance einräumt, über derartiges Nischenwissen zu verfügen.

Auf einem anderen Kanal läuft eine Sendung, in der sich die Protagonisten redlich mühen, eine Gerichtsverhandlung zu simulieren. Weil das aber so billig wie nur irgend möglich produziert wird, sind die Darbietungen der Darsteller, bei denen es sich ganz offensichtlich um Laienschauspieler handelt, derart schlecht, daß jede Schulaufführung dagegen als hohe Schauspielkunst durchgeht. Von der hanebüchenen Story gar nicht zu reden. Wäre diese wirklich wahr, wie man offenbar den Anschein erwecken möchte, müßte man sich als Zuschauer ernsthaft fragen, ob es bei der Polizei eigentlich noch Ermittler gibt, die ihren Beruf verstehen. Offenbar nicht, denn in jeder dieser simulierten Gerichtsverhandlungen müssen die Anwälte und Richter es übernehmen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, was ihnen natürlich stets durch ihre überragenden Fragen gelingt. Und wo die doch einmal nicht weiterhelfen, tritt garantiert irgendein unglaublicher Zufall auf den Plan, der sich natürlich immer genau zum Zeitpunkt dieser Gerichtsverhandlung ereignet. Der Stuß könnte größer nicht sein und beleidigt die Intelligenz des Zuschauers.

Der Rest des Angebots fällt allerdings auch in diese Kategorie oder, was noch schlimmer ist, in die der regelrechten Menschenverachtung. Wer will, kann dabei zusehen, wie Leute aus den untersten Schichten der Gesellschaft, die dafür wahrscheinlich ein paar dürftige Euro kriegen, vor die Kamera gezerrt und bloßgestellt werden. Hier versuchen schwer Übergewichtige abzunehmen und scheitern dabei, dort probieren notorisch Abgebrannte dies und das, um ihre Schulden zu vermindern, was ihnen jedoch nicht gelingt. Und stets sind scheinbar selbstlose Helfer zur Stelle, die letztlich jedoch nichts anderes tun, als diese Menschen vorzuführen und der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben.

Und dann sind da noch die ganzen anderen Formate, die als Realitätsfernsehen beziehungsweise Reality TV angepriesen werden und doch nur aus einer Aneinanderreihung genauso gestellter Szenen bestehen, wie es bei den Gerichtsshows bereits der Fall ist. Da kann man als Zuschauer Polizisten auf Streife begleiten oder Anwälten bei ihren Ermittlungen über die Schulter sehen, die sie mit der Hilfe von Privatdetektiven offenbar selbst anstellen müssen, weil die Polizei dafür keine Zeit mehr hat, da sie doch das Fernsehen auf Streife mitnehmen muß.

Das Nachmittagsprogramm des deutschen Fernsehens ist nach meinem Empfinden mittlerweile durch die Bank so dämlich, daß es definitiv besser ist, man schaltet den Fernseher umgehend wieder aus. Und weil es mit dem Programm zu anderen Tageszeiten nicht viel besser aussieht, habe ich den Fernseher bereits vor einigen Jahren komplett aus meinem Leben verbannt.

Nachdem ich mich nun also davon überzeugt habe, daß es in der Zeit seitdem mit dem Fernsehen nicht besser, sondern eher noch schlimmer geworden ist, schalte ich den Kasten, der heute ja keiner mehr ist, sondern genauso flach wie das Programm, das er zeigt, aus. Mir gefällt der Gedanke, daß sich das Empfangsgerät gewissermaßen dem Inhalt angepaßt hat.

Ich greife zu einem guten Buch und verbringe den Rest dieses regnerischen Tages zufrieden und ohne Gram über die widrigen Umstände in dem Zimmer meiner Pension. So ein Nachmittag der Ruhe ist ja eigentlich auch mal ganz schön…

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Referenzen

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1 Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende verkündet:
„Ton-, Film-, Foto- und Videoaufnahmen sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Die Veröffentlichung von Aufnahmen, auch im Internet, ohne Genehmigung ist verboten!“
So muß in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln.
2 Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler geschaffenen Ziborium-Altars nebst einem Bild findet sich im fünften Teil der Serie, der den Titel Die zweite Garnisonkirche: Neuanfang und Wiederaufstieg trägt.
3 Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt.

Unterwegs auf dem Zingst

Dieser Beitrag ist Teil 5 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

War ich in den vorausgegangenen Tagen zumindest in Teilen auf den mal mehr, mal weniger ausgetretenen Pfaden meiner Erinnerungen an vergangene Zeiten auf dem Darß unterwegs gewesen, so gedenke ich an diesem fünften Tag meines Urlaubs, mich einmal auf neue Wege zu begeben und mir den sich durchaus einiger Bekanntheit erfreuenden Nachbarort von Prerow anzusehen: Zingst. Wie neu diese Wege allerdings wirklich sind, kann ich dabei eigentlich gar nicht genau sagen, denn ich muß immerhin die Möglichkeit einräumen, daß wir diesem Ort in einem unserer damaligen Urlaube doch einmal einen Besuch abgestattet hatten, dies aber – aus welchen Gründen auch immer – nur keinen Eingang in meine Erinnerungen gefunden hat. Doch wie dem auch sei, im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus: mein heutiger Ausflug nach Zingst wird für mich eine kleine Reise in unbekannte Gefilde sein.

Der Beschluß ist also gefaßt, nun heißt es, ihn in die Tat umsetzen. Und das gestaltet sich ausgesprochen einfach, selbst für mich, der beständig ohne eigenen fahrbaren Untersatz hier unterwegs ist. Denn wie ich bereits von meiner Ankunft in Prerow weiß, verkehrt auf der Fischland-Darß-Zingst genannten Halbinsel ein Bus, der Barth mit Ribnitz-Damgarten verbindet und dabei so ziemlich alle auf ihr existierenden Orte anfährt. Und so war ich auf meiner Fahrt hierher in der Tat bereits mit dem Bus durch Zingst hindurchgefahren. Daß nun dieser mich auch in der entgegengesetzten Richtung von Prerow aus dorthin würde bringen können, daran habe ich nicht den kleinsten Zweifel – und behalte Recht damit.

Die Fahrt dauert nicht lange. Gerade einmal zwanzig Minuten braucht der Bus von Haltestelle zu Haltestelle – Prerow Mitte bis Zingst Zentrum. Zum Prerower Hafen geht die Fahrt, dann über den Prerower Strom, am Alten Bahnhof und kurz darauf an der Hohen Düne vorüber, und schon haben wir, also der Bus und ich, die schmale Landenge zwischen Strom und Ostsee passiert. Die Haltestelle Prerow Hertesburg wird angekündigt und ist auch schon vorüber. Hier hält der Bus offenbar so gut wie nie. Nun, viel gibt es hier ja auch nicht zu sehen, wie ich seit dem Vortage weiß. Auf der linken Seite begleitet uns seit der Hohen Düne ein Deich, rechts stehen entlang der Straße Bäume, zwischen denen hin und wieder, mit viel Phantasie und auch nur, wenn man von seiner Existenz weiß, der alte Bahndamm der einstigen Darßbahn zu erahnen ist. Als die Straße schließlich einen weiten Bogen nach rechts vollzieht, um den Ort Zingst zu umgehen, nimmt der Bus einen Abzweig nach links und folgt weiter dem Deich. Kurze Zeit später passieren wir die ersten Häuser und die Straße, auf der wir unterwegs sind, trägt nun einen Namen, mit dem sie an die ehemalige – und vielleicht auch wieder zukünftige – Eisenbahnlinie erinnert: Am Bahndamm. Auch sie führt alsbald vom Deich weg und in das Innere des Ortes hinein. Der Bus fährt am alten Bahnhof von Zingst vorüber, was mir allerdings völlig entgeht, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, daß er noch existiert. Tatsächlich ist das aber der Fall, und das Bahnhofsgebäude beherbergt heute das Wirtshaus Zingst. Von hier aus fahren wir weiter auf der Bahnhofstraße – noch eine aus früheren Zeiten verbliebene Reverenz an die Darßbahn -, die uns mitten hinein ins Zentrum des Seebades bringt. Ein paar Kurven und Abzweige später hat der Bus die Haltestelle Zingst Zentrum erreicht und ich steige aus.

Als der Bus sich wieder entfernt hat, stehe ich zunächst etwas verloren herum. Wie ein Zentrum sieht das hier eigentlich nicht aus. Ganz im Gegenteil. Die Haltestelle bildet das Ende der Straße, die in einem großen Wendekreis ausläuft, mittels dessen der Bus gerade wieder dorthin verschwunden ist, wo er hergekommen war. Rings um den Wendekreis stehen ein paar moderne Gebäude in der Gegend herum, die auf einen ortsfremden Besucher wie mich nicht sehr einladend wirken. Eines trägt über seinem Eingang den Schriftzug Max Hünten Haus Zingst und stellt sich mir damit namentlich vor. Zumindest nehme ich das an. Angesichts der völligen Abwesenheit jeglicher Bindestriche könnte es sich auch einfach nur um die Aneinanderreihung einiger Wörter handeln und damit vielleicht ebenso eine Art Kunstwerk sein wie die vor dem Eingang auf dem Rasen liegende riesige schwarze Brille, die offenbar auf irgendetwas hinweisen soll, das sich mir aber nicht erschließt. Auch als ich später herausfinde, daß sich in dem Gebäude das Zingster Zentrum der Fotografie befindet, wird mir der Sinn dieser Brille nicht viel klarer. Allerdings geht mir das mit moderner Kunst des öfteren so, und so mache ich mir nichts daraus[1]Auf der Suche nach einer Erklärung finde ich auf verschiedenen Seiten im Internet und auch in den sozialen Netzwerken Fotos, die die von Marc Moser geschaffene Brille mal am Strand und mal am … [Weiterlesen].

Ich laufe ein Stück dem Bus hinterher und gelange nach wenigen Schritten über die Jordan- in die Hafenstraße, die mich auf einem kurzen Stück Wegs zu genau dem Ort bringt, nach dem sie benannt ist: dem Zingster Hafen. Genau wie der in Prerow befindet er sich nicht an der Ostsee, sondern an den Boddengewässern. Und genau wie in Prerow liegt er an einem Wasserlauf, der hier allerdings Zingster Strom heißt. Im Gegensatz zum Prerower Strom ist dieser hier allerdings kein Seegatt, sondern lediglich ein Wasserarm des Barther Boddens. Er trennt Zingst von der Insel Kirr, die dem Seebad im Bodden vorgelagert ist. Genau wie sein Prerower Pendant hatte der Strom einstmals auch eine direkte Verbindung zur Ostsee, die sich auf der Ostseite des Ortes befand. Sie war als Folge des großen Sturmhochwassers entstanden, das sich im Februar des Jahres 1625 ereignet hatte. Mit der Zeit versandete sie jedoch wieder und schloß sich schließlich ganz.

So ist der am Ende der Hafenstraße gelegene Hafen von Zingst eben kein Ostsee-, sondern ein Boddenhafen. Besonders groß ist er nicht, doch das ist auch gar nicht notwendig, denn er dient heute vorwiegend nur als Anlegestelle für Ausflugsschiffe. Das war jedoch nicht immer so. Die Anfänge des Hafens reichen ein ganzes Stück in die Geschichte zurück, denn wie man heute vermutet, legten bereits in der Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts hier regelmäßig Segelschiffe an. Als dann im Jahre 1858 die erste regelmäßige Dampferverbindung eingerichtet wurde, die Zingst verkehrstechnisch mit Barth und Stralsund verknüpfte und täglich bedient wurde, brach die große Zeit des Zingster Hafens an. Gemeinsam mit diesem neuen Verkehrsweg gewann er insbesondere für Urlauber schnell an Bedeutung, bildeten die Dampfer doch lange Zeit die einzige Möglichkeit zur Anreise in einigermaßen vertretbarer Zeit. Die Inbetriebnahme der Darßbahn im Jahre 1910 machte der Dampfschiffahrt jedoch schnell den Garaus. Die Verbindungen wurden innerhalb kürzester Zeit vollständig eingestellt. Zwar verlor der Hafen, sieht man einmal von den hier an- und ablegenden Ausflugsschiffen ab, nun seine Bedeutung für die Personenschiffahrt nahezu vollständig, für den Güterverkehr blieb er jedoch weiterhin wichtig. Und auch Fischer- und Sportboote frequentierten ihn nach wie vor.

Der Zingster Hafen
Panorama-Ansicht des Zingster Hafens. Beim ersten Blick darauf kann man das Hafenbecken leicht übersehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Als der Zweite Weltkrieg dann zum Ende der Darßbahn führte, kam es dennoch nicht zu einer Wiederbelebung der Personenschiffahrt. Zunächst hatten die Menschen anderes im Kopf, als an der Ostsee Urlaub zu machen. Und als später der Tourismus schließlich doch wieder zunahm, hatte das Auto als Verkehrsmittel längst die Oberhand gewonnen. Und dennoch gibt es heute wieder ein paar Fahrgastschiffe, die im Zingster Hafen anlegen. Sie bedienen die Fährverbindungen nach Barth, Stralsund und Hiddensee. Und natürlich gibt es auch die Ausflugsschiffe noch, die die Urlauber auf die beliebten Boddenrundfahrten mitnehmen. Diesem eher überschaubaren Schiffsverkehr gemäß ist der Zingster Hafen, ebenso wie sein Prerower Bruder, nicht allzu groß.

Als ich den Hafen erreiche, liegt gerade ein Schiff darin vor Anker, das mir einigermaßen bekannt vorkommt. Schon glaube ich, die Baltic Star vor mir zu sehen, und beginne mich zu wundern, warum sie sich wohl nach meiner gestrigen Fahrt mit ihr auf den Weg hierher nach Zingst gemacht hat, da entdecke ich an ihrer Seite den großen Schriftzug mit dem Schiffsnamen darauf. River Star steht dort in großen blauen Buchstaben auf knallrotem Grund. Es ist das Schwesterschiff der Baltic Star und wie diese ein Schaufelraddampfer im Stil der  nordamerikanischen Flußschiffe, der die Urlauber auf Ausflugsfahrten durch die hiesige Boddenlandschaft mitnimmt. Hier von Zingst aus gehen die Fahrten allerdings nicht in den Bodstedter, sondern in den Barther Bodden.

Nun, mein Bedarf an Boddenrundfahrten ist vorerst hinreichend gedeckt, und so wende ich mich, nachdem ich mich noch ein wenig am Ufer rings um das einzige Hafenbecken umgeschaut habe, wobei es, sieht man einmal von ein paar Läden, drei Restaurants, einigen Fahrradständern, einer Informationstafel zur Historie des Hafens und einer terrassenartigen Kombination aus Treppe und Sitzgelegenheit ab, nicht sonderlich viel Erwähnenswertes zu entdecken gibt, wieder dem Zentrum des Ortes zu, dem mich die Hafenstraße hilfreich entgegenbringt.

Zurück an der Jordanstraße, finde ich mich an einem kleinen, namenlosen, dreieckigen Platz wieder, der von einer Grünanlage eingenommen wird, die ein einzelner riesiger Baum dominiert, um den herum sich ein paar von Rasen umgebene Büsche gruppieren. Welcher Art dieser Baum ist, kann ich nicht mit völliger Sicherheit ausmachen, da sich an seinen Ästen noch kein einziges Blatt sehen läßt. Anhand der Beschaffenheit seiner Rinde tippe ich allerdings auf eine Eiche. Ich überquere die Jordanstraße und schicke mich gerade an, auf ihrer gegenüberliegenden Seite der Hafenstraße weiter zu folgen, da bemerke ich inmitten der Grünanlage ein metallenes Etwas, dessen blankpolierte Oberfläche die grünen Büsche spiegelt, die allerdings gar keine sind, wie ich feststelle, als ich nähertrete, denn sie geben sich als niedrigwachsende Nadelgehölze zu erkennen. Offenbar habe ich das metallische Konstrukt zuerst von seiner rückwärtigen Seite bemerkt, an der ich nicht erkennen kann, um was es sich handelt. Von der Straßenecke aus gesehen kann ich lediglich eine Wand identifizieren.

Ich laufe also um die kleine Grünfläche herum, um auf die andere Seite dieses Was-auch-immer-es-ist zu gelangen. Dort angekommen, werde ich jedoch zunächst auch nicht schlauer. Ich sehe tatsächlich eine glatte, hohe Wand aus Metall vor mir, die auf der Rasenfläche unter dem hohen Baum steht und deren Oberfläche derart stark poliert ist, daß sie wie ein Spiegel wirkt. Auf’s kleinste Detail genau kann ich darin die Szenerie hinter mir und natürlich mich selbst erkennen, einschließlich des strahlend blauen Himmels mit den schneeweißen Wolken, der sich über mir wölbt.  Vor der Wand ist der Boden bis fast an den Weg, auf dem ich stehe, ebenfalls mit einer Metallplatte ausgelegt, die allerdings mit kleinen, langgezogenen metallischen Noppen versehen ist, die in parallelen, diagonal verlaufenden Reihen angeordnet sind. Und weil es Reihen in beiden Diagonalrichtungen gibt, kreuzen sie einander und bilden so ein interessantes Muster. Auf dieser Bodenplatte befinden sich zwei niedrige, parallel zur Wand ausgerichtete Sockel, die die ganze Breite der Platte einnehmen und von denen der eine sie vorn, wo ich stehe, abschließt. Diese etwa sitzhohen Sockel sind, genau wie die Wand, an allen Seiten spiegelglatt poliert, so daß auch sie Spiegelbilder ihrer näheren Umgebung zeigen. Offenbar handelt es sich um irgendeine Art Kunstwerk, doch kann ich mir zunächst keinen Reim darauf machen. Das ändert sich jedoch, als ich die an der Spiegelwand angebrachte und auf deren Oberfläche fast schwarz wirkende Bronzetafel entdecke, auf der sich offenbar eine Aufschrift befindet. Neugierig gehe ich darauf zu, um zu lesen, was dort steht.

DEN OPFERN
VON
KRIEG
UND
GEWALT-
HERRSCHAFT

Daneben sind zwei als Relief gestaltete ernste Gesichter zu sehen, deren Augen geschlossen sind und sich leicht nach vorn neigen, der Schrift entgegen. Ein Denkmal also. Mit seinen sitzhohen Sockeln lädt es ein, hier einen Moment zu verweilen. Doch unabhängig davon, ob man dieser Einladung nun folgt oder nicht, wird man als Betrachter mit seinem Abbild, das die Spiegelflächen erzeugen, gewissermaßen in das Denkmal integriert. Während man über die Opfer vergangener Kriege und Gewaltherrschaften nachdenkt, sieht man sich selbst und wird so daran erinnert, wie schnell man selbst zu einem dieser Opfer werden könnte, sollte die Gesellschaft es noch einmal zulassen, daß sie sich in diese Richtung fehlentwickelt.

Gedenkstätte für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Zingst
Gedenken mit Spiegel – das Denkmal für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in Zingst.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Dieses Denkmal steht an dieser Stelle seit dem 19. November 2006. An diesem Tage eingeweiht, ersetzt es eine vorher an dieser Stelle an einer kleinen Mauer angebrachte Gedenktafel, die zu Zeiten der DDR hier plaziert worden war und an die Opfer des Faschismus erinnerte, was sich insbesondere auf die faschistische Herrschaft in Deutschland in der Zeit von 1933 bis 1945 bezog. Weil sowohl Mauer als auch hölzerne Tafel mit den Jahren recht marode geworden waren, so daß eine Restaurierung nicht mehr möglich war, entschloß sich die Gemeinde dazu, das Denkmal zu schaffen, das ich nun hier vor mir sehe. Damit einher ging dann auch die Umwidmung von einer Erinnerungsstätte, die konkret den Opfern des Faschismus gewidmet war, zu einem verallgemeinerten Gedenkort für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Es war nicht die erste Umwidmung dieser Art. Die vielleicht bekannteste hatte es bereits mit der Neuen Wache in Berlin gegeben. Diese war in der DDR zu einem Mahnmal für die Opfer des Faschismus und des Militarismus gestaltet worden. Nachdem das kleine Land in der BRD aufgegangen war, hatte man sie 1993 neu gestaltet und zu deren zentraler Gedenkstätte für die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft umgewidmet. Doch wie positiv man den Einbezug aller Opfer jeglicher Kriege und Gewalt in das Gedenken immer sehen mag – und damit wird diese Verallgemeinerung schließlich oft genug begründet -, so ist er doch auch problematisch. Denn damit geht auch stets etwas verloren. Es ist der Bezug auf die ganz konkrete Schuld, die das deutsche Volk in der Zeit des deutschen Faschismus in den Jahren 1933 bis 1945 auf sich geladen hat, auf Verbrechen wie den Holocaust, die in der Menschheitsgeschichte aufgrund ihres außerordentlichen und kaum vorstellbaren Umfangs eine traurige Ausnahmestellung besitzen. Und daher wäre es auch heute noch notwendig, die daran erinnernden Gedenkstätten zu erhalten und nicht mit anderen Kriegen und Gewaltherrschaften in einen Topf zu werfen und so zu verallgemeinern. Das Gedenken an die in jener faschistischen Zeit von Deutschen verübten Verbrechen und an deren Opfer mag in die neue Widmung eingeschlossen sein, doch weil es in dieser Verallgemeinerung einfach aufgeht, geht es darin auch unter. Es wird unsichtbar, eines von vielen. Und weil es das eben nicht war, empfinde ich das als hochproblematisch, gerade in Deutschland und gerade in einer Zeit, in der wieder vermehrt Stimmen laut werden, die meinen, es wäre doch nach all der Zeit nun endlich einmal genug mit der Erinnerung an die Schuld. Doch das ist es nicht. Sonst kommt dereinst wieder der Tag, wo all das wiederkehrt, weil niemand die Gefahr mehr kennt und rechtzeitig zu erkennen in der Lage ist.

Von dem Denkmal und der kleinen Grünanlage, in der es steht, gehe ich weiter die Hafenstraße entlang, auf der ich mich nun gemächlich dem Zentrum des Ortes nähere. Wie bereits auch schon am Hafen entdecke ich vereinzelt Informationstafeln, die mich über die Geschichte des Ortes, an dem sie stehen, aufklären. Wie in Prerow markieren sie einen historischen Rundgang durch den Ort. Zwar sind sie weniger zahlreich als jene des Nachbarortes, doch dafür meist etwas ausführlicher in ihrer Beschreibung. Als ich an einem Supermarkt vorüberkomme, stoße ich auf eine dieser Tafeln. Sie erinnert an die einstige HO-Kaufhalle[2]HO stand in der DDR für Handelsorganisation. Das war ein staatliches Unternehmen des Einzelhandels, das mit der Bandbreite der von ihm angebotenen Waren und der ihm unterstehenden Läden alle … [Weiterlesen], die sich zu Zeiten der DDR an seiner Stelle befunden hat und im Jahre 1969 eröffnet worden war. Hier gab es sowohl für die Zingster als auch für die Urlauber die Möglichkeit, die benötigten Waren des täglichen Bedarfs käuflich zu erwerben. Diese Erinnerung an einen Ort des alltäglichen Lebens hat durchaus ihren Charme, und ich registriere interessiert die Unterschiede in der Bewertung, was dem der Geschichte zugeneigten Besucher auf dem jeweiligen Historischen Rundgang in Prerow und Zingst präsentiert wird. Auch in Prerow hatte es, wie ich aus eigener Erinnerung weiß, eine solche Kaufhalle gegeben. Eine diesbezügliche Rundgangstafel suchte ich dort allerdings vergebens. Sicher hätte es auch da irgendetwas Interessantes darüber zu berichten gegeben. Für mich hatte diese Kaufhalle in einem oder zwei unserer Urlaube jedenfalls einige Bedeutung besessen, versuchte ich doch jedes Mal, wenn wir dort einkauften, meine Eltern zu nötigen, verschiedene der regionalen Getränke zu erwerben. Dabei waren weniger die Inhalte der Flaschen für mich wichtig, von denen ich einige, insbesondere die alkoholischen, gar nicht selbst trinken konnte oder wollte. Ich war vielmehr an den Etiketten der Flaschen interessiert, die ich meiner Sammlung einverleiben wollte, die ich damals anzulegen gedachte. Sorgfältig weichte ich sie von den Flaschen ab, trocknete und glättete sie und klebte sie in ein Notizbuch ein. So frönte ich schon als Kind und Jugendlicher leidenschaftlich meinem Sammeltrieb. Irgendetwas habe ich eigentlich immer gerade gesammelt. Mal waren es kleine Eislöffel aus Plastik, auf deren Stiel aus irgendwelchen Gründen Vornamen aufgeprägt waren, dann wieder Kronkorken. Ein anderes Mal sammelte ich die bereits erwähnten Flaschenetiketten, dann, als ich älter wurde, die Programmhefte und Eintrittskarten von mir besuchter Konzert- und Theatervorstellungen. All diese Sammlungen gingen alsbald jedoch wieder den Weg alles Irdischen, denn zum einen fehlte mir der Platz, zum anderen aber auch die zündende Idee, wie ich denn Systematik in die jeweilige Sammlung bringen könnte. So gab ich sie schließlich bald alle wieder auf, nicht jedoch das Sammeln an sich. Hatten die erwähnten Sammelobjekte den Nachteil, daß ihnen kein rechter Unterhaltungs- oder ideeller Wert innewohnte – was sollte man mit Flaschenetiketten, Kronkorken oder Eislöffeln letztlich schon groß anfangen? -, so sah das bei Büchern, Romanheften, Schallplatten oder Briefmarken schon anders aus. Irgendwas habe ich über viele Jahre hinweg eigentlich immer gesammelt. Bis ich irgendwann, schon längst erwachsen, dann doch einmal einsah, daß es besser ist, sich zu beschränken, und zwar auf das, was einem wirklich wichtig ist. Und so sammle ich heute nicht mehr im eigentlichen Sinne, sondern beschränke mich auf einige wenige Dinge, die mir auch wirklich am Herzen liegen; bei Büchern beispielsweise auf einige sehr ausgewählte Autoren, die ich auch tatsächlich lesen will.

Ist es nicht interessant, wie die Gedanken auf Wanderschaft gehen können, wenn man, nichtsahnend durch einen fremden Ort streifend, plötzlich auf eine Informationstafel stößt, die in ihrem kurzen Text über etwas so Alltägliches wie eine einstige HO-Kaufhalle berichtet? Etwas daran hatte eine Erinnerung aus meinem Gedächtnis hervorgeholt und mich in der Zeit zurückversetzt…

Ich reiße mich los und spaziere weiter die Hafenstraße entlang, die sich jetzt zunächst scharf nach links, alsbald aber wieder sanft nach rechts wendet. Kurz darauf finde ich mich erneut auf einem dreieckigen Platz wieder, der ebenfalls eine Grünanlage besitzt. Deutlich größer als der letzte, hat er auch einen eigenen Namen: Postplatz. Und auch die Grünanlage ist erheblich umfangreicher und mit einer stattlichen Anzahl Bäume versehen, die aber ebenfalls alle noch völlig kahl sind. In ihrer Mitte finde ich einen großen Stein, der Ähnlichkeit mit jenem hat, der sich in Prerow auf dem Gemeindeplatz befindet. Nur ruht dieser hier im Gegensatz zu jenem auf einem deutlich weiträumigeren Sockel aus vermauerten Feldsteinen, der zudem auch noch nach beiden Seiten in die Grünanlage ausgreift. Die Aufschrift an der Vorderseite des großen Findlings ist nicht ganz leicht zu entziffern. Mühsam lese ich:

Zum Gedächtnis
der Helden
1914 – 1918

Darüber prangt das Symbol des eisernen Kreuzes. Noch ein Kriegerdenkmal also. Doch anders als in Prerow, wo man offenbar ein mahnendes Gedenken bevorzugt, wie die dortige Inschrift „Die Toten mahnen“ auf dem Stein nahelegt, werden die bei den Eroberungsfeldzügen des Ersten Weltkriegs zu Tode gekommenen Soldaten, wenn ich die Aufschrift richtig entziffert habe, hier als Helden verehrt, eine Auffassung, der ich mich allerdings weder anschließen kann noch will.

Kriegerdenkmal in Zingst
„Helden“-Verehrung in Zingst – das Kriegerdenkmal auf dem Postplatz.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich lasse das Denkmal hinter mir und setze meinen Weg fort. Dort, wo der Postplatz – man hat hier gleich noch ein Stück der von ihm fortführenden Straße mit diesem Namen versehen – auf die Friedenstraße trifft, laufe ich an vier einander außerordentlich ähnlich sehenden Häusern vorüber, von denen drei direkt an der Straße stehen, während sich das vierte, etwas größere diskret in den Hintergrund zurückgezogen hat. Jedes sieht aus wie eine zweistöckige Stadtvilla mit Balkons im oberen Stockwerk, die um die vorderen Ecken gehen und von gelben Ziegelpfeilern getragen werden. Die an der Straße gelegenen Häuser beherbergen in ihren Erdgeschossen kleine Läden. An der Frontseite präsentiert ein jedes dem Betrachter seinen Namen. Nacheinander laufe ich erst an der Villa Nadine vorüber, dann an der Villa Beatrice und zuletzt an der Villa Verena. Den Namen des Hauses im Hintergrund kann ich nicht erkennen und muß ihn daher dem Stadtplan entnehmen: Villa Sophie.  Wie vermutlich in fast jedem Haus hier im Ort – ebenso wie in Prerow – werden in den oberen Stockwerken Ferienwohnungen vermietet.

Die Friedenstraße bringt mich schließlich zur Strandstraße, wo ich das Herz des Seebades erreicht zu haben scheine, denn von hier an befinde ich mich in einer ausgedehnten Fußgängerzone. Diese umfaßt allerdings nicht die gesamte in Nord-Süd-Richtung verlaufene Strandstraße, sondern endet etwa einhundert Meter südlich von meinem jetzigen Standort. Daß ich dort heute bereits gewesen bin, wird mir klar, als ich diese kurze Entfernung zurückgelegt und das Ende – oder den Beginn, je nach Perspektive – der Fußgängerzone erreicht habe. Genau an dieser Stelle mündet die hier endende Bahnhofstraße in die Strandstraße und ich erkenne die Kurve, die die aus ihr kommende Fahrbahn beschreibt, sofort wieder. Hier war ich vorhin, im Bus sitzend, entlanggefahren. Da es an dieser Stelle jedoch für mich nichts weiter von Interesse zu sehen gibt, kehre ich wieder um und gehe die Strandstraße in Richtung Norden weiter. Da sie nicht nur in großen Teilen eine Fußgängerzone ist, sondern auch noch genau auf die Seebrücke des Ortes und damit auf den zentralen Strandabschnitt zuführt, ist sie ohne Zweifel eine der bedeutendsten Straßen in Zingst. Zahlreiche Geschäfte, Cafés und Restaurants säumen den Weg, die sich besonders am Fischmarkt konzentrieren. Dieser ist nur wenige Schritte von der Friedenstraße entfernt und genau wie der Postplatz nicht einfach nur ein großer Platz. Tatsächlich ist der Name auch noch einer kleinen Seitenstraße zugeordnet, die östlich der Strandstraße ein Stück parallel zu ihr verläuft, bevor sie ihren Namen in Klosterstraße ändert. Da ich für diese Eigenart keine Erklärung finden kann, überlege ich mir selbst eine. Ohne es also genau zu wissen, vermute ich, daß der Platz möglicherweise einst viel größer gewesen sein und das gesamte Areal zwischen den beiden Straßen umfaßt haben mochte. Später wurde es vielleicht in Teilen bebaut, so daß die heutige Situation nach und nach entstanden ist. Eine alternative Erklärung, die mir einfällt, bezieht den Namen auf einen realen Markt, auf dem vorwiegend Fische verkauft wurden. Dieser mochte von dem Platz, auf dem er ursprünglich stattfand, immer mehr in die Seitenstraße übergegriffen haben, so daß man irgendwann diese in den Namen einbezog. Doch egal, wie es wirklich gewesen war, der Fischmarkt ist nun meine nächste Station.

Die Strandstraße in Zingst
Der Fischmarkt an der Strandstraße. Doch weder ist ein Strand, noch sind Fische irgendwo zu sehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Doch bevor ich die wenigen Meter auf der Strandstraße zu ihm zurücklege, fällt mir an der Ecke zur Friedenstraße ein Gebäude auf, das ich zwar auch vorher schon bemerkt, jedoch nicht weiter beachtet hatte, weil es auf den ersten Blick wie ein gewöhnliches Wohngebäude aussieht. Es ist ein langgestreckter Bau mit vergleichsweise flachem Spitzdach, der längs entlang der Friedenstraße ausgerichtet ist. In der Mitte wird er von einem etwas erhöhten Gebäudeteil unterbrochen, dessen Dach die gleiche Form aufweist, jedoch quer verläuft. Diesem Mittelteil ist ein vom Boden bis zum Dach reichender Erker vorgesetzt. War ich vorhin etwas achtlos an dem Gebäude vorübergegangen, so fällt mir jetzt, da ich, vom südlichen Ende der Strandstraße zurückkommend, genau darauf zulaufe, auf, daß die beiden Seitenflügel recht unterschiedlich gestaltet sind. Während sich im rechten, östlichen Flügel normale rechteckige Fenster befinden, besitzt der linke, westliche Flügel hohe, schmale Bogenfenster, die von außen aussehen, als seien sie aus vielen kleinen, bunten Glasstücken zusammengesetzt worden. Und auch der Erker des Mittelteils besitzt im Erdgeschoß derartige Bogenfenster, die allerdings bedeutend kleiner ausfallen. Als ich das Gebäude schließlich erreicht habe, bemerke ich an der fensterlosen, der Strandstraße zugewandten Schmalseite eine flache, darin eingelassene Nische, die ebenfalls die Form eines Bogenfensters besitzt. Darin ist ein riesiges, aus Ziegeln geformtes Kreuz eingelassen. Ganz offensichtlich habe ich hier kein gewöhnliches Wohnhaus vor mir. Tatsächlich stehe ich vor der katholischen Kapelle Sankt Michael, in der die Katholische Kirchengemeinde Sankt Bernhard aus Stralsund in Zingst ihre Gottesdienste abhält.

Daß man die Kapelle auf den ersten Blick für ein Wohnhaus halten kann, ist kein Zufall, denn einst war das Gebäude tatsächlich ein altes Seemannshaus. Katholische Gottesdienste gab es in Zingst erst vergleichsweise spät. 1921 sollen die ersten hier gefeiert worden sein. Vier Jahre später begann man mit den sogenannten Kurgottesdiensten, die auch den Urlaubern offenstanden. Doch noch gab es keine eigene Kirche. Diese wurde erst notwendig, als nach dem Zweiten Weltkrieg etwa zweitausend Flüchtlinge in Zingst eintrafen, die katholischen Glaubens waren. Der Pfarrer der Gemeinde erwarb daraufhin das Gebäude an der Friedenstraße, ließ es zum Pfarrhaus umbauen und mit einer Kapelle versehen, die unter das Patronat des Erzengels Michael gestellt wurde. Bis zum heutigen Tage werden in der Kapelle katholische Gottesdienste abgehalten.

Langsam spaziere ich die Strandstraße entlang auf den Fischmarkt und über diesen hinweg. Der Boden ist ein buntes Sammelsurium von Belägen. Hier zieht sich eine geteerte Bahn entlang, dort bilden große, unregelmäßige Steine eine Art hoppeliges Kopfsteinpflaster und wieder woanders liegen ebenmäßig gefertigte, in ihrer Form an Ziegel erinnernde Steine so streng in Reih und Glied, daß die Fugen zwischen ihnen sich in ihrer Breite kaum einmal um einen Millimeter voneinander unterscheiden. Auf dem Platz gibt es kleine mit Rasen ausgelegte und von Hecken eingefaßte Inseln, auf denen vereinzelte Büsche stehen. Und während diese am einen Ende in eine strenge Kugelform gezwungen wurden, läßt man ihnen am anderen in ihrem Wachstum freien Lauf. Rings um den Fischmarkt haben sich einzeln stehende Häuser versammelt, deren einige, die direkt an den Platz grenzen, in ihrem Erdgeschoß einen Laden oder ein Café beherbergen, während andere noch einen Vorgarten zwischen sich und den Platz gesetzt haben, um von diesem etwas Abstand zu gewinnen. Hier wird offenbar einfach nur gewohnt. Allzu viel ist gerade nicht los, und so wandere ich weiter die Strandstraße entlang nach Norden.

Das Bild ändert sich nicht wesentlich. Hier ein Wohnhaus mit Vorgarten, dort ein Laden, dann eine Seitenstraße, ein Restaurant und wieder ein Wohnhaus. Mal nehmen die Läden an Häufigkeit zu, dann ist plötzlich abrupt wieder Schluß mit den Einkaufsmöglichkeiten und ich wandere an einer ein Grundstück begrenzenden Hecke entlang. Es ist nicht gerade eine Einkaufsmeile, auf der ich unterwegs bin, sondern einfach nur die Hauptstraße eines Ortes, in dem es zu dieser Jahreszeit, in der Vorsaison, vergleichsweise ruhig und gemütlich zugeht.

Schließlich erreiche ich einen auf der rechten Straßenseite befindlichen kleinen Ziegelbau, der mir ausgesprochen bekannt vorkommt. Da sich die rechter Hand hinter den Häusern parallel zur Strandstraße verlaufende Klosterstraße nun soweit angenähert hat, daß sie einige Meter voraus mit dieser zusammentrifft, befindet sich das kleine Gebäude genau in der Mitte zwischen den beiden Verkehrswegen. Mit seinem spitz zulaufenden Dach und den an den beiden Schmalseiten jeweils nebeneinanderliegenden zwei großen, doppelflügeligen Toren sieht es der alten Seenotstation von Prerow, die ich bereits an meinem ersten Abend dort entdeckt hatte, ausgesprochen ähnlich. Zwar ist eine entsprechende Aufschrift, wie es sie dort gegeben hatte, hier nicht vorhanden, doch das ovale Emblem mit dem roten Kreuz der Seenotretter ist auch hier zu sehen. Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger Bremen ist in einem Kreis rings um das Symbol zu lesen.

Alter Rettungsschuppen in Zingst
Der alte Rettungsschuppen in Zingst – Biergarten und Traditionskabinett in einem.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Dieser sogenannte Alte Rettungsschuppen wurde im Jahre 1873 durch die Zingster Bürger errichtet. Er sollte den fünf Jahre zuvor bei einem Sturmhochwasser zerstörten Rettungsschuppen ersetzen und diente zur Aufbewahrung der Ruder-Rettungsboote. Lange Jahre erfüllte er seinen Zweck, bis er schließlich außer Dienst gestellt wurde. Doch nach wie vor, und darauf weist das Zeichen über den Toren unmißverständlich hin, wird er von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) genutzt. Sie hat darin ein Traditionskabinett untergebracht, das eine Sammlung historischer Rettungsgeräte aus der Geschichte der hiesigen Rettungsstation beherbergt. Doch im Gegensatz zu seinem Pendant in Prerow kommt hier auch die Öffentlichkeit in den Genuß, von diesem kleinen Bauwerk etwas zu haben, denn zusätzlich ist darin ein kleines Lokal untergebracht, an das sich ein Biergarten anschließt, der genau zwischen den beiden Straßen gelegen ist.

An dem Rettungsschuppen vorbei gelange ich nun auf einen großen, halbkreisförmigen Platz, an dem die Strandstraße endet. Direkt vor mir, gewissermaßen auf dem Durchmesser des Halbkreises, verläuft der schnurgerade Deich, hinter dem ich wohl mit einiger Berechtigung die Ostsee vermuten darf. An seiner halbkreisförmigen Seite wird der Platz, der offenbar keinen Namen hat, von einigen großen Gebäuden gesäumt, die ausnahmslos alle so aussehen, als seien sie noch gar nicht so alt. Auf das große Hotel links von mir trifft das auf jeden Fall zu. Es stellt sich mir an seinem Portikus als Strandhotel vor und gibt sich alle Mühe – durchaus nicht völlig erfolglos, möchte ich anfügen – , den Anschein zu erwecken, als stamme es aus der Zeit der Wende zum 19. Jahrhundert, der großen Ära der Seebäder. Tatsächlich wurde das Hotel erst im Jahre 2006 errichtet und erbringt so den Beweis, daß es auch heutigen Architekten möglich ist, Bauten zu entwerfen, die sich nicht wie Fremdkörper in ihrer Umgebung ausnehmen, sondern gut in den Ort, in dem sie stehen, integrieren.

Das Strandhotel in Zingst
Das Strandhotel in Zingst – ein schöner Bau wie aus einer anderen Zeit.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auch die andere Seite des Platzes wird von einem großen Hotelbau dominiert. Dieser versucht zwar nicht, sich irgendeiner historischen Architektur anzugleichen, paßt sich aber dennoch gut in seine Umgebung ein, auch wenn er um ein Vielfaches größer ist als das Strandhotel. Der Größenzuwachs geht dabei aber nicht in die Höhe, sondern eher in die Breite, nimmt das Aparthotel, wie dieser Bau heißt, doch den gesamten Rand des Platzes von der Strandstraße bis zum Deich hinüber ein. Ich bin immer wieder überrascht, was Architekten der heutigen Zeit für gefällige Bauten zustandebringen, wenn sie nicht versuchen, originell zu sein und einander möglichst großartig zu übertreffen. In einem vergleichsweise kleinen Ort wie Zingst kann man wohl kaum erwarten, mit dem Ergebnis seines Tuns die Aufmerksamkeit der großen weiten Welt zu erringen, wie das in Metropolen wie Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt oder München der Fall ist oder zumindest erhofft wird. So kommt es wohl, daß sich in jenen Städten heutzutage oft Bauten finden, deren Gestaltung so extraordinär, gewaltig und Eindruck schindend wie nur irgend möglich ist, daß man unwillkürlich zu bezweifeln geneigt ist, es könnte dahinter noch irgendeinen anderen Zweck geben als den, herauszustechen, aufzufallen und für genial gehalten zu werden. Dabei ist das Ergebnis oft ein Gebäude, das seine Umgebung völlig ignoriert, so daß es überhaupt nicht dorthin paßt, wo es steht, und dies oftmals nicht nur optisch und ästhetisch, sondern auch bezogen auf das menschliche Umfeld. Oft genug haben die Normalbürger der jeweiligen Stadt überhaupt keinen Bezug zu dieser Art von Gebäude. Weder brauchen sie sie noch nutzen sie sie selbst. Und so ist es mit Sicherheit auch nicht nur die Geltungssucht der Architekten, die zur Errichtung dieser sinnlosen und wenig ästhetischen Protzbauten führt, sondern ganz sicher auch die Manie der jeweiligen Bauherren (oder -damen – ich will ja niemanden ausschließen!), zu repräsentieren, etwas darzustellen und den Nachbarbau möglichst auszustechen. Und das läßt man sich dann eine Menge kosten. Je mehr Geld, desto mehr Geltungsdrang. Zumindest kommt es mir so vor, wenn ich mir die neuen Bauten ansehe, die heute so entstehen, besonders in meiner Heimatstadt Berlin. Man schaue sich nur das Ensemble am Potsdamer Platz an. Was dort entstanden ist, ist lediglich eine Insel inmitten der Stadt, die weder wirklich in diese integriert ist, noch irgendeinen Bezug zu ihr herstellt. Von einem lebendigen Viertel mit Lebens- oder wenigstens Aufenthaltsqualität kann dort keine Rede sein, was man allein schon an den nach wie vor hilflosen Versuchen ablesen kann, aus den Potsdamer-Platz-Arkaden, wie sie früher hießen, irgendetwas Lebendiges, sich selbst Erhaltendes zu machen, das die Menschen anzieht. Nicht einmal ein McDonald’s hat dort überlebt… Ein ähnliches Erscheinungsbild bieten die Neubauten am Bahnhof Zoo, die mit ihrer gewaltigen Höhe vielleicht in Städte wie New York passen mögen, aber nicht nach Berlin und schon gar nicht in das dortige Charlottenburger Umfeld mit seinen Bürgerhäusern. Und was nun am Alexanderplatz geplant und bereits in Bau ist, davon will ich gar nicht erst anfangen…

Doch zurück auf den großen Platz am Ende der Strandstraße in Zingst. Ich überquere die vor dem Deich parallel zu diesem verlaufende Seestraße und anschließend ihn selbst auf dem breiten, die Strandstraße fortsetzenden Weg und finde mich alsbald auf der anderen Seite wieder, wo sich ein weiterer Platz befindet, der ebenfalls keinen Namen hat. Ganz offensichtlich gibt es hier in Zingst noch einiges Potential für Namensgebungen. Direkt voraus gewahre ich eine Schar kleiner Kiefern. Wenn es sich nicht um eine Art handelt, die einfach von selbst nicht größer wird, hat man sie wohl so zurechtgeschnitten, daß die Bäume die Form kleiner Linden oder Obstbäume haben. Das sieht ganz hübsch aus, ich bezweifle aber, daß man sie gefragt hat, ob sie das wollen. Doch sie können sich ja nicht wehren…

An der Seebrücke in Zingst
Hinter dem Deich… geht’s weiter. Mit Wasserwacht, Bistro, Kiosk, Kurhaus und Zugang zum Strand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auf der linken Seite des Platzes stehen zwei vergleichsweise schmucklose, miteinander verbundene Ziegelbauten. Vor dem ersten hat man einige Tische und Bänke auf den Platz gestellt; ein einzelner blauer Sonnenschirm, der jedoch momentan gerade zusammengefaltet ist, leistet ihnen Gesellschaft. Wenn mir das nicht ausreichen sollte, um in dem Gebäude ein gastronomisches Etablissement zu vermuten, so weist mich die Aufschrift Bistro Zentral über den großen Schaufenstern im Erdgeschoß unmißverständlich darauf hin. Am zweiten Gebäude befindet sich ebenfalls ein Schild, auf dem Deutsches Rotes Kreuz zu lesen ist. Hier ist die Wasserwacht des Zingster Strandes untergebracht.

Gegenüber, also auf des Platzes rechter Seite, steht ebenfalls ein Gebäude. Es ist etwa dreimal so groß wie die beiden Bauten linker Hand zusammen und besitzt das Erscheinungsbild eines Fachwerkhauses. Ein genauerer Blick verrät mir jedoch, daß es noch recht neu ist. Keinesfalls ist das, was ich hier vor mir sehe, historisches Fachwerk. Tatsächlich wurde dieses Zingster Kurhaus erst im Jahre 2000 eingeweiht. Obwohl Zingst bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebter Badeort gewesen ist, besaß der Ort lange Zeit kein Kurhaus. Das erste wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahre 1948 errichtet. Es stand ziemlich genau fünfzig Jahre, denn 1998 riß man es wegen Baufälligkeit ab und errichtete umgehend ein neues Gebäude, das ich nun vor mir sehe.

Hinter dem Platz führt der Weg weiter unter den Kiefern hindurch, über die Düne zum Strand. Hier beginnt der Sand. Doch anders als an anderen Strandzugängen muß man hier nicht zwingend hindurchstapfen, um an’s Meer zu kommen. Oder in diesem Fall besser über’s Meer. Denn am hiesigen Hauptzugang zum Zingster Strand hat man im Jahre 1993 eine Seebrücke errichtet. Mit ihren zweihundertsiebzig Metern Länge und zweieinhalb Metern Breite ist sie ein vergleichsweise einfacher Vertreter ihrer Zunft. Wer also einen über den Wellen sich erhebenden Brückenkiosk oder ähnliches erwartet, dürfte enttäuscht werden. Die Seebrücke erinnert eher an einen übergroßen, mit Geländern versehenen Steg, über den man Zugang zu anlegenden Schiffen erlangt, die wegen der benötigten größeren Wassertiefe nur weiter draußen ankern können. Bereits vor Errichtung der heutigen Seebrücke gab es hier ein entsprechendes Bauwerk, das Ende des 19. Jahrhunderts entstand und auch als Seebrücke bezeichnet wurde. Allerdings war das ein wenig hochtrabend, denn eigentlich handelte es sich um nicht viel mehr als einen etwas größeren Steg. Er diente kleineren Zubringerbooten zum Anlegen, die die Aufgabe hatten, die Passagiere zu den voraus liegenden Dampfern zu bringen. Diesem Steg hatten Meerwasser, Eis und Schnee über die Jahre so zugesetzt, daß er im Jahre 1947, mittlerweile völlig marode, nur noch abgerissen werden konnte. Der ihm so viele Jahre später nachfolgende Neubau wurde dann ungleich größer.

Der Strand selbst unterscheidet sich eigentlich kaum vom Nordstrand in Prerow, sieht man einmal davon ab, daß hier in regelmäßigen Abständen lange Reihen von Holzpflöcken ins Wasser hineinragen. Diese sogenannten Buhnen dienen, ebenso wie Deich, Dünenwald und die Düne selbst, dem Küstenschutz. Bei heftigen auflandigen Winden betätigen sie sich als Wellenbrecher. Sowohl in westlicher als auch in östlicher Richtung reihen sie sich bis zum Horizont endlos aneinander. Doch ansonsten bietet sich mir dasselbe Bild. Auf die Bäume des hier recht schmalen Waldstreifens folgt die grasbewachsene Düne, an die sich der breite Sandstrand anschließt, an den die von den Buhnen gezähmten Wellen branden – oder branden würden, wenn es denn wenigstens ein kleines bißchen Wind gäbe. Doch der legt heute offenbar einen Ruhetag ein, so daß sich das Meer, wenn auch nicht spiegelglatt, so doch zumindest vollständig wellenlos präsentiert.

Buhnen am Strand von Zingst
Alles voller Pfosten hier – Buhnen am Zingster Ostseestrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die Pfeiler der Seebrücke, auf die ich mich nun begebe, sind allerdings nicht aus Holz. Sie bestehen aus solidem Stahl und sind tief in den sandigen Meeresboden hineingerammt worden. Wie das gemacht wird, habe ich zwei Tage zuvor in Prerow bereits beobachten können. So fühle ich mich denn auf den Planken der über den Wassern der Ostsee hinführenden Seebrücke ausgesprochen sicher, zumal zu ihren beiden Seiten aus dicken Holzbalken bestehende Geländer jegliches unvermitteltes Hinabfallen wirksam verhindern.

Es ist jetzt Mittag. Das behauptet jedenfalls meine Uhr. Doch da wir in Europa nach wie vor alljährlich den Unsinn der sommerzeitlichen Uhrenumstellung vollführen, hat die Sonne ihren höchsten Stand trotzdem noch nicht erreicht. Auf der Seebrücke sind zahlreiche Menschen unterwegs, die in beide Richtungen flanieren, die einen auf’s Meer hinaus, die anderen zurück gen Strand. Und doch sind es glücklicherweise nicht genug, um von einem Massenandrang sprechen zu müssen. Ganz im Gegenteil. Ganz gelassen und in Ruhe kann ich, ohne jemanden zu stören oder meinerseits von anderen gestört zu werden, langsam den langen Steg entlangwandern, immer wieder einmal stehen bleiben und den Ausblick zurück auf den Strand, die Düne, die Bäume und das Kurhaus genießen oder hinaus auf’s Meer schauen, wo sich die weitestgehend glatte Fläche des Wassers bis zum Horizont dehnt, dessen schnurgerade Linie in dem weiten Halbkreis von West über Nord nach Ost durch nichts unterbrochen wird, wenn man einmal von den weißen Windrädern des Offshore-Windparks Baltic 1, die natürlich auch hier zu sehen sind, und dem sich im Nordosten erhebenden Hiddenseer Schluckswiek absieht, der hier, wo die Entfernung zu ihm bereits etwas geringer ist, noch deutlicher zu erkennen ist als drüben in Prerow. Es ist ein gemütliches Bummeln auf diesem langen Steg, bei schönstem Wetter und in der Gelassenheit der Vorsaison, die es ermöglicht, die Seele baumeln zu lassen und das Hiersein einfach zu genießen.

Die gesamte Seebrücke entlang hat man in gleichmäßigen Abständen Lampen aufgestellt, die sie auch bei Dunkelheit begehbar machen. Jetzt, bei Tageslicht, benötige ich sie dafür allerdings nicht. Ich bin den langen Steg bereits ein Stück entlanggegangen, da fällt mir in einiger Entfernung voraus ein Gegenstand auf, beim es sich um ein einfaches, aufrecht stehendes Brett zu handeln scheint. Es hält sich, zusammen mit zwei Bänken, auf einer Plattform auf, zu der sich der Steg der Seebrücke für ein paar Meter erweitert. Frage ich mich zunächst, was es damit wohl auf sich haben mag, bemerke ich beim Näherkommen, daß sich etwa auf halber Höhe in der Oberfläche dieses Brettes eine Spirale befindet, die sorgfältig und ausgesprochen akkurat in sie hineingeschnitzt worden ist. Ihre Enden laufen in eleganten, weit geschwungenen Linien zu den beiden vertikalen Enden des Brettes hin aus, während sich in ihrer Mitte ein kreisrundes Loch befindet. Als ich schließlich direkt davorstehe, bemerke ich fasziniert, daß es keineswegs willkürlich in dem Brett positioniert worden ist. Seine Höhe ist exakt so gewählt, daß es, wenn man gerade hindurchblickt, von der Linie des Horizontes in zwei gleich große Halbkreise geteilt wird. In den Bögen der Spirale sind Buchstaben eingraviert. Von außen nach innen lese ich die Worte Zurück zur Quelle allen Seins.

Holzkunstwerk auf der Seebrücke in Zingst
Im Auge des Kunstwerks – diese geschnitzte Skulptur besticht durch ihre Einfachheit. Schnörkellos und doch effektvoll.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Dies ist auch der Name des Kunstwerkes, wie ich einem kleinen metallenen, am Geländer der Seebrücke angebrachten Schildchen entnehmen kann, das mir auch den Namen des Künstlers verrät: Roland Lindner. Kunstwerke dieser Art entdecke ich auf meinem Weg die Seebrücke entlang mehrere. Eines befindet sich ebenfalls auf der Plattform und hat die Form einer Kugel. Diese ist jedoch nicht geschlossen, sondern besitzt eine von oben nach unten verlaufende, geschwungene Öffnung, deren Kanten nach außen gewölbt sind, so daß sie ein wenig an geöffnete Lippen erinnern. Das zwischen ihnen sichtbare Innere ist mit übereinandergelegten Steinen verschiedener Größe angefüllt. Da auch einige dieser Steine auf dem Boden vor der Skulptur liegen, sieht es so aus, als habe sich die Kugel geöffnet und ihren Inhalt ins Freie purzeln lassen. Frucht des Lebens lautet der Name dieses Kunstwerks.

Ein anderes, das sich einige Meter vor der Plattform befindet, wirkt wie ein der Länge nach gespaltener Pfosten, dessen beide Teile auseinanderklaffen. Der so entstandene Spalt ist mit übereinandergelegten großen Steinen gefüllt. Und wieder taucht das Motiv des in Augenhöhe befindlichen Loches auf, durch das man durch das Kunstwerk hindurchsehen kann, diesmal in Form eines durchbohrten Steines. Sofort muß ich an einen Hühnergott denken, liege damit aber nicht ganz richtig, denn das auch hier vorhandene erklärende kleine Schild verkündet mir, daß ich den Abendgruß vom Sonnengott vor mir sehe, der ebenfalls dem Künstler Roland Lindner zu verdanken ist – wie im übrigen alle anderen Kunstwerke auf der Seebrücke auch.

Sie alle wurden sämtlich aus Treibholz geschnitzt. Steine wie die, die in einigen dieser Skulpturen das Schnitzwerk ergänzen, können hier an der Ostsee gefunden werden. Ganz ohne Zweifel verleihen diese Kunstwerke der ansonsten eher nüchtern wirkenden Seebrücke ein gewisses Flair. Ohne sie würde der lange Schiffsanleger lediglich wie der reine Zweckbau wirken, der er doch eigentlich ist.

Und dann habe ich es schließlich erreicht: das Ende der Seebrücke. Es wird von einer weiteren Plattform gebildet, die ebenso breit ist wie die vorige, etwa auf halber Länge gelegene. Und damit etwaige hier ankommende Schiffsreisende auch sofort wissen, wo sie sich befinden, ragen links und rechts des Zugangs zu der Plattform zwei hohen Metallstangen in die Höhe, zwischen denen in luftiger Höhe ein weißes Schild den Steg überspannt, auf dem in großen Lettern ZINGST zu lesen ist. Über dem Ortsnamen kann ich zwei einander zugewandte spitze Winkel erkennen, die zweifellos als stilisierte Darstellung zweier fliegender Seevögel zu interpretieren sind. Ich tippe auf Möwen. Aus der Nähe kann ich dann erkennen, daß sich auch unterhalb des Ortsnamens etwas befindet. Es ist ein in sehr viel kleineren Buchstaben gehaltener Marketing-Slogan, mit dem Zingst für sich wirbt: Halb Insel, halb Paradies. Zunächst bin ich versucht, darüber zu sinnieren, warum hier Insel und Paradies einander gegenübergestellt werden und warum wohl das eine das andere irgendwie auszuschließen scheint. Doch dann erinnere ich mich daran, daß es schließlich nur ein Werbespruch ist, und denke nicht mehr weiter darüber nach.

Auf der Seebrücke in Zingst
Das Ortseingangsschild von Zingst auf der Seebrücke.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Denn schließlich gibt es hier etwas zu sehen, daß ungleich interessanter ist als das Ortsschild. Links neben der Plattform, auf der einige Bänke zum Ausruhen müde gewordener Beine einladen, ragt ein dicker, stählerner Pfahl aus dem Wasser, dessen oberes Ende von einem helmartigen Aufsatz bekrönt wird, der entfernt an einen Tropenhelm erinnert. Oder an eine leicht flachgeklopfte Glocke. Der Pfahl selbst weist keine glatte Oberfläche auf und ist auch nicht rund, sondern besitzt einen Querschnitt in Form eines Polygons mit zehn oder zwölf Ecken, genau kann ich das von hier aus nicht erkennen. An der der Plattform direkt zugewandten Seite dieses Pfahls ist ein Aufsatz angebracht, der von oben nach unten verläuft und mit dem Pfahl im Wasser verschwindet. Flüchtig betrachtet sieht er aus wie eine Miniaturleiter, mit zahllosen dicht beieinanderliegenden Querstreben, die sich zwischen zwei vertikalen äußeren Leisten befinden. Es fällt nicht schwer, in diesem Aufsatz die Laufschiene für ein Zahnrad zu erkennen. Ich vermute, daß es auch auf der der Seebrücke abgewandten Seite des Pfahls eine solche Vorrichtung gibt. Offenbar kann mit ihrer Hilfe etwas diesen Pfahl hinauf- und hinunterfahren. Und richtig, als ich einen Blick über das Geländer hinunter zur Wasseroberfläche werfe, sehe ich, wie ein großes, glockenförmiges, stählernes Ungetüm gerade aus dem Wasser auftaucht und in quälender Langsamkeit den Pfahl nach oben strebt.

Ich habe die Zingster Tauchgondel vor mir. Zusammen mit der Seebrücke im Jahr 1993 eingeweiht, nimmt sie bis zu dreißig Besucher pro Tauchgang mit auf eine Reise in Tiefe. Vier Meter unter der Wasseroberfläche soll man so die Pflanzen- und Tierwelt der Ostsee aus der Nähe betrachten können. Klingt doch eigentlich ganz spannend, denke ich mir, und überlege, ob ich nicht eine Fahrt mitmachen soll, die, so heißt es, nur dreißig Minuten dauert. Als ich jedoch sehe, wie langsam die Tauchgondel unterwegs ist und wie lange sie braucht, bis sie schließlich oben angekommen ist und ihre Insassen hinaus ins Freie treten können, als ich ferner bemerke, wie lang die Schlange der Wartenden für die nächste Tour schon ist, und mir ausrechnen kann, daß ich vermutlich kaum bereits den nächsten Tauchgang mitmachen können werde, und als ich dann auch noch feststelle, daß dieser laut Ankündigung des „Fahrplans“ der letzte vor einer längeren Mittagspause sein würde, nehme ich von diesem Vorhaben Abstand. Lieber will ich, sobald sich der Trubel gelegt hat, den der Aus- und Einstieg der Besucher aus der beziehungsweise in die Gondel auf der Plattform verursachen, noch ein wenig die Ruhe hier auf der Seebrücke, über dem windstillen Meer und unter dem strahlend blauen Himmel mit der freundlich herablächelnden Sonne genießen.

Auf der Seebrücke in Zingst
Abstieg in die Unterwasserwelt – die Zingster Tauchgondel.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich lehne entspannt am Geländer auf der rechten Seite der Plattform und schaue den ungeduldig Wartenden und den nacheinander der Gondel Entsteigenden zu, die sämtlich aufgeregt durcheinanderschwatzen – die einen über das, was sie wohl gleich erwartet, die anderen darüber, was sie gerade erlebt haben. Zwei Frauen, die die Tauchgondel eben verlassen haben, bleiben in meiner Nähe stehen und beugen sich interessiert über das Geländer. Die eine streckt ihren Arm aus und zeigt aufgeregt nach unten.

„Da ist er!“, ruft sie aufgeregt aus.
„Wo?“, fragt die andere und blickt suchend nach unten.
„Na, da! Auf der Leiter! Dort hab‘ ich ihn unten vom Fenster aus gesehen!“

Offenbar haben sie auf ihrer Fahrt in die Unterwasserwelt irgendein Tier beobachtet, das sie nun, wo sie wieder auf der Seebrücke angekommen sind, noch einmal betrachten wollen. Meine Neugier ist geweckt, und so schaue auch ich interessiert über das Geländer nach unten. Direkt neben der Plattform, auf der ich stehe, befindet sich auf stählernen Pfosten eine zweite, niedrigere, zu der eine durch ein zweiflügeliges Gittertor versperrte Treppe hinabführt. Da diese zweite Plattform jedoch nicht über einen durchgängigen Boden verfügt, sondern lediglich aus großen Balken besteht, zwischen denen große Lücken klaffen, durch die ich das Meerwasser darunter sehen kann, erschließt sich mir ihr Zweck nicht so recht. Ich vermute allerdings, daß sie in irgendeiner Form den hier anlegenden Schiffen dient, auch wenn ich mir nicht genau vorstellen kann, wozu. Ich brauche eine kleine Weile, um die Leiter zu finden, die die eine der beiden Frauen erwähnt hat. Als ich sie schließlich entdeckt habe und erkennen kann, daß es sich um eine metallische Ab- und Aufstiegshilfe handelt, die an einem der Pfosten zur Wasseroberfläche hinabführt und vermutlich Wartungszwecken dient, ist es bereits zu spät. Gerade noch kann ich undeutlich einen fellbedeckten Körper im Wasser verschwinden sehen.

„Ach, schade! Jetzt ist er weg!“

Die Frau klingt merkbar enttäuscht. Ob sie wohl auf den Gedanken kommt, daß das Tier – welches auch immer es war – sich wegen ihres lauten Geschreis aus dem Staub gemacht haben könnte?

Die beiden starren noch eine Weile über das Geländer hinab in die Tiefe, doch das Tier läßt sich nicht mehr blicken. Nach einer Weile verlieren sie die Lust und machen sich auf den Weg zurück in Richtung Strand.

Mittlerweile hat sich die Plattform wieder etwas geleert, denn die Besucher, die auf den nächsten Tauchgang gewartet hatten, sind inzwischen alle eingestiegen. Der Mann, der an dem schmalen Zugangssteg die Tickets kontrolliert hatte, folgt ihnen hinein und verschließt die Tür der Tauchglocke von innen. Es dauert noch ein paar Minuten, dann setzt sich das Gefährt in Bewegung. Ebenso langsam, wie es zuvor aufgestiegen war, fährt es nun auch wieder hinab. So dauert es eine ganze lange Weile, bis es schließlich unter der Wasseroberfläche verschwunden ist.

Ich verzichte allerdings darauf, diesen doch vergleichsweise langweiligen Vorgang in seiner vollen Länge zu beobachten, denn ich habe vor der Seebrücke etwas ungleich Interessanteres entdeckt. Bereits bei meinem Eintreffen am Strand hatte ich in westlicher Richtung ein kleines Schiff bemerkt, daß dort in nicht allzu großer Entfernung vom Ufer entweder kreuzte oder vor Anker lag. Einzelheiten hatte ich allerdings nicht erkennen können. Auf meinem Weg die Seebrücke entlang war meine Aufmerksamkeit dann von anderen Dingen in Anspruch genommen worden, so daß ich nicht mehr weiter darauf geachtet hatte, zumal es sich ja sowieso nicht zu bewegen schien. Nun aber bemerke ich es auf einmal in unmittelbarer Nähe zur Seebrücke, auf die es jetzt zuzusteuern scheint. Es handelt sich um ein Schiff in der Größe einer kleinen Yacht, auf dem es allerdings kaum Platz zu geben scheint, um sich darauf aufzuhalten. Während sich im vorderen Drittel das Steuerhaus beziehungsweise die Brücke befindet, ist im hinteren Bereich ein kleineres Beiboot zu sehen, das dort auf dem Deck verankert ist. Darüberhinaus sind allerlei technische Aufbauten vorhanden. Ganz ohne Zweifel handelt es sich nicht um eine Yacht, sondern um einen kleinen Kreuzer. Sein Zweck wird mir sofort klar, als ich an der Seite das mir bereits hinlänglich bekannte Symbol der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger entdecke. Dies ist ein Seenotrettungskreuzer.

Als es in allernächster Nähe vor der Seebrücke vorüberfährt, kann ich den Namen des Schiffes lesen, der in schwarzen Buchstaben an der seiner Seite steht: Nis Randers. Ein merkwürdiger Name, denke ich. Was der wohl bedeutet? Und auch an dem kleinen Tochterboot[3]In der Umgangssprache bekannter ist die Bezeichnung „Beiboot“ für ein einem größeren Schiff beigegebenes Boot. Dieses kann allerdings normalerweise nicht selbständig operieren. Weil … [Weiterlesen], das ganz ohne Zweifel über einen eigenen Antrieb verfügt, ist ein solches Schild zu sehen. Der Name, der dort steht, ist nicht minder merkwürdig, auch wenn ich ihn im Gegensatz zu dem anderen durchaus kenne, denn dort ist einfach nur Uwe zu lesen. Im Augenblick kann ich mir keinen Reim darauf machen, doch interessieren mich die Hintergründe für diese Namensgebung hinreichend genug, um später ein wenig darüber in Erfahrung zu bringen.

Seenotrettungskreuzer vor der Seebrücke von Zingst
Nis Randers und Uwe – gemeinsam unterwegs zum Schutze der Menschen auf See.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nis Randers, so erfahre ich, ist die Titelfigur einer von Otto Ernst verfaßten Ballade über einen Seenotretter[4]Auf der Website Deutschland-Lese ist die Ballade Nis Randers von Otto Ernst zu finden. Weitergehende Informationen zum Schiff der Seenotretter sind auf deren Website seenotretter.de zu finden.. Es geht darin um eine Rettungsaktion, die der Titelheld gemeinsam mit einigen Gefährten unternimmt, um inmitten eines heftigen Sturms einen Schiffbrüchigen von einem vor der Küste gestrandeten Schiff zu holen und so vor dem sicheren Tod zu bewahren. Trotz des Flehens und Bittens seiner ihn zurückhalten wollenden Mutter, die ihren Mann ebenso wie einen Sohn bereits an das Meer verloren hat und sich um einen weiteren Jungen namens Uwe, der auf See verschollen ist, sorgt, macht er sich auf den Weg und riskiert sein Leben, weil er nicht anders kann. Es ist für ihn unvorstellbar, den Schiffbrüchigen um seiner eigenen Sicherheit willen sich selbst zu überlassen. So riskieren er und seine Mannen ihr Leben, wagen sich hinaus auf die aufgepeitschten Wogen, wo es ihnen, obwohl sie mehrmals dem eigenen Untergang nahe sind, gelingt, den Schiffbrüchigen zu retten. Und wie durch ein Wunder entdecken sie in ihm den verlorenen Sohn: „Sagt Mutter, ’s ist Uwe!“

Nun wird mir die Namensgebung beider Schiffe, des Kreuzers und seines Tochterbootes, unmittelbar klar. Seit dem Herbst 2021 sind sie zusammen auf dem Darß stationiert. Ihr Bau wurde ausschließlich durch Spenden, die aus dem ganzen Land eingingen, finanziert. Langsam zieht die Nis Randers an der Seebrücke vorüber und nimmt, wieder ein Stück entfernt, Fahrt auf, um ihre Patrouille fortzusetzen.

Da ich noch immer neugierig darauf bin, welches Tier sich wohl hier an der Zingster Seebrücke aufhalten mag, nehme ich meine frühere Position am Geländer auf der rechten Seite der Plattform wieder ein und schaue gespannt nach unten zu der Leiter. Die Minuten vergehen, doch nichts regt sich. Selbst das Wasser plätschert nur sacht gegen die stählernen Pfeiler. Ich übe mich in Geduld, genieße den durch nichts gehinderten Blick auf die Weite des Meeres, beobachte die Wolken, wie sie langsam ihre Bahn über den Himmel ziehen, schaue hinüber nach Nordosten, wo sich die Hügel des nördlichen Hiddensees über den Horizont erheben, und beobachte die Menschen, die langsam die Seebrücke entlang hierher geschlendert kommen, sich umsehen, ein paar Fotos von sich machen und wieder gehen. Die Zeit verstreicht, erst fünf Minuten, dann zehn, schließlich fünfzehn. Und gerade, als ich beginne, mir zu überlegen, ob ich das Warten nicht doch aufgeben und mich auf den Weg zurück zum Strand machen solle, da ich doch schließlich gar nicht weiß, ob das, worauf ich warte, überhaupt eintreten wird, vernehme ich ein Geräusch, das von unten zu mir heraufdringt. Ein Plätschern, das jedoch lauter als das der kaum vorhandenen Wellchen ist, die gegen die Pfeiler der Seebrücke schlagen. Gespannt schaue ich über das Geländer hinunter zum Fuß der Leiter. Zwei schwarze Knopfaugen schauen zurück.

Von dort, aus dem schattigen Zwischenraum zwischen Leiter und Pfeiler, schaut ein kleiner Geselle zu mir herauf – wie mir scheint, mindestens ebenso neugierig wie ich. Oder ist es Vorsicht? Einer von diesen Menschen könnte ja plötzlich herabgestiegen kommen. Und wer weiß, was die im Schilde führen… Unverwandt ist der Blick aus diesen schwarzen Augen auf mich gerichtet. Nur mit Mühe kann ich im Schatten das Gesicht des Tieres erkennen. Braunes Fell, eine schwarze Nase, die mich ein bißchen an die eines Hundes erinnert, dazu lange, seitlich abstehende Barthaare, wie sie auch Katzen haben, und sehr kleine Ohren. Zwei Pfoten ruhen auf der untersten Sprosse der Leiter, die sich über dem Wasser befindet. Fünf Zehen kann ich erkennen, jede ausgestattet mit einer kleinen Kralle. Der Rest des Körpers befindet sich noch unter der Wasseroberfläche und ist somit nicht zu sehen.

Nach einigen Minuten gespannten gegenseitigen Musterns beschließt das kleine Tier, daß ich wohl keine Gefahr bin, und wagt sich weiter vor. Behende klettert es, seinen Körper geschickt zwischen Leiter und Pfeiler klemmend, die Sprossen hinauf, bis es schließlich auf einer angekommen ist, an der Streben die Leiter mit dem Pfeiler verbinden und sie so an diesem befestigen. Dadurch entsteht eine etwas größere Fläche, die überdies bereits hoch genug über dem Wasser liegt, um von der Sonne erreicht werden zu können. Das kleine Tier, bei dem es sich nach meinem Dafürhalten um einen Fischotter handelt, dreht sich ein paar Mal um sich selbst, bis es eine gemütliche Position gefunden hat, in der es sich gut liegen und das Fell trocknen läßt, dann plaziert es seine Schnauze auf der seitlichen, der Sonne zugewandten Strebe und schließt beseelt die Augen. Endlich Ruhe!

Otter an der Seebrücke in Zingst
Ein Platz an der Sonne – Fischotter beim Sonnenbaden an der Seebrücke in Zingst.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Da ich bemerke, daß mein unentwegtes Hinabschauen über das Geländer Aufmerksamkeit zu erregen beginnt, so daß einige der Umstehenden neugierig zu werden scheinen, was es da unten denn wohl zu sehen gibt, wende ich mich von dem kleinen Kerl ab, da ich nicht möchte, daß seine wohlverdiente Ruhe gestört wird. Die Tauchglocke ist mittlerweile unter Wasser und somit nicht mehr zu sehen, das Seenotrettungsschiff ist nurmehr ein kleiner weißer Punkt, der sich weiter draußen auf dem Meer dahinbewegt, und die Menschen, die nach wie vor hier auf der Plattform am Ende der Seebrücke eintreffen, sich umschauen und wieder gehen, habe ich bereits hinlänglich beobachtet. So mache nun auch ich mich wieder auf den Weg und schlendere langsam den langen Steg zurück zum Strand.

Dort angekommen, entdecke ich auf dem Vorplatz, der sich vor der Seebrücke auf der Düne befindet, ein weiteres der hölzernen Kunstwerke Roland Lindners, das mir zuvor entgangen war. Es ist ebenfalls kugelförmig und weist auf der der Seebrücke zugewandten Seite auch eine völlig glatte Oberfläche auf. Als ich jedoch darum herumgehe, stelle ich fest, daß die andere, dem Land zugewandte Seite sehr zerklüftet ist. Ganz offensichtlich handelt es sich um eine knorrige Wurzel, die der Künstler mit viel Geschick in eine Kugelform gebracht hat. Das Leben ist Veränderung hat er es getauft. Leider ist es der Unsitte zum Opfer gefallen, der so viele frisch zusammengekommene Paare frönen, indem sie an allem, was auch nur entfernt mit einer Brücke zu tun hat und Möglichkeiten bietet, etwas zu befestigen, kleine Vorhängeschlösser anbringen, um aller Welt ihre unverbrüchliche Liebe und deren ewige Dauer zu verkünden. Wie bei so vielem, das in unserer heutigen Zeit plötzlich Mode wird, frage ich mich auch hier, worin dabei eigentlich der Sinn liegt. Zunächst wäre einmal festzuhalten, daß ein irgendwo angehängtes Vorhängeschloß aller Welt gar nichts bringt, da die darauf meist namentlich Verewigten ihr völlig unbekannt sind und sie diese somit auch nicht zu würdigen in der Lage ist. Doch davon einmal abgesehen, finde ich auch das mit einem solchen Schloß verknüpfte Symbol recht eigenartig. Was will es mir sagen? Natürlich, daß es nicht einfach nur Liebe ist – nein, die ewige Liebe soll es sein. Doch damit man sie auch ja nicht verliere, schließt man sie weg? Interessantes Konzept. Und noch dazu eines, daß offenbar nicht durchgängig funktioniert. Schaut man sich nämlich die einschlägigen Statistiken an, kann von ewiger Liebe in vielen Fällen kaum die Rede sein. Denn auch wenn die Zahl der Ehescheidungen in Deutschland seit Beginn der 2000er Jahre durchaus zurückgegangen ist, liegt sie dennoch immer noch recht hoch. Reichlich 137.000 waren es allein im Jahre 2022. Kommen die dann wenigstens zurück und montieren ihr Schloß wieder ab?

Aber darum ginge es doch gar nicht, mag man mir nun entgegenhalten. Das Motiv wäre doch vielmehr, daß das ganz wunderbar romantisch sei. Und dafür fehle mir wohl ganz offenbar der Sinn. Nun, vielleicht ist das so. Vielleicht ist aber auch mein Sinn für Romantik einfach nur nicht in erster Linie darauf ausgerichtet, mich in die Öffentlichkeit zu drängen und mich dieser selbst darzustellen, ob es sie nun interessiert oder nicht. Für mich ist Romantik eher mit Zweisamkeit, der Konzentration auf den Partner und dem Füreinander-da-sein verbunden, mit Stille und Zurückgezogenheit. Die Öffentlichkeit hat da eher wenig verloren. Doch da ist noch ein anderer Aspekt, der mich an dieser Schlössermode stört und vermutlich mit dem Drang zur Selbstdarstellung eng verknüpft ist. Denn wo werden diese Schlösser denn angebracht? Nicht etwa am eigenen Gartentor, der eigenen Haustür oder in sonst einem privaten Raum. Es werden stattdessen historische Bauwerke damit behängt, die oft ihren eigenen ästhetischen Reiz sowie architektonischen wie künstlerischen Wert haben. Oder man verunziert – wie in diesem Fall – Kunstwerke damit. In jedem Fall mißachtet man dabei das Werk des jeweiligen Architekten beziehungsweise Künstlers, indem man es für seine eigenen unmaßgeblichen Zwecke – nun ja – zweckentfremdet. Und dem kann ich dann so gar nichts abgewinnen und empfinde es als störend und ignorant, keineswegs aber romantisch. Und dabei ist von der möglichen Beschädigung des jeweiligen Bau- oder Kunstwerks noch nicht einmal die Rede.

Es mag sein, daß dieser spezielle Fall anders liegt, und der Künstler, der diese Wurzel gestaltet hat, die Praxis, daran Liebesschlösser anzubringen, ausdrücklich begrüßt. Ich weiß es nicht, man müßte ihn fragen. Der Titel der Skulptur scheint mir darauf jedoch keinen Hinweis zu geben, es sei denn, man läßt das Behängen des Kunstwerks mit Schlössern als dessen Veränderung durch das Leben gelten. Nun ja. Doch selbst, wenn dem so sein sollte – soweit wie eine Beschreibung der Seebrücke und der darauf aufgestellten Skulpturen, die mir untergekommen ist und davon spricht, daß Liebende mit diesen Schlössern dieses Kunstwerk mitgestalten, würde ich dennoch nicht gehen[5]Zu finden ist diese Beschreibung auf der Website Fischland-Darß-Zingst., ist doch dieses bunte Sammelsurium Metallschrott, das man an die Wurzeläste gekettet hat, weder besonders schön noch sehenswert.

Wieder an Land angelangt, überlege ich, was ich als nächstes tun soll. Da es mittlerweile früher Nachmittag ist und ich ein leichtes Leeregefühl in der Magengegend verspüre, erscheint mir die Aussicht auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen nicht nur angemessen, sondern auch verlockend. An dem großen, halbrunden Platz am Ende der Strandstraße kann ich kein Café entdecken, das mir auf den ersten Blick zusagt, doch erinnere ich mich, ein solches am Fischmarkt zuvor gesehen zu haben. So mache ich mich auf den Weg dorthin, wobei ich allerdings nicht die Strandstraße, sondern die im weitesten Sinne parallel zu ihr verlaufende Klosterstraße wähle, die gemeinsam mit ersterer den alten Rettungsschuppen einrahmt. Sie führt ebenfalls auf den Fischmarkt und trägt, wie ich bereits weiß, an ihrem hinteren Ende sogar ein Stück seinen Namen. Nachdem ich ein paar Geschäfte und ein großes, gut besuchtes Eiscafé, in dem es keinen freien Platz mehr gibt, hinter mir gelassen habe, führt die Straße zwischen sich zu beiden Seiten aneinanderreihenden Grundstücken hindurch, auf denen von Gärten umgebene Einfamilienhäuser stehen. Als ich allerdings den als Fischmarkt bezeichneten Teil der Straße erreicht habe, säumen Restaurants ihre Seiten. Schließlich öffnet sich zur Rechten hin ein Platz, hinter dem ich die mir bereits hinlänglich bekannte Strandstraße wiederfinde. Ich bin am eigentlichen Fischmarkt angekommen.

Das Café, das ich zuvor bereits bemerkt hatte, erweist sich bei näherer Betrachtung als Restaurant, das den malerischen Namen Zum Klabautermann trägt. Da ich durch die Fenster im Inneren bereits Gäste an den Tischen sitzen sehen kann, trete ich ein, ohne weiter auf die Öffnungszeiten zu achten, und suche mir einen freien Tisch am Fenster. Ich lege ab, setze mich und werfe einen eher oberflächlichen Blick in die Karte. Meiner Erfahrung nach sind die verfügbaren Kuchensorten in Cafés und Restaurants sowieso ein sich täglich änderndes Angebot, für das man in der Speisekarte lediglich den Hinweis vorfindet, man möge sich in der einschlägigen Vitrine selbst ein Bild machen oder sich beim Kellner erkundigen. Es dauert nicht lange, da steht eine Kellnerin neben mir und fragt nach meinem Begehr. Auf meine Bitte um eine Tasse Kaffee und meine Frage, welche Kuchensorten denn zu haben seien, teilt sie mir lakonisch mit, daß es dafür noch zu früh sei. Kaffee und Kuchen könne ich erst in einer knappen halben Stunde bestellen, wenn im Restaurant Kaffeezeit sei.

Natürlich sehe ich meinen Fehler unverzüglich ein. Einfach so eine halbe Stunde vor der Kaffeezeit zu erscheinen und nach Kaffee und Kuchen zu fragen – das geht nun wirklich nicht. Wo kämen wir denn da hin, wenn ein jeder einfach so bestellte, wonach ihm gerade ist? Das wären ja ganz neue Moden. Das absolute Chaos bräche aus. Wie sollte man denn da noch erfolgreich ein Restaurant betreiben? Am Ende müßte man gar noch Kundenservice einführen! Das geht nun wirklich nicht. Zerknirscht bedanke ich mich für die Auskunft und teile reuig mit, daß ich als Gast natürlich gedächte, auf diese Regel unbedingt Rücksicht zu nehmen. Ich würde dann nichts bestellen und wieder gehen. Und das tue ich dann auch.

Kaffee und Kuchen in durchaus guter Qualität bekomme ich dann nur wenige Minuten später bei der auf der anderen Seite des Platzes ansässigen Bäckerei Junge, in der man von einer speziellen Kaffeezeit ganz offensichtlich noch nichts gehört hat und einfach den ganzen Tag über Kaffee ausschenkt und dazu Kuchen verkauft. Zwar muß ich mir beides selbst an der Theke abholen, dafür ist das Stück Kuchen von überdurchschnittlicher Größe und ausgesprochen lecker. Und auch der Kaffee kann sich durchaus sehen beziehungsweise trinken lassen. Zu guter Letzt ist es dann vermutlich auch noch kostengünstiger als im Klabautermann.

Als ich dann frisch gestärkt wieder auf dem Fischmarkt ins Freie trete, lenke ich meine Schritte noch einmal die Strandstraße entlang in Richtung Norden, zurück zur Seebrücke. Mittlerweile ist es halb drei Uhr am Nachmittag und ich habe beschlossen, den Weg zurück nach Prerow zu Fuß zurückzulegen. Direkt am Übergang zur Seebrücke war mir zuvor auf dem Deich ein Wegweiser aufgefallen, dem ich entnehmen konnte, daß die Entfernung bis zu der mir bereits bekannten Hohen Düne nur 5,9 Kilometer betragen würde, wenn ich nur immer geradeaus den Deich entlangwanderte. Da das Wetter unverändert schön ist und ich auf meiner Besuchsliste für Zingst keinen offenen Punkt mehr verzeichnet habe, will ich mich nun also auf den Weg machen.

Der Deich in Zingst
Bis zur Unendlichkeit – und noch viel weiter. Auf dem Deich verliert sich der Weg nach Prerow in der Ferne.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Einige Minuten später stehe ich neben dem Wegweiser auf dem Deich. Links verläuft vor einer Zeile knallgelber Häuser die Seestraße, rechts stehen die Bäume des Dünenwaldes, der hier lediglich einen schmalen Streifens bildet. Dazwischen führt der breite, asphaltierte Weg die Deichkrone entlang in die Unendlichkeit, zu beiden Seiten von den sanft abfallenden Hängen des dem Küstenschutz dienenden Bauwerks gesäumt.

Ich gehe los. Der Deich verläuft über weite Strecken schnurgerade. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Weg es ihm gleichtut und somit selbst nicht allzu viel Abwechslung bietet. Auch der Dünenwald rechts ändert sein Aussehen praktisch nie. Nur auf der linken Seite gibt es immer wieder etwas anderes zu sehen, da sich dort die die Seestraße säumenden Häuser abwechseln. Auf dem Weg selbst sind, solange ich mich noch in Zingst befinde, jede Menge Leute unterwegs, viele mit dem Rad, zahlreiche aber auch zu Fuß. Als ich das Ende der Seestraße und ihre Einmündung in die sich von links nähernde Straße Am Bahndamm erreiche – hier war ich am Vormittag mit dem Bus nach Zingst hineingefahren -, fällt mir links ein Etablissement auf, das sich in einem Flachbau direkt am Deich befindet und ein Restaurant mit Biergarten zu sein scheint, in dem sich angesichts der kühlen Temperaturen allerdings keine Leute aufhalten. Ein an dem Gebäude angebrachtes Schild tut mir kund, das hier der Schnitzel-Kaiser höchstpersönlich zu Tisch bittet. Allerdings sieht es ein wenig so aus, als habe es jemand etwas ungelenk mit der Hand beschrieben. Die Buchstaben weigern sich strikt, sich in der Mitte des Schildes aufzuhalten, und drängen stattdessen an dessen linken Rand, als wollten sie dort zur Hauswand überlaufen. Auch werden sie zum Ende des Namens hin immer kleiner. Ein Ausdruck irgendwie sympathischer Unvollkommenheit.

Mit der Straße Am Bahndamm folgt nun auch die einstige Trasse der Darßbahn dem Deich. Zumindest nehme ich das an, denn zu sehen ist sie nirgends. Das allerdings verwundert auch nicht, denn seit der Stillegung der Bahnlinie sind ja bereits mehrere Jahrzehnte vergangen und das Gelände wurde überbaut. So ist auf der jenseitigen Straßenseite zunächst ein großer Parkplatz zu sehen, hinter dem sich die Häuser des Ortes fortsetzen. Diese enden jedoch gemeinsam mit ersterem, als ein gelbes Schild neben der Straße das Ortsende verkündet. Dahinter schließt sich am Straßenrand dichtes Gebüsch an. Als es sich einige Meter weiter ein wenig lichtet, tritt nun auch der alte Bahndamm unter den Bäumen deutlicher zutage.

Die Zahl der Menschen, die auf dem Deich unterwegs sind, hat hier bereits rapide abgenommen. Fußgänger sehe ich, abgesehen von mir selbst, keine mehr. Hin und wieder überholt mich ein Radfahrer oder es kommt mir einer entgegen. Den kann ich dann bereits schon mehrere Minuten im voraus auf mich zufahren sehen, da der Deich nach wie vor schnurgerade verläuft. Mein Weg wird nur hin und wieder durch einen Übergang unterbrochen, der sich im Dünenwald rechts von mir zu verlieren scheint, von wo er jedoch weiter zum Strand führt. Links Bäume, Büsche und eine Straße, rechts Bäume, dazwischen der sich in der Unendlichkeit verlierende Deich – alles in allem ist das eine recht eintönige Angelegenheit, die das Wandern langweilig macht. So könnte man meinen. Ich empfinde das allerdings nicht so. Bereits seit dem Ende des Ortes bin ich über weite Strecken allein auf dem Deich unterwegs und habe mich in eine gewisse Gleichmäßigkeit der Schritte hineingelaufen. Ohne noch groß darüber nachzudenken, setze ich unentwegt einen Fuß vor den anderen und halte ein schnelles, doch gleichmäßiges Tempo. Fast scheint es mir, als befände ich mich in einem leichten Laufrausch. Meine Gedanken gehen auf Wanderschaft, ich denke über dies und das nach und zähle nebenbei die Überwege, die ich passiere, während ich auf dem Deich unterwegs bin. Jede dieser Passagen hat man nämlich fein säuberlich mit einer Nummer versehen, die jeweils auf einem großen Schild angegeben ist. Was Kennzeichnung, Numerierung und Katalogisierung angeht, da sind wir in Deutschland immer noch einsame Weltspitze. Allerdings war es vermutlich nicht nur übertriebener Hang zur Bürokratie, der hier am Werk gewesen ist. Diese Nummern haben ganz sicher auch einen Zweck. Davon dürfte der, bei einem Notruf im Falle eines Unfalls am Strand oder im Wasser der Ostsee die eigene Position möglichst genau angeben zu können, nicht der unwichtigste sein.

Nach einer Weile erreiche ich den Abzweig, an dem die aus Zingst kommende Straße Am Bahndamm die Umgehungsstraße erreicht. Mein Weg führt weiter den Deich entlang, der immer noch vordergründig geradeaus führt und nur hin und wieder einmal eine leichte Biegung nach rechts oder links macht. Irgendwann passiere ich die mitten im Nirgendwo am Straßenrand gelegene Bushaltestelle Prerow Hertesburg, wenig später werden die Bäume auf der linken Seite lichter, so daß ich zwischen den Stämmen das Wasser des sich nähernden Prerower Stroms blinken sehen kann. Ich habe die schmale Landenge zwischen diesem und der Ostsee erreicht. Nun sind es nur noch einige Meter, bis mir dort, wo der Deich endet, ein weiterer Wegweiser, der an dem Strandübergang kurz vor der Hohen Düne steht, den Weg zurück nach Zingst zeigt. 6,2 Kilometer sollen es ihm zufolge bis ins Ostseeheilbad sein. Interessant. Dreihundert Meter mehr als von Zingst zur Hohen Düne. Wie das wohl kommt? Ob man von hier aus bis zur Zingster Ortsmitte gemessen hat? Ich weiß es nicht.

Wegweiser an der Prerower Hohen Düne
Ein Mysterium: von der Hohen Düne nach Zingst sind es dreihundert Meter mehr als umgekehrt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Da ich den Weg nach Prerow hinein bereits am Tag zuvor über den Strand genommen habe, wähle ich heute die Strecke durch den Dünenwald. Zunächst muß ich zur Hohen Düne und an dieser vorbei, bis ich den charakteristischen Prerower Wegweiser erreiche, den ich ebenfalls schon am Vortag bemerkt hatte. Hier biege ich nun in den Weg ein, der an dieser Stelle auf die Landstraße einmündet. Er bringt mich hinter dem großen Gelände der Ostseeklinik Prerow entlang durch den Dünenwald und endet an einem weiteren Strandübergang. Hier beginnt ein neuer Deich, der interessanterweise jedoch nicht parallel zur Küste verläuft, sondern eine Richtung landeinwärts einschlägt. Was zunächst ungewöhnlich erscheint, erklärt sich jedoch bald, als mir klar wird, daß es sich um eben jenen Deich handelt, der zunächst den Prerower Strom überquert, um diesen anschließend, einen weiten Bogen schlagend, bis an dessen Ende zu begleiten, um so den Ort vor den Wassern des Meeres zu schützen. Und richtig – nach wenigen hundert Metern passiere ich die Märchenhütte und überquere kurz darauf den Strom. Nun dauert es nicht mehr lange, bis ich im Ort und wenig später in meiner Pension angekommen bin.

Doch noch ist der Tag nicht vorüber. Ein, zwei Stunden Ruhe und ein Abendessen später bin ich dann wieder fit genug für einen kleinen Abendspaziergang zum Strand. Ist mein Plan zunächst, dort den Sonnenuntergang zu bewundern, erfährt dieser eine kleine Änderung, als ich auf dem Prerower Hauptübergang am Strom ankomme. Der tagsüber meist gut mit Menschen angefüllte Weg ist um diese Zeit – die Uhr zeigt kurz nach sieben – nur noch spärlich besucht. Die Bänke zu beiden Seiten des Weges, von denen man einen wunderbaren Blick auf die friedliche Wasserfläche des Seegatts und dessen schilfbewachsene Ufer hat, sind nahezu alle unbesetzt. So beschließe ich, hier ein wenig zu verweilen und die abendliche Ruhe, die sich bereits über den Strom gesenkt hat, zu genießen. Meine Wahl fällt auf die Westseite, wo hinter den Bäumen am jenseitigen Ende die Sonne langsam zum Horizont hinuntersinkt.

Der langsam heraufziehende Abend hat den Himmel bunt eingefärbt. Dieser präsentiert eine reichhaltige Farbpalette, die von einem zarten Himmelblau im Zenit über ein kräftigeres Blau bis zu einem feurigen Orange-Rot in der Nähe des westlichen Horizonts reicht, wo es aussieht, als stünde irgendwo ganz weit hinten der Wald in Flammen. Über diese Farbenpracht sind kleine und große Wolken verstreut, die sich hier und da auch einmal zu größeren Wolkenfeldern zusammengetan haben. Diese sind offenbar so stark verdichtet, daß sie es dem Licht nicht mehr erlauben, sie zu durchdringen. Wie in tiefe Schatten getaucht schweben sie über dem Strom auf mich zu, dessen Wasserfläche, von keinem Lüftchen gekräuselt, wie ein ebenerdiger Spiegel wirkt, in dem sich kopfunter eine zweite Welt zu befinden scheint. Wenn ich nur lange genug in diesen Spiegel hineinschaue, gewinne ich den Eindruck, ich müßte mich nur kopfüber hineinstürzen, um direkt in diese andere Welt zu gelangen.

Abenddämmerung am Prerower Strom
Abendliche Welt im Spiegel – Dämmerung am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die Zweige der Bäume um mich herum sind immer noch kahl, so als wollten sie abwarten, ob der aufkommende Frühling die Rückzugsgefechte, die der Winter noch gegen ihn führt, auch wirklich nachhaltig gewinnt. So fällt es schwer, die jeweilige Baumart zu identifizieren, sieht man einmal von den Erlen ab, die sich mit ihren kleinen, tiefschwarzen, vom Vorjahr übriggebliebenen Zapfen deutlich zu erkennen geben. Doch halt, da ist doch ein Baum, der seine kahle Zurückgezogenheit bereits aufzugeben beginnt. An einem Zweig entdecke ich vier kleine Kätzchen – Blütenstände, die von zartem, hellgrauem Flaum umgeben sind, aus dem kleine Spitzen wie Nadeln herausstechen, an deren Enden winzige gelbe Punkte zu sehen sind. Diese kleinen Weidenkätzchen kündigen wie freundliche Boten den nahenden Frühling an, noch bevor die Weide, an deren Zweigen sie sacht in der Abendluft schaukeln, auch nur ein einziges Blatt hervorgebracht hat.

Weidenkätzchen am Prerower Strom
Vorboten des nahenden Frühlings – Weidenkätzchen an einem Zweig.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich bleibe eine ganze lange Weile auf der Bank am Rand des Stroms sitzen und genieße den Frieden und die Stille um mich herum. Weiter und weiter sinkt die Sonne, bis sie so tief steht, daß ihre Strahlen unterhalb eines großen Wolkenfeldes hervorbrechen. Von einem Moment zum anderen scheint der Himmel in Flammen zu stehen, und das nicht nur einmal, sondern dank des großen Spiegels vor mir gleich zweimal. Feuer von oben und Feuer von unten und dazwischen der tiefschwarze Streifen des Waldes, ebenfalls zweigeteilt in Bäume, die aufwärts wachsen, und andere, die nach unten zu streben scheinen. Es ist ein faszinierendes Panorama, das die Natur vor meinen Augen entrollt, wie ein Schauspiel aus einer wunderbaren Welt der Fantasie.

Sonnenuntergang am Prerower Strom
Entflammter Himmel am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Plötzlich höre ich hinter mir aufgeregtes Schnattern. Doch noch bevor ich mich nach dem mir nur allzu bekannten Geräusch umdrehen kann, schwebt ein dunkler Schatten über mich hinweg und vor mir auf den Strom hinaus. Eine einzelne, verspätete Graugans fliegt in die heimatlichen Gefilde ein und kündigt den im Schilf vermutlich verborgenen Artgenossen ihr Kommen an. Von irgendwo weiter entfernt ist tatsächlich eine Antwort zu hören. Die Gans lenkt ihren Flug unverzüglich in die entsprechende Richtung und ist, da sich die abendlichen Schatten inzwischen schon recht weit aus dem Wald heraus- und auf die Wasserfläche hinausgewagt haben, bald meinen Blicken wieder entschwunden.

Diese Störung der abendlichen Ruhe hat jedoch auch mich aus meinem Sinnen gerissen, so daß ich beschließe, meinen Weg in Richtung Strand fortzusetzen. Angesichts der zahlreichen Wolken bezweifle ich zwar, daß es möglich sein wird, die Sonne hinter den Horizont sinken zu sehen, doch auf einen schönen Abendhimmel über dem Meer darf ich wohl nach dem, was sich hier bereits meinen Augen geboten hat, allemal hoffen.

Diese meine Hoffnung wird tatsächlich nicht enttäuscht. Bereits oben auf der Düne ist der entflammte Himmel in all seiner Pracht zu bewundern. Die Sonne wird von den Wolken vollständig verborgen, doch haben diese ein großes Stück des sich über mir wölbenden Firmaments freigelassen, das in allen leuchtenden Farben zwischen knalligem Gelb und feurigem Rot erstrahlt und die es einrahmenden Wolken dafür um so dunkler erscheinen läßt. Das Meer ist noch immer völlig ruhig und eben. Nicht eine Welle läßt sich blicken.

Sonnenuntergang am Prerower Nordstrand
Entflammter Himmel an der Ostsee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Weiter unten am Strand stehen die Strandkörbe verträumt im Sand. Tagsüber von Menschen gut besucht, sind sie nun allesamt leer und verlassen. Im abnehmenden Licht des Tages werden sie nach und nach von den um sich greifenden Schatten verschluckt. Es dauert eine Weile, bis mir bewußt wird, daß das Verlöschen des Lichtes nicht allein dem anhaltenden Sinken der Sonne hinter dem Horizont geschuldet ist, sondern daß auch die Wolken mehr und mehr den Himmel erobern und seine freien Stellen weiter und weiter zurückdrängen. Stumm stehe ich am Ufer des Meeres und schaue zu, wie die Nacht den müden Tag zur Ruhe bringt, bis es schließlich nahezu dunkel ist.

In vollkommener Gelassenheit und innerem Frieden mache ich mich auf den Rückweg, zurück durch den Dünenwald, wandle über den Strom und durch die Straßen des Ortes, in denen mittlerweile kleine Straßenlampen entzündet worden sind, die winzige Inseln des Lichts in die Nacht legen, um abendlichen Spaziergängern wie mir den Weg zu weisen. In mir ist nur noch Ruhe, die Hektik des Alltagslebens in der Großstadt scheint mir in weitester Ferne und ich genieße das Gefühl völliger Entspannung. Ich sollte mir mehr Zeit für Abende wie diesen nehmen…

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Referenzen

Referenzen
1 Auf der Suche nach einer Erklärung finde ich auf verschiedenen Seiten im Internet und auch in den sozialen Netzwerken Fotos, die die von Marc Moser geschaffene Brille mal am Strand und mal am Zingster Hafen zeigen. Offenbar hat sie unmittelbar gar nichts mit dem Fotografie-Zentrum zu tun, sondern wechselt einfach immer mal wieder ihren Standort. Und sie hat sogar einen Namen: Sea Pink II. Sie soll, so heißt es in einer Beschreibung, dazu einladen, die Welt durch einen rosaroten Filter zu betrachten, denn ihre Brillengläser sind von eben dieser Farbe. Nun ja. Für mich ist das etwas zu gewollt.
2 HO stand in der DDR für Handelsorganisation. Das war ein staatliches Unternehmen des Einzelhandels, das mit der Bandbreite der von ihm angebotenen Waren und der ihm unterstehenden Läden alle Bereiche des privaten Lebens umfaßte, von Lebensmitteln bis zu Haushaltswaren.
3 In der Umgangssprache bekannter ist die Bezeichnung „Beiboot“ für ein einem größeren Schiff beigegebenes Boot. Dieses kann allerdings normalerweise nicht selbständig operieren. Weil die von den deutschen Seenotrettern verwendeten „Beiboote“ dazu allerdings in der Lage sind und auch ganz allein unterwegs sein können, werden sie von ihnen eher als Tochterboote bezeichnet (auch wenn sie einen männlichen Namen erhalten haben). Mittlerweile hat sich dieser Begriff für diese Art „Beiboote“ sogar international durchgesetzt. Für diese Erklärung danke ich erneut Christian Stipeldey, dem Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS).
4 Auf der Website Deutschland-Lese ist die Ballade Nis Randers von Otto Ernst zu finden. Weitergehende Informationen zum Schiff der Seenotretter sind auf deren Website seenotretter.de zu finden.
5 Zu finden ist diese Beschreibung auf der Website Fischland-Darß-Zingst.

Ein Nachmittag auf dem Ostkreuz

Am Nachmittag des 2. Juni 2018, einem Sonnabend, veranstaltete der Verein für die Geschichte Berlins e. V., gegründet im Jahre 1865, eine Führung der besonderen Art. Führungen durch Museen oder Ausstellungen jeglicher Art ist man gewohnt. Auch Stadtführungen kennt man zur Genüge. Wenngleich viele davon interessant sind, so sind sie doch meist nichts, was man außergewöhnlich nennen würde. Doch eine Führung über einen Bahnhof? Das gibt es nicht alle Tage. Als Eisenbahn-Liebhaber im allgemeinen und Freund der Berliner S-Bahn im besonderen war es keine Frage, daß ich mir das nicht entgehen lassen durfte.

Unter der überaus sachkundigen Führung von Sven Heinemann, Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin und Autor des Buches „Mythos Ostkreuz“ (VGB-Verlagsgruppe, Fürstenfeldbruck), der bereits mit seinem gleichnamigen Vortrag am 16. Mai 2018 auf das Thema eingestimmt und auf diesen Nachmittag neugierig gemacht hatte, wanderte ich mit den anderen Expeditionsteilnehmern runde zweieinhalb Stunden treppauf, treppab über den Bahnhof und durch seine nähere  Umgebung. Dabei bewegten wir uns ausschließlich auf öffentlich zugänglichem Terrain: Bahnsteige, Straßen, Gehwege, Fußgängerbrücken, Treppen. Gelände also, das Jedermann jederzeit betreten und betrachten kann. Und auch wenn man als Berliner, täglicher S-Bahn-Benutzer oder einfach nur Interessierter meinte, den Bahnhof, auch wenn er in den letzten Jahren massiv umgebaut wurde, zur Genüge zu kennen, so wurde man binnen kurzem eines Besseren belehrt.

Neuer und originaler Pfeiler des Bahnhofsdach von Bahnsteig D.
Neuer und originaler Pfeiler des Bahnhofsdach von Bahnsteig D.
Fotograf: Alexander Glintschert (2018), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Lebendig und anschaulich ließ Heinemann vor dem inneren Auge die Geschichte des Bahnhofs aufleben, berichtete von den Vorgängerbahnhöfen, der Entstehung des Bahnhofs Stralau-Rummelsburg und seiner Entwicklung bis hin zum allseits bekannten und wenig geliebten Rostkreuz, auf die schließlich der große Umbau der letzten Jahre folgte, der leider nur wenig von der historischen Substanz des einstigen Ostkreuzes übrig ließ. Doch dieses Wenige hatte er akribisch aufgespürt und führte es uns vor Augen. Und was wir da im öffentlichen Raum zu sehen bekamen und entdeckten, bewies wieder einmal, daß man meist nur wahrnimmt, was man weiß. Originale Pfeiler des Bahnhofsdaches auf dem Bahnsteig D? Originalteile der (noch nicht völlig wiederhergestellten) Fußgängerbrücke über den gesamten Bahnhof? Welcher der Reisenden, die täglich diesen Bahnhof passieren, nimmt sie wahr? Und wer weiß eigentlich, daß die erwähnte Fußgängerbrücke den Namen ihres Architekten trägt und Brademannbrücke heißt?

All das und noch so vieles mehr erfuhren wir auf diesem überaus spannenden Rundgang. Und so manche Erinnerung an diesen Bahnhof, an Eigenartiges und heute Verschwundenes lebte auch in mir wieder auf und bescherte mir so manchen „Ach ja! – So war’s!“-Moment; – wie den der Erinnerung an den eigentümlichen Bahnsteig A, der zwar zwei Bahnsteigkanten besaß, an denen aber die Züge zweier verschiedener Linien hielten – an der einen die stadtauswärts über die Südkurve fahrenden Züge nach Schönefeld, an der anderen die aus Buch über die Nordkurve kommenden, die ins Stadtinnere wollten. Und die Züge der jeweiligen Gegenrichtung? Die hielten hier einfach nicht. Als Kind hatte mich diese Merkwürdigkeit stets fasziniert. Heute ist der Bahnsteig abgerissen, die Nordkurve ist mit ihm verschwunden und die Südkurve führt über eine vollkommen neue Brücke aus Beton, die nicht mehr rosten kann. Die sie überquerenden Züge halten nun hier gar nicht mehr – in beiden Richtungen. Das ist zwar eigentlich nicht im  Sinne eines Bahnhofs, aber wenigstens ist jetzt Symmetrie hergestellt.

Doch nicht nur die Geschichte des Bahnhofs erzählte Sven Heinemann, sondern auch immer wieder kleine Geschichten. Wie die der Bewohner des südlichen Beamtenwohnhauses an der Südkurvenbrücke, des heute ältesten Gebäudes am Bahnhof Ostkreuz. Geschichten wie diese machen die Historie eines Ortes erst wirklich lebendig.

Bei dieser kurzweiligen Tour verging die Zeit wie im Fluge, und als sie zu Ende war, hatten wir viel erfahren und erlebt – und waren überdies um die Erkenntnis reicher, daß es, wie es der Vorsitzende des Vereins formulierte, nicht nur Stadtführer gibt, sondern auch Bahnhofsführer. Und davon hätten wir gern mehr, denn interessante Bahnhöfe gibt es in Berlin noch einige…

Durch grüne Oasen der Innenstadt

Seit der letzten Etappe ist eine kleine Weile ins Land gegangen, und so ist es nun endlich an der Zeit, meine Wanderung auf dem Grünen Hauptweg Nr. 19 fortsetzen. Und auch wenn das Wetter heute etwas durchwachsen ist und immer wieder kleine Regenschauer niedergehen, soll mich das nicht an meinem Vorhaben hindern.

Die Kulturbrauerei an der Knaackstraße
Die heutige Kulturbrauerei war einst die alte Schultheißbrauerei an der Schönhauser Allee. Heute ist sie ein Kultur- und Veranstaltungsort mit Kino, Theater, Diskotheken und vielem mehr.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Startpunkt ist wiederum der Endpunkt der letzten Stadtwanderung. Von der Kulturbrauerei, dort, wo die U-Bahn in der Schönhauser Allee ans Tageslicht tritt und auf ihr Viadukt hinauffährt, geht es nun ein Stück die Sredzki-Straße entlang, begleitet von den Ziegelmauern der Bauten der ehemaligen Schultheiß-Brauerei. Schon an der nächsten Straßenecke wechselt der Weg die Richtung und folgt nun der Knaackstraße. Beide Straßen erinnern an deutsche Kommunisten – Siegmund Sredzki und Ernst Knaack -, die aktiv gegen den deutschen Faschismus gekämpft hatten und ihm im Jahre 1944 zum Opfer fielen. Mein Weg führt mich an der Grundschule am Kollwitzplatz vorbei, auf deren Gelände eine von Heinz Worner geschaffene Stele mit dem Titel „Traditionen der deutschen Arbeiterklasse“ auch an diese beiden Widerstandskämpfer erinnert.

Kollwitz-Denkmal
Das Denkmal für Käthe Kollwitz auf dem Kollwitzplatz im Berliner Prenzlauer Berg wurde von Gustav Seitz geschaffen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Wenige Schritte weiter erreiche ich mit dem Kollwitzplatz die erste grüne Oase, die die heutige Etappe des Grünen Hauptwegs Nr. 19 heute für mich bereithält. Ich mache einen kurzen Abstecher in den kleinen Park und zum Denkmal für Käthe Kollwitz, das vom Bildhauer Gustav Seitz geschaffen wurde. Auf der von der Knaackstraße gebildeten Platzseite passiere ich ein kleines unscheinbares Metalltor, in dem unter den zahlreichen, es verunstaltenden Graffitis die darin eingelassenen beiden Davidsterne kaum noch auffallen. Sie bilden Gucklöcher in den geschlossenen Torflügeln, und ein Blick hindurch lohnt durchaus. Er fällt auf einen grasbewachsenen Weg, der zunächst zwischen den Hauswänden hindurchführt und dann auf der rechten Seite von einer Mauer begleitet wird. Ich blicke auf den sogenannten Judengang, der hinter dem jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee verläuft, einst eine rituelle Funktion besaß und heute eines der wenigen erhaltenen Beispiele eines jüdischen Begräbnisganges ist.

An der Ecke Knaackstraße und Kollwitzstraße steht ein unscheinbarer Neubau, der nicht weiter auffällt. Eine Tafel daran belehrt mich, daß hier in der ehemaligen Weißenburger Straße einst das Haus stand, in dem Käthe Kollwitz nach der Heirat mit ihrem Mann Karl Kollwitz wohnte.

Der Wasserturm im Prenzlauer Berg
Der Wasserturm im Prenzlauer Berg ist der älteste Berliner Wasserturm.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Der Weg Nr. 19 verläßt hier den Kollwitzplatz, folgt noch ein Stück der Knaackstraße und erreicht am Wasserturm die nächste grüne Oase. Er biegt in die Diedenhofer Straße ein, wo er um den kleinen Park herumführt. Ein kleiner Abstecher in die Grünanlage lohnt sich auf jeden Fall. Steigt man auf den kleinen Hügel, unter dem sich die Gewölbe der Wasserspeicher befinden, hat man einen schönen Blick über die Stadt und kann sich den behäbigen Wasserturm und den schmalen Steigturm aus der Nähe besehen.

Von hier aus geht es weiter durch die Belforter Straße. Nummer 24 gehört zum Hotel Ackselhaus. Weil die Toreinfahrt gerade offensteht, trete ich hinein und finde mich in einem schön gestalteten Hauseingang wieder. Ein Sofa lädt zum Verweilen ein, an den Wänden hängen kleine Kunstwerke, die Decke ist mit Stuck versehen und gibt vor, der auf sie aufgetragenen Farbe Lebewohl zu sagen. Ein Kronleuchter spendet Licht. Eine Tür öffnet sich zu einem schön gestalteten Innenhof mit einem Wasserbecken, in dem sich Fische tummeln. Ein Hort der Ruhe und Entspannung. Lediglich die an zwischen den Hauswänden gespannten Schnüren aufgehängten riesigen rosafarbenen aufgeblasenen Kraniche wirken fehl am Platze und übermäßig kitschig.

Prenzlauer Allee mit Immanuelkirche
Blick die Prenzlauer Allee hinauf in Richtung Norden. Rechts ist der Turm der Immanuelkirche zu sehen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Wenige Meter weiter quert der Grüne Hauptweg die Prenzlauer Allee. Links die Straße hinauf grüßt der Turm der Immanuelkirche herüber, blickt man nach rechts, tun Fernsehturm und das Park-Inn-Hotel am Alexanderplatz es ihm nach. Weiter geht es nun durch die Heinrich-Roller-Straße. Rechter Hand wird sie alsbald von einer Ziegelmauer begleitet. Ein Toreingang steht offen und gibt den Weg hindurch frei. Ich stehe in einer kleinen Parkanlage, die den Namen Leise-Park trägt. Einst gehörte das Areal zum Friedhof St. Marien und St. Nicolai, wurde jedoch schon seit 1970 nicht mehr für Bestattungen genutzt. Den Namen hat man dem Park tatsächlich verliehen, um Besucher darauf hinzuweisen, leise zu sein. Das ist auch mehr als angemessen, nicht nur, weil die kleine Grünanlage, auf die ich hier unverhofft getroffen bin, ein Ort der Erholung sein soll, sondern auch, weil sich einige der Grabanlagen hier noch erhalten haben. Vom breiten Hauptweg zweigen links und rechts kleine Pfade ab, die von ihm weg in den Park hinein und verschlungen durch’s Gezweig wieder zu ihm zurückführen. Bänke mitten im Grün laden zum Verweilen ein und über allem liegt eine Ruhe, wie man sie hier inmitten der Stadt gar nicht vermuten würde. Ein wirklich schönes Erholungsareal, das hinter der alten Friedhofsmauer darauf wartet, entdeckt zu werden.

Gedenktafel für Hans Rosenthal
Diese Berliner Gedenktafel für Hans Rosenthal hängt am Haus Winsstraße Nr. 63.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Ich passiere die Winsstraße. Weicht man hier vom Grünen Hauptweg Nr. 19 für einen kurzen Ausflug ab und folgt ihr ein Stück, gelangt man zum Haus Nummer 63. Hier erinnert eine Berliner Gedenktafel an den Rundfunk- und Fernsehmoderator Hans Rosenthal, der einst hier wohnte. Von den Faschisten verfolgt und zur Zwangsarbeit verurteilt, überlebte er mit Glück und Hilfe den Holocaust. In der Nachkriegszeit wurde er einer der beliebtesten Showmaster im Fernsehen. Seine Sendung „Dalli Dalli“ und sein Ausruf „Das war Spitze!“ gehören heute gewissermaßen zum Allgemeingut.

Zurück in der Heinrich-Roller-Straße folge ich ihr, bis sie die Greifswalder Straße erreicht. Hier biegt der Weg nach rechts ab und führt kurz darauf an eine große Kreuzung. Hier stand einst das zweite Königstor, das Eingang durch die Akzisemauer gewährte. Als es schon nicht mehr stand, gab man dem Platz den Namen „Platz am Königstor“, den er heute allerdings nicht mehr trägt.

Am Märchenbrunnen
Der Berliner Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Den Prenzlauer Berg nun verlassend, überquert der Grüne Hauptweg Nr. 19 die hier beginnende Greifswalder Straße, und ich tue es ihm gleich. Eine weitere Straßenüberquerung später stehe ich auf der anderen Seite der Straße „Am Friedrichshain“ und am Eingang des Volksparks, der einem ganzen Stadtbezirk seinen Namen gibt. Durch ein Eingangstor, das von zwei kleinen Putten flankiert wird, führt der Weg in den Park hinein und direkt auf Berlins möglicherweise bekanntesten Brunnen zu: den Märchenbrunnen. Eine terrassenartig angelegte Wasserkaskade mit kleinen Fontänen, wasserspeienden Fröschen und einer Arkade am hinteren Ende bilden das schöne Ensemble, das von zahlreichen, Figuren aus den Grimmschen Märchen darstellenden Statuen eingerahmt wird. Aschenputtel, Dornröschen, Hans im Glück, Hänsel und Gretel – alle sind sie da. Ein Ort, der zum Verweilen einlädt – und diese Einladung nehme ich gerne an.

Als ich weiterwandere, führt der Weg durch die Arkade und an einer weiteren Fontäne im Park dahinter vorbei. Das gesamte Areal ist von einem Zaun eingefaßt, der es vom eigentlichen Volkspark trennt. Durch ein weiteres Tor führt der Weg zunächst in diesen hinein, biegt jedoch gleich nach rechts ab und wendet sich der Friedenstraße zu, die er kurz darauf erreicht. Hier passiert er das Denkmal für die Interbrigadisten, die den spanischen Freiheitskampf gegen General Franco zwischen 1936 und 1939 unterstützten.

Am Platz der Vereinten Nationen
Das Hochhaus am Platz der Vereinten Nationen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Am Platz der Vereinten Nationen verläßt der Weg den Park und überquert den Platz. Ein einsetzender Nieselregen erzwingt eine kurze Unterbrechung der Wanderung, geht aber glücklicherweise schnell vorüber. Ein Springbrunnen, der jedoch gerade pausiert und sich daher lediglich als etwas willkürliche Ansammlung großer Steine präsentiert, befindet sich dort, wo sich einst das große Lenindenkmal von Nikolai Tomski erhob, das man 1991 gegen den Widerstand der Anwohner abriß.

Strausberger Platz
Der Strausberger Platz mit dem Brunnen und dem Haus des Kindes (links) und dem Haus Berlin (rechts).
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Durch die grüne Lichtenberger Straße führt der Weg nun zum Strausberger Platz. Der in seiner Mitte stehende Brunnen, den der Kunstschmied Fritz Kühn und der Architekt Heinz Graffunder gestalteten, ist in Betrieb und seine Fontäne verleiht dem Platz ein würdiges Zentrum. Die Biermeile, die an diesem Wochenende gerade stattfindet und allerlei am Gerstensaft interessiertes, lautstarkes Volk anzieht, ignoriere ich nach Kräften und überquere schnell die Karl-Marx-Allee. Ihr Namensgeber hatte mehr Glück als Lenin, denn seine vom Bildhauer Will Lammert geschaffene Büste steht noch und ist mir natürlich einen eingehenderen Blick wert.

Anschließend führt der Weg weiter die Lichtenberger Straße entlang. Sie ist eine sehr grüne Verkehrsader, verfügt sie doch über einen breiten, rasenbewachsenen und baumbestandenen Mittelstreifen, den an ihren Rändern weitere Grünstreifen mit teils recht hohen Bäumen ergänzen. Überhaupt ist das Stadtviertel, das sie durchquert und das von zahlreichen Plattenbauten gebildet wird, durch seine mit vielem Grün gefüllte Weitläufigkeit ein schöner Ort zum Wohnen. Es ist lohnend, sich die Zeit zu nehmen und einmal links oder rechts des Weges durch die Wohnanlagen zu pilgern.

Stolpersteine in der Michaelkirchstraße
Stolpersteine in der Michaelkirchstraße.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Hinter der Holzmarktstraße unterquert der Grüne Hauptweg Nr. 19 das Viadukt der Stadtbahn und erreicht wieder die Spree, die er über die Michaelbrücke überwindet. Auf der anderen Seite folgt ein kurzer Abschnitt, der nur wenig für’s Auge bietet. Rechter Hand erstreckt sich der Zaun, hinter dem das Heizkraftwerk Mitte seine Anlagen sortiert hat, linker Hand stehen vergleichsweise langweilige Geschäftshäuser. Wenn man jedoch auf seinen Weg und seine Umgebung achtet, kann man selbst hier etwas entdecken. Etwa in der Mitte der Strecke bis zur nächsten Querstraße sind direkt vor dem Zaun des Kraftwerks drei Stolpersteine in den Gehweg eingelassen. Sie erinnern an von den Faschisten verschleppte und ermordete jüdische Bürger der Stadt, die in den zu jener Zeit hier noch stehenden Wohnhäusern lebten. Die Inschriften sind jedoch kaum noch zu erkennen. Straßendreck deckt sie nahezu völlig zu. Mit einem kleinen Feuchttuch ist der jedoch leicht zu beseitigen, so daß die Steine kurze Zeit später ihre Botschaft der Mahnung wieder weitergeben können.

Die Sankt-Michael-Kirche
Die Ruine der Sankt-Michael-Kirche auf dem Michaelkirchplatz.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Der Weg führt die Michaelstraße weiter, quert die Köpenicker Straße und läuft nun direkt auf einen großen Kirchenbau zu. Als er den Michaelkirchplatz erreicht, gabelt sich die Straße um einen grünen, baumbestandenen Platz, in dessen Mitte sich besagte Kirche erhebt. Sie trägt – die Bezeichnung des Platzes läßt es bereits ahnen – den Namen Sankt-Michael-Kirche. Als ich um sie herumgehe, wird deutlich, daß sie eine Ruine ist, die nur teilweise wieder aufgebaut wurde. Der Zweite Weltkrieg hat sie ebensowenig verschont wie den Rest der alten Luisenstadt, wie dieses Stadtviertel einst hieß. Der von den Bomben der Alliierten entfachte Feuersturm – der einzige, den es in Berlin gab – hat hier nahezu keinen Stein auf dem anderen gelassen.

Rings um die Kirche zieht sich eine kleine Parkanlage. Das Kirchenschiff selbst ist nicht mehr vorhanden. Nur noch Teile der Außenmauern markieren, wo es sich befand, das Dach ist verschwunden. Ganz oben auf der Frontseite der Kirche steht allerdings noch die Statue des Heiligen Michael, die von August Kiß geschaffen wurde.

Am Engelbecken
Ein Blick über das Engelbecken. Einst war es Teil des längst zugeschütteten Luisenstädtischen Kanals.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Vor der Kirche erstreckt sich eine Wasserfläche. Das Engelbecken ist das letzte Überbleibsel des ehemaligen Luisenstädtischen Kanals, der einst Landwehrkanal und Spree verband. Hier am Engelbecken knickte der Kanal, von Süden vom Landwehrkanal her kommend in einem Winkel von neunzig Grad nach Osten ab. Sein Verlauf ist auch heute noch gut zu erkennen, denn als man den Kanal 1926 zuschüttete, legte man an seiner Statt eine Grünanlage an. Dieser folgt der Weg nun nach Süden – so wie ich auch nach einer kurzen Rast im Café am Engelbecken.

Unter dicht bewachsenen Laubengängen, in die kaum ein Sonnenstrahl einzudringen vermag, geht es in einen kleinen Rosengarten hinein und dann weiter im tieferliegenden ehemaligen Bett des Kanals zwischen Ufermauern entlang. In der Mitte steht ein kleiner indischer Brunnen, ein von kleinen Frauenfiguren und Löwenköpfen gebildetes kegelförmiges Gebilde, auf dessen Spitze eine größere Frauenfigur sitzt.

Parkanlage im ehemaligen Luisenstädtischen Kanal
Ein Blick durch die Parkanlage im ehemaligen Luisenstädtischen Kanal. Im Hintergrund erhebt sich die Sankt-Michael-Kirche.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Der Weg führt unter einer Brücke hindurch, über die die Waldemarstraße den alten Kanal überquert. Am Legiendamm rechts ist ein kleiner Ziegelbau zu erkennen. Das darin untergebrachte Restaurant trägt den Namen „Zur kleinen Markthalle“. Es ist ein Überbleibsel der alten Markthalle VII, die sich einst hier befand und bis zur nahegelegenen Dresdner Straße erstreckte, an der man noch heute den alten Haupteingang der Markthalle findet.

Hinter der Brücke steigt der Weg langsam an und die alten Ufermauern verschwinden. Hier ist der alte Kanal vollständig zugeschüttet worden, so daß ich nun auf einer Art Mittelstreifen zwischen zwei Straßen, dem Legien- und dem Leuschnerdamm weiterwandere. Zwei Büsten links und rechts erinnern an die Namensgeber der beiden Straßen, die Gewerkschaftsführer Karl Legien und Wilhelm Leuschner.

Oranienplatz
Der Oranienplatz. Einst wurde er vom Luisenstädtischen Kanal gekreuzt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Kurz darauf erreicht der Weg den Oranienplatz, das einstige Zentrum der Luisenstadt. Ein etwas merkwürdig anmutender Brunnen will zunächst passiert werden, bevor die Oranienstraße in der Platzmitte überquert werden kann. Auf der anderen Seite setzt sich die aus dem ehemaligen Kanal hervorgegangene Parkanlage fort. Auf der linken Platzseite steht an der Ecke zur Oranienstraße ein Bau, der auf den ersten Blick als ehemaliges Warenhaus zu erkennen ist. Hier war einst das Kaufhaus Brenninkmeyer untergebracht. Auch wenn in diesem Haus heute keine Waren mehr feilgeboten werden – die Kaufhauskette gibt es noch. Sie heißt heute C & A. Links auf der gegenüberliegenden Platzseite prangt an einem Gebäude der Schriftzug „Oranien-Apotheke“. Nun, die Apotheke ist auch nicht mehr existent. 1860 wurde sie eröffnet. Das alte Apothekenmobiliar kann man heute noch betrachten – das nun hier befindliche Café hat sie weitestgehend erhalten.

Als ich in die hinter dem Platz sich fortsetzende Parkanlage eintrete, fällt mir an dem Gebäude rechts der daran angebrachte Name „Max-Taut-Haus“ auf. Das Gebäude wurde vom namensgebenden Architekten als Warenhaus der Konsumgenossenschaften entworfen.

Der Weg führt jetzt weiter durch den Park auf dem ehemaligen Luisenstädtischen Kanal. Er wirkt nun etwas ungepflegter, ist oft sandig und wegen des Regens der vergangenen Tage auch matschig. Ein Zaun umschließt eine Baustelle, an der niemand arbeitet – ein Umstand, der auf viele Baustellen in Berlin zutrifft. Dann läuft der Weg direkt auf einen Zaun zu, in dem sich ein Tor befindet. Dieses steht zwar offen, doch erstreckt sich dahinter nur ein Verkehrsgarten. Es ist wenig wahrscheinlich, daß der Wanderweg da hineinführt. Und richtig, an einem der zahlreichen Bäume findet sich ein Wanderzeichen, das mich anweist, um die Anlage herumzulaufen.

Skalitzer Straße am Wassertorplatz
Die Skalitzer Straße am Wassertorplatz mit dem Viadukt der Hochbahn.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Noch bevor ich das tun kann, höre ich lautes Rumpeln und Quietschen. Irgendwo fährt langsam ein Zug vorüber. Als ich unter den Bäumen hervortrete, sehe ich die Quelle: das Hochbahn-Viadukt in der Skalitzer Straße. Ich stehe am Wassertorplatz. An einem Hochbahnviadukt habe ich die heutige Etappe begonnen. Und an einem Hochbahnviadukt beende ich sie auch. Dazwischen lag ein Weg voller grüner Oasen im Herzen der Stadt.

An der Mauer entlang

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 1 der Beitragsserie "Grüner Hauptweg Nr. 19"

Nach der ersten Etappe auf dem Grünen Hauptweg Nummer 19 neugierig geworden, wie es denn weitergeht, entschloß ich mich, den heutigen Feiertag zu nutzen, um – keine Himmelfahrt und auch keine Bollerwagentour zu unternehmen, sondern die Wanderung fortzusetzen. Am Spreebogen geht es heute los – genau dort, wo der vorangegangene Abschnitt geendet hatte.

Auf dem Marie-Elisabeth-Lüders-Steg
Ein Blick zum Hauptbahnhof vom Marie-Elisabeth-Lüders-Steg über der Spree.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Und so steige ich hinauf auf den Marie-Elisabeth-Lüders-Steg, wo die ersten Fotos mitten über der Spree entstehen. Sonne war versprochen worden, doch die läßt sich nicht blicken, versteckt sich hinter dicken, recht grauen Wolken. Dazu weht mir ein doch recht kühler Wind um die Nase. Für eine Stadtwanderung ist das aber durchaus angenehmes Wetter. Solange es nicht regnet. Doch das steht heute glücklicherweise nicht auf dem Programm.

Weiter geht es an der Spree entlang bis kurz vor den Hauptbahnhof, wo der Weg auf das Alexanderufer abbiegt – eine Straße, die mir irgendwie sympatisch ist. Humboldthafen, Charité, Hamburger Bahnhof, Hauptbahnhof – bereits hier gibt es eine Menge zu sehen.

Das Grabmal von Julius von Verdy du Vernois
Auf dem Invalidenfriedhof steht dieses Grabmal von Julius von Verdy du Vernois, der einst preußischer Staats- und Kriegsminister war.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Hinter der Invalidenstraße führt mich der Weg dann ein Stück am Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal entlang. Er folgt dem ehemaligen Verlauf der Berliner Mauer und quert den Invalidenfriedhof. Es ist der erste von vier Friedhöfen, an denen ich heute vorbeikomme – und sie alle haben eines gemeinsam: ihnen wurde ein nicht geringer Teil ihrer Fläche durch den Mauerstreifen entrissen, die darin liegenden Gräber wurden damals einfach planiert. Die Wunden in den stillen Arealen sind heute noch überdeutlich zu erkennen.

Weiter nördlich erreiche ich die Mündung der Panke. Der Weg biegt hier vom Kanal nach rechts ab und folgt weiter dem Mauerstreifen. Über die Chausseestraße geht es in die Liesenstraße, wo ich mir einen Abstecher auf den Friedhof II der Französisch-Reformierten Gemeinde erlaube, um die Grabstätte Theodor Fontanes aufzusuchen. Gleich in der Nähe entdecke ich auch das Grab des Dichters Peter Hacks. Einige seiner Kinderbücher haben mir meine Kindheit verschönert.

Der Park auf dem ehemaligen Bahngelände des Nordbahnhofs ist eine stille Oase inmitten der Stadt. Der Frühling zaubert bunte Blüten an Bäume und Sträucher. Hin und wieder tauchen aus der Erde alte Gleise auf. Eine ferne Erinnerung an die Hochzeit der Eisenbahn in Berlin.

Am Ende des Parks, dort, wo einst das Bahnhofsgebäude stand und heute nur noch die S-Bahn hält – was man aber nicht sieht, weil sie es vorzieht, sich unter der Erde aufzuhalten -, biegt der Weg in die Bernauer Straße. Hier, an der Gedenkstätte Berliner Mauer stürzt er mich in den Menschentrubel, denn zum einen ist diese ein Touristenmagnet, zum anderen ist gerade evangelischer Kirchentag in Berlin. Seit ich das letzte Mal hier war, ist die Gedenkstätte ganz schön ausgebaut worden. Sie zieht sich jetzt die ganze Bernauer Straße entlang. Ich mache mir im Geiste eine Notiz, ihrer Besichtigung bei Gelegenheit mal einen Tag zu widmen.

In der Oderberger Straße
Bunte Fassaden säumen die Oderberger Straße mit ihren zahlreichen Cafés und Restaurants.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Heute wandere ich nur die Bernauer Straße entlang, bis sie den Mauerpark erreicht. Der ehemalige Mauerstreifen und mit ihm der Mauerweg biegen hier links nach Norden ab, während mein Grüner Hauptweg Nummer 19 rechts der Oderberger Straße folgt, die, gesäumt von bunten Fassaden sanierter Altbauten, voller Cafés und Restaurants ist, die sich auf beiden Seiten aneinanderreihen. Und hier läßt sich endlich auch die Sonne blicken und sorgt so für ein beinahe sommerliches Ambiente.

Hinter der Kastanienallee komme ich am alten Stadtbad vorbei und bin kurz danach auch schon auf der Schönhauser Allee, wo die U-Bahn den dunklen Schlund ihres Tunnels verläßt und der Höhe ihres Viaduktes entgegenstrebt. An der Straßenecke erhebt sich der Turm der alten Schultheiß-Brauerei, die es längst nicht mehr gibt. Heute wird hier Kultur zusammengebraut.

An dieser Stelle ist meine Wanderung für heute zu Ende. Runde 10 Kilometer reichen. Die nächste Etappe will mir ja sicher auch noch was zeigen.

Rund um den Berliner Tiergarten

Frühling in Berlin im schönen Monat Mai. Was gibt es da Besseres, als die Wohnung zu verlassen und rauszugehen ins Freie, wo die Sonne scheint und der Wind einem um die Nase weht…

Blick über die Spree auf die Lutherbrücke.
Blick über die Spree auf die Lutherbrücke.
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

Gesagt, getan. Doch wohin soll’s gehen? Gute Frage. Glücklicherweise stellt die Beantwortung dieser Frage in Berlin überhaupt kein Problem dar. Grüne, blühende Natur und eine Vielzahl an Gewässern bis tief in die Stadtmitte hinein – davon hat Berlin reichlich. Man muß gar nicht weit hinaus fahren, um das zu genießen. Bereits eine Stadtwanderung bietet diesbezüglich alles, was man sich nur wünschen kann. Und man muß nicht mal selbst danach suchen, denn hier gibt es eine wunderbare Erfindung: Die zwanzig Grünen Hauptwege mitten in der Stadt, die den neugierigen Berliner ebenso wie den interessierten Berlin-Besucher mitten in die zahlreichen grünen Oasen der Stadt führen.

Das probiere ich immer wieder gerne aus und lasse mich entführen in die wunderbarsten Ecken meiner Stadt, von denen ich viele selbst noch gar nicht kenne. Heute habe ich mich für den Grünen Hauptweg Nummer 19 entschieden – ein Rundweg, der die Berliner Innenstadt erkundet. Meine erste Etappe beginnt an der Corneliusbrücke am Berliner Tiergarten und führt an diesem entlang und um ihn herum bis zum Spreebogen am Berliner Hauptbahnhof. Nicht sehr lang, nur runde acht Kilometer, für die man sich so alle Zeit der Welt lassen kann. Denn zu sehen gibt es allemal genug…

Vorgezogener Osterspaziergang

Ostern 2017. Wollte man das diesjährige Osterfest mit einem Wort zusammenfassen, gäbe es dafür nur ein Wort: April. Denn das Wetter war an diesen vier Ostertagen ganz genauso, wie es besagtem Monat stets zugeschrieben wird: wechselhaft  und unentschieden. Praktisch war für jeden was dabei – Sonnenschein, Regen, Wind, Sturm, Hagel. Dazu war es mit Temperaturen unter 10 Grad Celsius doch entschieden zu kühl.

Auf der Luiseninsel im Berliner Tiergarten
Auf der Luiseninsel im Berliner Tiergarten
Fotograf: Alexander Glintschert (2017), Lizenz: Creative Commons BY-NC-CD 2.0.

So richtige Frühlingslaune wollte da nicht aufkommen.  Glücklicherweise war mir diese ein Wochenende zuvor vergönnt. Bei Temperaturen nahe 20 Grad  und einem strahlend blauen Himmel, den nicht ein einziges auch noch so kleines Wölkchen trübte, lud der Sonntag geradewegs dazu ein, den Osterspaziergang vorzuziehen und den Frühling zu begrüßen. Und als hätte ich gewußt, was das eine Woche darauf folgende Osterfest für Wetterkapriolen in petto haben würde, bin ich dieser Einladung gefolgt und habe mich auf den Weg in den Berliner Tiergarten gemacht.

Hier  ein paar Eindrücke…

Geschichte im Verein

Nun ist doch geschehen, von dem ich glaubte, daß es mir aber ganz bestimmt nicht widerfahren würde: ich bin  Vereinsmitglied.

Vereine gibt es ja bekanntlich viele. Ich assoziierte dabei immer  so etwas wie Sportvereine, Schachclubs oder politische Gemeinschaften. Und auch, ich gebe es zu, das Klischee des Kaninchenzüchtervereins.

Sonderlich sportlich bin ich eigentlich nicht, auch wenn ich Sport natürlich nicht gänzlich aus dem Wege gehe. Man will ja nicht völlig unbeweglich werden. Doch mein Fahrrad oder das Fitneßstudio reichen mir dafür völlig aus. Gruppensport mag ich hingegen bestenfalls als Zuschauer, für Wettkämpfe fehlt mir der Ehrgeiz. Sportvereine und Schachclubs schieden also schon mal aus.

Weil ich mir meine Meinung, insbesondere die politische, gerne selbst bilde  und sie dementsprechend auch  selbst vertreten möchte, kann ich den  Rahmen oder gar Zwang einer Gruppe dabei überhaupt nicht brauchen.  Oder, um es mit Reinhard Mey zu sagen:

Es paßt, was ich mir denke,
Auch wenn ich mich sehr beschränke,
Nicht auf einen Knopf an meiner Brust!

Eine politische Vereinigung  ist also meine Sache auch nicht.

Darüberhinaus habe ich mir bisher eigentlich keine weiteren Gedanken über Vereine gemacht.  Was sollte da schon noch sein…

Daß da noch mehr sein kann, entdeckte ich durch einen Flyer, der mir in der Berliner Stadtbibliothek in die Finger kam und mit dem ein Verein für sich warb, der so derart auf der Linie meines  Interesses lag, daß  es  gar keiner langen Überlegung bedurfte, um mir klarzumachen, daß ich  dabeisein wollte.

Und so ist es nun nach dem Ausfüllen des Antrags auf Mitgliedschaft, der in überragend kurzer Zeit erfolgten Aufnahme, dem Erhalt der Mitgliedsurkunde und  der ersten Zahlung des jährlichen Mitgliedsbeitrags offiziell: ich bin Mitglied im  Verein für die Geschichte Berlins e. V., gegründet im Jahre 1865.

Daß meiner Heimatstadt Berlin eines meiner Hauptinteressen  gilt, dürfte niemanden überraschen, der bereits einmal bei  Anderes.Berlin  vorbeigeschaut hat.  Die Beschäftigung mit der Geschichte und den Geschichten meiner Stadt, ihrer Bauten und Sehenswürdigkeiten, aber auch ihrer Persönlichkeiten, ob sie gegenwärtig oder fast vergessen sind, ist eine meiner größeren Leidenschaften. Und weil ich diese im Zweck und in den Zielen des Vereins wiederfinde, bin ich gern dabei – bei den vielfältigen Veranstaltungen des Vereins   und,  wenn  sich die Möglichkeit bietet,  auf unterstützende Weise.

Schauen wir mal, was daraus wird. Ich bin gespannt!

An einem Sonntag im Oktober…

Herbst am Engelbecken
Herbst am Engelbecken
Fotograf: Alexander Glintschert

Es war ein grauer Morgen, der da heute früh durch mein Fenster zu mir hereinschaute. Ein Tag zum Im-Bett-Bleiben, wie es schien. Und für eine Weile erschien mir das durchaus als lohnenswerte Möglichkeit. Bis mich mein Magen mit grimmigem Knurren daran erinnerte, daß ich zum Brunch verabredet war. Die Aussicht auf ein kräftiges Frühstück, für das ich nichts weiter tun mußte, als mir das Essen von einem reichhaltigen Büffet zu holen, trieb mich schließlich doch aus dem Bett…
Und so wurde uns heute ein richtig schöner Tag beschieden. War der Brunch im Restaurant Cana schon phänomenal gut, so daß wir uns richtig Zeit ließen, ihn zu genießen, so verzogen sich schließlich auch die grauen Wolken mit ihrem nieseligen Regen und ließen der Sonne ihren wohlverdienten Vortritt. Die perfekte Gelegenheit, dem üppigen Brunch noch einen ausgedehnten Herbstspaziergang folgen zu lassen.
Gibt es etwas Schöneres als einen milden, sonnigen Herbsttag, wenn das Laub der Bäume in bunten Farben schillert und in weiten Spiralen sanft zur Erde schwebt? Ich erinnerte mich an meine Kinderzeit, als ich voller Begeisterung durch das Herbstlaub auf den Wegen stiefelte und es vor mir aufwirbelte. Und es war mir überhaupt nicht peinlich, das jetzt wieder zu tun. Und während wir so von der Fischerinsel durch das Heinrich-Heine-Viertel bis zum Engelbecken und von dort über den Alfred-Döblin-Platz, wieder durch das Heine-Viertel bis zum Spittelmarkt wanderten, von dem wir unseren Weg über den Hausvogteiplatz, den Gendarmenmarkt und den Bebelplatz bis zum Lustgarten fortsetzten, stellte ich wieder einmal fest, was ich doch immer schon wußte: Mein Berlin ist eine schöne Stadt – zu jeder Jahreszeit hat sie ihre ganz besonderen Reize.