Um so schneller eilt die Zeit, je mehr wir wünschen, daß sie sollt‘ verweilen.
Dieser Erfahrung, die sich zwar physikalisch nicht belegen läßt, doch trotzdem von kaum jemand bestritten werden dürfte, der auch nur über ein Mindestmaß an Lebenserfahrung verfügt, muß auch ich mich an diesem siebten Tag meines Urlaubs in Prerow stellen, denn er ist bereits der letzte meines kleinen Ausflugs, der mich nicht nur hierher auf den Darß geführt hat, sondern auch zu einer Reise zurück in die Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit und Jugend geworden ist, als ich gemeinsam mit meinen Eltern jedes Jahr hier im Urlaub gewesen bin.
Nachdem ich meine gestrige Fahrt nach Barth des ausgesprochen hartnäckigen Regens wegen schließlich hatte abbrechen müssen, ist das Wetter heute wieder zur Ruhe gekommen. Zwar ziehen nach wie vor dicke, mal mehr, mal weniger graue Wolken über den Himmel, wobei sie nach meinem Eindruck eine recht beachtliche Geschwindigkeit an den Tag legen, doch behalten sie die Wasser, die sie in ihrem Inneren tragen mögen, für sich, so daß es heute weidlich trocken bleibt. Allerdings hatte ich mir nach der Erfahrung vom Vortage für heute noch keinen rechten Plan für eine Unternehmung zurechtgelegt, hatten sich doch die einschlägigen Wettervorhersagen samt und sonders geweigert, einen regenfreien Tag zu garantieren. Daher wird sich mein heutiges Programm mehr oder minder spontan gestalten müssen. Doch das muß ja nichts Schlechtes sein…
Meine gestrige ausgiebige Besichtigung der großen Barther Sankt-Marien-Kirche hatte mir etwas wieder in Erinnerung gerufen, das noch auf meiner Wunschliste steht, für das ich aber im Zuge der Ausflüge der letzten Tage noch keine Zeit gefunden hatte: ein Besuch in der alten Seemannskirche von Prerow. Und mangels anderweitiger konkreter Planungen habe ich heute definitiv genug Zeit, diesen Besuch abzustatten.
Gleich nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg. Da ich keinesfalls Gefahr laufen möchte, wieder vor verschlossener Tür zu stehen, wie es nach meinem Prerower Rundgang am späten Nachmittag einige Tage zuvor der Fall gewesen war, ziehe ich es diesmal vor, bereits am Vormittag an der Kirche zu erscheinen. Auf dem vor dem Prerower Strom gelegenen Deich wandere ich zum östlichen Ende des Ortes. An der kleinen Märchenhütte vorbei erreiche ich den Abzweig des Weges, der mich in den Kirchenort hineinführt, wo sich der alte Friedhof befindet, in dessen Mitte sich die Seemannskirche erhebt. Wieder öffne ich das schmiedeeiserne Tor, wieder quietscht es leicht, und wieder gewährt es mir ohne weiteres den Zugang zum Friedhof. Und doch ist, wie ich fasziniert bemerke, die Atmosphäre, die mich dahinter umfängt, heute anders als einige Tage zuvor. Zwar verspüre ich auch heute das Empfinden, eine Welt der Ruhe, der Andacht und der Erinnerung zu betreten, doch wirkt sie jetzt irgendwie zurückgezogener, melancholischer. Ob das an den grauen Wolken liegt, die noch immer über den Himmel jagen? Vielleicht. War bei meinem letzten Besuch der Himmel strahlend blau gewesen und von der abendlichen, dem Horizont entgegenstrebenden Sonne hell erleuchtet worden, die die Kirche und den Friedhof mit seinen Bäumen, Büschen und Hecken in bunte Farben hüllte, so wirken diese heute gleichförmig düster. Von bunten Farben keine Spur. Eher dominieren Grau- und Brauntöne. Melancholie und Traurigkeit scheinen die Atmosphäre zu bestimmen.
Auch die Kirche ist davon nicht ausgenommen. Auch sie scheint heute eher gedrückter Stimmung zu sein. Der hölzerne Turm wirkt dunkel, von dem freundlichen Rot, mit dem das Dach einige Tage zuvor im Licht der untergehenden Sonne so hell leuchtete, ist heute keine Spur zu sehen. Einzig die gelben Ziegel des Hauptweges bringen etwas Farbe in die Szenerie. Schnurgerade führen sie auf die kleine Tür zu, die sich in der Seite des Kirchenschiffes befindet und, wie ich erfreut bemerke, einen Spaltbreit offensteht. Dort angekommen, schiebe ich sie zur Gänze auf und trete ein.
Ich finde mich in einem kleinen Vorraum wieder, nicht viel größer als eine Kammer. Ein Aufsteller präsentiert eine Reihe von Faltblättern mit Informationen zur Kirche, zu stattfindenden Veranstaltungen und vielem mehr, das mich angesichts meiner bevorstehenden baldigen Abreise allerdings nicht sonderlich interessiert, so daß ich meine Aufmerksamkeit alsbald der zweiten Tür zuwende, die auf der gegenüberliegenden Seite des Vorraums weiter in das Kircheninnere hineinführt. Sie gibt meinem Druck nach und gestattet mir einzutreten[1]Leider kann ich auch hier aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Auch wenn ich in der Prerower Seemannskirche kein solches Verbotsschild wie tags zuvor in der Barther … [Weiterlesen].
Nach dem etwas düsteren Eindruck, den die Kirche mit ihrem dunkelbraunen, hölzernen Turm und den rötlich-braunen Backsteinmauern von außen hinterlassen hatte, bin ich ein wenig von der strahlenden Helligkeit überrascht, die mich in ihrem Inneren empfängt. Große Fenster, die ich von außen in den Mauern gar nicht recht wahrgenommen hatte, lassen reichlich Licht einfallen, das eine zusätzliche Beleuchtung des Kirchenschiffes weitestgehend unnötig macht. Lediglich an dessen westlichem Ende, wo sich aufgrund des sich anschließenden Turms keine Fenster befinden, verbreiten ein paar Lampen freundliches gelbes Licht.
Meine Aufmerksamkeit gilt jedoch zunächst dem Ostende des Schiffes und dem dort aufragenden Altar. Auch er sorgt bei mir für einige Überraschung, ist er doch weit von der Schlichtheit entfernt, die man sonst für gewöhnlich in evangelischen Gotteshäusern antrifft. Gut, auch der Altar der Barther Sankt-Marien-Kirche war mit seinem einen Sternenhimmel imitierenden Baldachin nicht gerade ein Ausbund an Schlichtheit gewesen, doch jene Kirche war immerhin im Auftrag eines preußischen Königs gestaltet worden. Bei der Prerower Seemannskirche handelt es sich jedoch um eine reine Dorfkirche, wenn auch eine mit ausgeprägter Tradition, wie ich bei meinem Rundgang feststellen werde. Dies drückt sich auch in dem Altar aus, der nicht nur ausgesprochen schön ist, sondern überdies eine kleine Besonderheit darstellt. Er ist nämlich Altar und Kanzel in einem. Der Altartisch, den eine vor ihm aufgestellte niedrige hölzerne Barriere zum Kirchenraum hin abschließt, befindet sich vor einer hohen Rückwand, die in die Ostwand des Kirchenschiffs integriert ist, an die sich die als Sakristei genutzte Apsis des Gotteshauses anschließt. Diese Rückwand wird nach oben hin von einem Rundbogenaufsatz und zu beiden Seiten von runden Säulen abgeschlossen, zwischen denen sich in etwa eineinhalb Metern Höhe die Kanzel befindet. Auf dem sie bekrönenden Baldachin ist eine kleine Statue zu sehen, deren Kopf ein Strahlenkranz umgibt. Da die Kanzel über keinen sichtbaren Zugang verfügt, muß dieser sich in der Apsis befinden, die durch zwei Türen zugänglich ist, die sich je eine zu beiden Seiten des Altars befinden. Dieser sogenannte Kanzelaltar wurde im Jahre 1728 von dem Stralsunder Meister Elias Keßler geschaffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß von dieser Kanzel auch der hier von 1813 bis zu seinem Tode im Jahre 1825 tätige Pastor Joachim Gottfried Danckwardt seine Predigten unter das Volk brachte, der ein Lehrer des berühmten Lyrikers und Historikers Ernst Moritz Arndt gewesen ist.
Auf der rechten Seite des Kirchenschiffs, ebenfalls direkt an seinem östlichen Ende, befindet sich der Taufstein der Kirche. Und ebenso wie der Altar ist auch dieser eine Besonderheit, die ich so noch nirgendwo zu sehen bekommen habe. Das liegt allerdings weniger daran, daß es sich gar nicht um einen Stein, sondern vielmehr um ein Taufbecken handelt, das sich auf einem kunstvoll geschnitzten Ständer befindet. Nein, das allein wäre noch nichts sonderlich Außergewöhnliches. Diesen Status erlangt das Taufbecken jedoch durch sein sogenanntes Taufgehäuse. Ich würde es am ehesten als kleinen Pavillon beschreiben, der am Boden von einer umlaufenden Brüstung umgeben ist, die in vier große und acht kleine ornamental durchbrochene Felder unterteilt ist. Vier Pfeiler, an denen sich ebenso viele Figuren befinden, die Engelhermen darstellen, tragen das Dach des Gehäuses, auf dem kleine, allerliebst anzusehende Engelputten sitzen, die Inschriftkartuschen halten und in deren Mitte eine Jesus-Figur steht. Die üppige Vergoldung der Figuren und Brüstungsfelder kontrastiert sehr hübsch mit dem tiefen Blau der Pfeiler, des Daches und des Rahmens der Brüstung. Im Zentrum des Gehäuses befindet sich der geschnitzte Taufständer. Geschaffen wurde dieses beeindruckende Kunstwerk, dessen Positionierung vor zwei großen Eckfenstern es im hellen Tageslicht erstrahlen läßt, im Jahre 1740 von dem Stralsunder Meister Michel Müller.
Nachdem ich mir diese beiden außergewöhnlichen Kunstwerke eingehend angesehen habe, wobei ich über die Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer und die Schönheit der Gestaltung angemessen beeindruckt bin, wende ich mich nun dem Kirchenschiff zu, das rund dreißig Meter lang und etwa halb so breit ist. Und hier finde ich nun auch die Schlichtheit vor, die ich in einer evangelischen Kirche erwartet habe. Obwohl die Seemannskirche ein eher kleines Gotteshaus ist, schließen sich links und rechts an das von einem Tonnengewölbe nach oben hin abgeschlossene Mittelschiff zwei kleine Seitenschiffe an. Sie besitzen jeweils eine flache Decke und werden vom Hauptschiff durch schlanke, mit breiten Rundbögen verbundene Holzpfeiler getrennt. Eine auf schlichten Pfosten aus demselben Material ruhende Empore umläuft das Kirchenschiff an den Längs- und der Westseite. Sie nimmt der Länge nach etwa das halbe Schiff ein. Daß sich auf ihr an den Seiten weitere Sitzplätze befinden, kann ich nur vermuten, denn von hier unten ist von dem, was sich auf der Empore befindet, lediglich die am westlichen Ende des Kirchenschiffs aufgestellte kleine Orgel des Gotteshauses zu sehen.
Der gesamte untere Raum der drei Schiffe wird dort, wo sich an den Seiten die Empore befindet, vom Kirchengestühl eingenommen. Während sich dieses im hinteren Teil auf einfache Kirchenbänke beschränkt, ist es im vorderen, dem Altar zugewandten Bereich als Kastengestühl ausgeführt. Hier befinden sich offenbar die besseren Plätze, die in der Vergangenheit wohl den höhergestellten Mitgliedern der Prerower Einwohnerschaft vorbehalten gewesen sein mögen. Sowohl Gestühl als auch Empore sind in einem hellen Grau gestrichen, wobei in die Begrenzungswände des Kastengestühls ebenso wie in die Brüstung der Empore verzierende Felder eingelassen wurden, deren Innenfläche jeweils in einem hellen Blau gehalten ist und von einem dunkelblauen Rahmen eingefaßt wird. Diese doch recht einfache Farbgestaltung verleiht dem Innenraum eine helle, freundliche Atmosphäre von ausgeprägter Schlichtheit, in der ich mich jedoch ausgesprochen wohlfühle. Abgerundet wird dieser Eindruck durch die dazu passenden Sitzauflagen auf den Kirchenbänken, die das Blau der Felder in Empore und Gestühleinfassungen aufnehmen.
Als ich meinen Blick nach oben hebe und ihn von der Orgel die Empore entlang in Richtung Altar gleiten lasse, entdecke ich in der Mitte des Kirchenschiffs, direkt über den vorderen Reihen der Bänke, ein großes Schiffsmodell, das von der Gewölbedecke herabhängt. Es stellt ein Dreimast-Segelschiff mit Bug- und Hecksegel dar. Votivschiffe wie dieses gibt es in der Kirche mehrere. Und nicht nur hier. Sie repräsentierten in evangelischen Kirchen des Ostseeraumes den Berufsstand des Schiffers beziehungsweise Seemanns und wurden der jeweiligen Kirche gewöhnlich aus Dankbarkeit für die Rettung aus Seenot gestiftet. Das gilt auch für das Schiff, das ich hier im Mittelschiff vor mir sehe und das das größte der drei ist, die die Kirche heute besitzt. Dem Segler Napoleon nachempfunden, wurde es um das Jahr 1850 von einem Kapitän an die Kirche übergeben.
Zu erwähnen sind noch die beiden Kronleuchter, die ebenfalls im Mittelschiff der Seemannskirche aufgehängt sind. Im westlichen Teil des Innenraums entdecke ich einen sechsarmigen, aus Messing bestehenden Leuchter, während vor dem Altar ein – wenn ich mich nicht verzählt habe – zehnarmiger Leuchter aus Kristallglas zu sehen ist. Beide fanden als Stiftungen ihren Weg in die Kirche. Der Messingleuchter wurde 1733 von Prerower Bauern und Fischern übergeben, während um 1800 eine Mannschaft, deren Schiff vor der Küste Prerows strandete und gerettet wurde, den Kristallglasleuchter in die Kirche brachte.
An all diese Kunstwerke und Gegenstände habe ich ebenso wie an den gesamten Innenraum der Kirche keinerlei Erinnerungen aus der Zeit meiner Kindheit und Jugend, als wir uns des öfteren hier in Prerow aufhielten. Wenn wir dabei auch einmal der Seemannskirche einen Besuch abgestattet haben sollten – was ich für durchaus wahrscheinlich halte -, so habe ich mich damals allerdings nicht sonderlich dafür interessiert, weshalb kein bleibender Eindruck entstehen konnte, an den ich mich heute noch erinnern würde. Um so froher und zufriedener bin ich, daß es mir heute möglich war, den Besuch nachzuholen, denn ich bin durchaus der Meinung, daß mir andernfalls etwas Wertvolles und Interessantes entgangen wäre.
Mit diesem Gedanken wende ich mich wieder der Tür zu, durch die ich die Kirche zuvor betreten hatte, und verlasse Gotteshaus und Friedhof auf demselben Wege, auf dem ich gekommen bin.
Und nun? Einen Moment stehe ich unschlüssig auf dem Platz vor dem Friedhof und überlege, was ich als nächstes unternehmen soll. Da die Sonne es mittlerweile schafft, immer wieder einmal durch die nach wie vor recht schnell über den Himmel ziehenden Wolken zu lugen, lenke ich meine Schritte zum nahegelegenen Prerower Hafen. Vielleicht, kommt es mir in den Sinn, könnte ich ja zum Abschluß des Urlaubs noch eine kleine Wanderung durch die von Prielen und Fließen durchzogenen Wiesen und Felder unternehmen, durch die der Prerower Strom seine vielfach gewundene Bahn zieht, die ihn hinüber zum Bodstedter Bodden führt. Das könnte doch eigentlich ganz schön sein, und vielleicht schaffe ich es ja tatsächlich bis hinüber zum Bodden und in das an diesem gelegene Örtchen Wieck. Von dort ließe es sich dann am Nachmittag ganz bequem mit dem Bus nach Prerow zurückkehren.
Je länger ich auf meinem Weg hin zum Hafen über diese Idee nachdenke, desto verlockender erscheint sie mir. So schenke ich dem heftigen Wind, der mich plötzlich von der Seite her umweht, als ich gerade den Prerower Strom überquere, keine große Beachtung. Doch das soll sich kurze Zeit später ändern. Kaum habe ich den Hafen hinter mir gelassen und den kleinen, parallel zum Strom verlaufenden Deich erreicht, auf dem ich die ersten Meter meiner Wanderung zurückzulegen gedenke, muß ich feststellen, daß der Wind durchaus kein Ereignis eines einzelnen Moments zu bleiben gedenkt, sondern hier, wo er durch den Strom und die nahen Wiesen über ausreichend freie Fläche verfügt, nicht nur ausgesprochen beständig weht, sondern sich auch als recht steife Brise entpuppt, die dem Wanderer einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen in der Lage ist. Doch noch will ich mich nicht geschlagen geben. Als ich das Ende des Prerower Ortsteils Krabbenort erreicht habe, wo mich ein Schild recht bestimmt darauf hinweist, daß das Weitergehen auf dem Deich von hier an untersagt ist, folge ich einer kleinen Straße, die zwischen die Häuser hineinführt und mich hoffen läßt, über sie auf deren anderer Seite die Wiesen und einen über jene hinwegführenden Weg zu erreichen. Kaum befinde ich mich zwischen den Häusern, ist der Wind verschwunden. Als die Straße sich nach wenigen Schritten – der Krabbenort ist hier an seinem nahen Ende nur noch zwei bis drei Grundstücke breit – schließlich als Sackgasse erweist, von deren Ende kein Weg in die Wiesen weiterführt, muß ich wohl oder übel umkehren, um mir eine andere Möglichkeit des Weiterkommens zu suchen. Irgendwo wird hier schon ein Weg in die Wiesen zu finden sein.
Kaum habe ich den Deich wieder erreicht, ist auch der Wind wieder da. So langsam wird mir klar, daß der Grund dafür, daß ich ihn bisher nur gelegentlich zu spüren bekommen hatte, wohl darin zu suchen ist, daß mich mein Weg durch Prerow hierher praktisch nie über größere Freiflächen, sondern immer zwischen Häusern und kleinen oder größeren Waldstücken hindurchgeführt hatte. Dabei waren doch die geschwind über den Himmel ziehenden Wolken die ganze Zeit ein recht deutlicher Hinweis auf die Wetterlage und die mit ihr verbundenen Luftbewegungen gewesen. So komme ich zu guter Letzt zu dem Schluß, daß ich wohl, sollte ich bei meinem Vorhaben einer Wanderung über die Wiesen bleiben, mit dem Wind als ständigem Begleiter, wenn nicht gar Gegner würde rechnen müssen. Angesichts der am heutigen Tag nicht allzu hohen Temperaturen, die ich auf höchstens acht Grad Celsius schätze, kommt mir die Aussicht darauf auf einmal gar nicht mehr so verlockend vor wie noch vor etwa einer halben Stunde. Bereits bei dem Gedanken an eine Wanderung in unablässig wehendem steifen Wind vermeine ich ein leichtes Frösteln zu spüren. Dem wäre mit einem dickeren Pullover sicher abzuhelfen, nur liegt dieser im Schrank meines Zimmers. Ihn jetzt von dort zu holen, bedeutete, den ganzen Weg hierher erst zurück- und dann wieder herlaufen zu müssen. Und dazu verspüre ich dann doch eher weniger Lust.
Nachdem ich mich ein wenig für meine unzureichende Tagesplanung gescholten und mich über mich selbst geärgert habe, was mir für eine kleine Weile eine gewisse Mißstimmung beschert, stelle ich schließlich fest, daß das am Ende auch nichts bringt außer schlechte Laune. Und weil ich die nicht haben will, beschließe ich, mit dem zufrieden sein, was ich habe. Und das ist nicht nur der Besuch, den ich der kleinen hübschen Seemannskirche am Vormittag abgestattet hatte, sondern auch die Tatsache, daß mir immer noch ein ganzer Nachmittag zur Verfügung steht. Und da ich mich nun von der Idee freigemacht habe, an diesem letzten Tag noch irgendeine größere Unternehmung in Angriff nehmen zu müssen, ist mir auf einmal völlig klar, was ich mit der verbleibenden Zeit wirklich tun möchte.
Genau wie mir das Begrüßen des Meeres noch am Tage meiner Ankunft eine liebe Tradition geworden ist, die ich aus der Zeit meiner Kindheit und unseren damaligen Urlauben hier in Prerow übernommen habe, so ist auch der Abschied am letzten Tag zu einer solchen geworden. Egal, welches Programm für diesen letzten Tag auch immer vorgesehen war, am Ende gingen wir stets noch einmal an den Strand, um der Ostsee Lebewohl zu sagen – bis zum nächsten Mal. So will ich es auch diesmal halten.
Und so mache ich mich langsamen Schrittes auf den Weg zurück in den Ort, um mich zu verabschieden. Langsam spaziere ich durch die mir inzwischen wieder vertrauten Straßen, komme vorüber an den vielen neuen Häusern und an jenen, die ich noch von damals kenne, wandere ein Stück den Deich und den dahinterliegenden Prerower Strom entlang, den ich auf einer der schmalen Brücken überquere, die hinüber in den Dünenwald führen, in dem sich der altvertraute Ziegelweg unter meine Füße legt. Schließlich gelange ich noch einmal zum Hauptübergang mit seinen zahlreichen Buden, an denen alles verkauft wird, was der geneigte Tourist und Strandbesucher vielleicht brauchen oder zumindest haben wollen könnte, von Souvenirs über Kleidung und Schmuck bis hin zu Bratwurst und Crêpes. Dann stehe ich wieder auf der Düne, wo ich überrascht feststelle, daß man inzwischen die Aussichtsplattform, von der ich vier Tage zuvor noch auf die Pfeiler der Seebrücke und bis hinüber nach Hiddensee geblickt hatte, abgerissen hat. Von ihr ist keine Spur mehr zu sehen.
Hier oben ist natürlich auch der Wind wieder da, von dem während meines Spaziergangs durch den Ort und den Dünenwald so gut wie nichts mehr zu spüren gewesen war, so daß ich ihn inzwischen völlig vergessen hatte. Doch hier, wo die weite Wasserfläche des Meeres ihm keinerlei Hindernis in den Weg stellt, geht er nun voller Inbrunst zu Werke. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die in den letzten Tagen so überaus friedliche See. Bereits von hier oben ist deutlich zu erkennen, daß von der spiegelglatten, wellenlosen Meeresoberfläche, die sie mir stets präsentiert hatte, wann immer ich in den vergangenen Tagen zu ihr gekommen war, heute keine Rede sein kann. Zwar wäre es auch völlig übertrieben, davon zu sprechen, daß sich das Meer in Aufruhr befände – so stürmisch ist der Wind dann auch wieder nicht -, doch lassen sich heute immerhin die Wellen sehen, die ich bisher stets hatte vermissen müssen.
Ich stapfe durch den Sand den Strand hinunter zum Wasser, das in heftiger Bewegung ist. Mutwillig dringt es auf den Strand vor und versucht, möglichst große Areale des weißen Sandes zu bedecken, bis ihm die Puste ausgeht und es sich widerwillig wieder zurückziehen muß, nur um sofort einen neuen Anlauf zu wagen. Weiter draußen, wo die Oberfläche des Wassers stark gekräuselt ist und wabernd hin- und herwogt, rollen Wellen auf das Ufer zu, die sich urplötzlich überschlagen und weiße Schaumkronen bilden, wo sie auf Sandbänke treffen, die sich im Meeresboden angehäuft haben und sie in ihrem Vorwärtsdrängen aufhalten. Wirken sie hier noch vergleichsweise harmlos, zeigen sie kurz darauf, wieviel Energie sie tatsächlich in sich tragen. Da sich die Bauschiffe am heutigen Sonnabend wieder in den Nothafen am Darßer Ort zurückgezogen haben, ist der Weg entlang der Pfeilerreihe der im Entstehen begriffenen neuen Seebrücke für die Wellen frei, bis sie auf die aus irgendeinem Grund in den Meeresboden gerammten metallenen und parallel zum Ufer verlaufenden Spundwände treffen. Als wären sie über das unverhoffte Hindernis unvermittelt in Wut geraten, setzen die Wellen von einem Moment auf den anderen die ihnen innewohnende Energie frei, als wollten sie versuchen, es aus dem Weg zu räumen. Doch die metallene Front ist hartnäckig und weicht keinen Zentimeter, so daß den Wellen keine andere Wahl bleibt, als sich in hoch aufspritzenden Gischtfontänen über sie hinwegzusetzen. Das ist jedesmal ein phantastischer Anblick. Keine dieser Fontänen ist wie die andere und eine jede scheint die Höhe ihrer Vorgänger noch überbieten zu wollen. Nicht jeder gelingt es, doch alle versprühen sie Myriaden großer und kleiner Tröpfchen, die über die Spundwände spritzen und auf die dahinterliegende Wasseroberfläche aufschlagen. Doch die Macht der Welle ist gebrochen. Hinter der Spundwand findet sie sich nicht wieder und das Wasser ist ungleich ruhiger. Dieses sich ewig wiederholende Spiel der Wellen entfaltet, je länger ich ihm zusehe, eine schon fast hypnotische Wirkung, die durch das es begleitende rhythmische Rauschen des Wassers noch verstärkt wird.
Am Ende weiß ich gar nicht, wie lange ich hier gestanden und dem Meer in seiner endlosen Bewegung, mit der es, getrieben vom Wind, unverdrossen gegen das Land anbrandet, zugesehen habe. Mir ist, als erblickte ich darin ein Stück der Ewigkeit. Wir kommen in diese Welt und müssen sie irgendwann wieder verlassen, doch das Meer wird auch dann noch dem Spiel seiner Wellen frönen und sie unverdrossen in Richtung Land schicken, wenn wir und Generationen nach uns schon längst nicht mehr sind. Und aus irgendeinem Grund hat dieser Gedanke, obwohl er mich an meine eigene Endlichkeit erinnert, nichts Bedrohliches, sondern etwas sehr Beruhigendes.
Im Geiste verabschiede ich mich von der See und verspreche ihr – und auch mir selbst -, bald einmal wiederzukommen. Vielleicht schon im nächsten Jahr. Vielleicht wird es nicht in Prerow sein, sondern irgendwo anders. Usedom vielleicht. Oder Rügen. Und vielleicht – sicher bin ich mir im nachhinein darüber nicht – spreche ich diese Abschiedsworte auch laut aus und lasse sie vom Wind davontragen.
Mach’s gut, Ostsee. Es war schön. Bis bald mal wieder…
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Leider kann ich auch hier aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Auch wenn ich in der Prerower Seemannskirche kein solches Verbotsschild wie tags zuvor in der Barther Sankt-Marien-Kirche vorfinde, bin ich mir nicht sicher, ob ich dies rechtlich als Freifahrtschein für die Veröffentlichung meiner Fotos ihres Innenraums ansehen darf. So muß auch in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln.
Von irgendwo läßt sich ein sanftes Trommeln vernehmen. Zuerst nur ganz leise, doch dringt es, sich in seiner Vehemenz beharrlich durchsetzend, lauter und lauter durch die Schleier hindurch, die der Schlaf um mich gewoben hat, bis sich diese endlich verflüchtigen und mich aus meinen Träumen in die reale Welt zurückführen. Noch wehre ich mich dagegen, doch schließlich kann ich nicht mehr umhin, die Traumwelt endgültig zu verlassen und meine Aufmerksamkeit diesem unablässigen Trommeln zuzuwenden.
Bomm!
Bomm!
Bo-bomm!
Ein Weile lausche ich dem Geräusch, das mich aus dem Schlaf geholt hat. Was könnte das sein? Ein tropfender Wasserhahn vielleicht? Nein, dazu ist es zu vielfältig. Das müßten schon mehrere Wasserhähne zugleich sein, die da so stetig vor sich hin tropfen. Und es kommt ja auch gar nicht aus dem Badezimmer. Nein, das Geräusch kommt definitiv von draußen. Es dringt durch das geöffnete Fenster und zwischen den schweren Vorhängen hindurch, die das Zimmer in einem beständigen Halbdunkel halten. Nur durch den schmalen Spalt zwischen ihnen fällt ein wenig Licht des bereits angebrochenen Tages. Von dort kommt auch das ewige Trommeln.
Mein Gehirn kommt nur langsam in die Gänge. Doch schließlich findet es den Gedanken, nach dem es gesucht hat, seit ich von dem Geräusch geweckt worden bin: Regen! Das muß Regen sein.
Auf einmal erscheint mir das Bett als ein ausgesprochen sympathischer Aufenthaltsort für den Tag. Ich könnte mich ja nochmal auf die andere Seite drehen und eine weitere Runde schlafen…
Andererseits ist das Verschlafen des hellichten Tages keine Option, die sehr unterhaltsam und interessant klingt. Und so wirklich müde bin ich eigentlich auch nicht mehr…
Ach, was soll’s! So ein bißchen Regen wird mir nicht den Tag verderben. Und wer weiß, vielleicht hört er ja auch bald auf. Entschlossen schlage ich die Decke zurück und stehe auf. Zunächst will ich mir doch einmal ansehen, was denn das eigentlich für ein Regen ist, der da vor meinem Fenster herumtrommelt. Ich tappe durch das Halbdunkel des Raumes um das Bett herum und ziehe die Vorhänge zurück. Licht strömt ins Zimmer, doch ist es nicht gerade blendend. Dafür ist der Tag, der vor dem Fenster herumlungert, viel zu grau. Und naß.
Das Trommeln, das mich geweckt hat, kommt von irgendwo dort draußen, ohne daß ich genau ausmachen kann, woher eigentlich. Es hört sich so an, als befände sich an irgendeiner Stelle des Hauses in der Nähe meines Fensters ein Blech, auf das Wasser tropft. Daß es der feine Regen ist, der unaufhörlich herniederströmt, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Offenbar sammelt er sich jedoch irgendwo und verursacht stetig fallende Tropfen. Den Klängen nach an gleich mehreren Stellen.
Egal. Ich bin wach. Laß es tropfen.
Ich suche nicht weiter. Stattdessen starte ich frohen Mutes in den Tag. Von dem bißchen Regen lasse ich mir nicht die Laune verderben. Zunächst stehen Waschen, Zähneputzen und Frühstücken auf dem Programm. Und wer weiß, wenn ich damit fertig bin, hat der Regen ja vielleicht auch schon aufgehört.
Tatsächlich ist das der Fall. Als ich den Frühstücksraum meiner Pension verlasse, auf mein Zimmer zurückkehre und einen Blick aus dem Fenster werfe, sind die Regenschleier verschwunden. Der Himmel sieht zwar immer noch so aus, als habe er sich heute in Asche gewandet, doch das stört mich nicht weiter. Solange es einigermaßen trocken ist, wird mich nichts davon abhalten, vor die Tür zu gehen. Allerdings erscheint es mir klug, dem regenschwangeren Wetter doch Rechnung zu tragen und keine Ausflüge in Gegenden zu unternehmen, in denen es vor vom Himmel herniederstürzendem Wasser keinerlei Schutz gibt. Da kommt es mir sehr zupaß, daß sich auf der Liste meiner Ausflugsziele für diesen Urlaub noch eines findet, das sich ganz wunderbar für solch einen Tag eignen könnte: Barth. Die auf dem Festland am südlichen Ufer des nach ihr benannten Boddens gelegene Kleinstadt ist, orientiert man sich an ihrer ersten urkundlichen Erwähnung, fast so alt wie Berlin. Tatsächlich ist sie älter, denn in eben jener Urkunde aus dem Jahr 1255 ist bereits von einer Stadt die Rede. Das könnte also ein für mich als an Geschichte Interessiertem ein lohnendes Ziel sein.
Auch sagen mir meine Erinnerungen, daß wir in unseren Urlauben zu den Zeiten meiner Kindheit und Jugend mehrfach in Barth gewesen sind. Ein Besuch dort gehörte in jedem Jahr einfach dazu. Vieles habe ich zwar mittlerweile vergessen, doch an die bereits geschilderte Fahrt über die Meiningenbrücke erinnere ich mich noch gut. Auch die Passage einer engen Durchfahrt durch eine Art Stadttor taucht aus den Tiefen meines Gedächtnisses auf, wenn ich an Barth denke; und aus irgendeinem Grund weiß ich noch, daß wir pro Besuch stets nur ein einziges Mal hindurchfuhren. In die Gegenrichtung führte der Weg immer an dem Stadttor vorbei, wohl weil es so eng war. Zwar erinnere ich mich noch gut, daß ich das jedesmal irgendwie enttäuschend fand, doch könnte ich heute nicht mehr sagen, ob das auf der Fahrt in die Stadt hinein gewesen ist oder beim Verlassen derselben. Nun, das werde ich ja vielleicht ergründen können, wenn ich mich jetzt auf den Weg dorthin mache.
Ein kurzer Blick auf den Busfahrplan, den ich über mein Smartphone abrufen kann, belehrt mich, daß ich mehr als ausreichend Zeit habe. Und weil ich weder große Lust verspüre, diese auf meinem Zimmer zu verbringen, noch ein langes Herumstehen an der nahegelegenen Bushaltestelle im Zentrum des Ortes sonderlich verlockend finde, entschließe ich mich zu einem Spaziergang zur Hafenstraße, wo sich, wie ich von meinem Prerow-Rundgang ein paar Tage zuvor weiß, eine weitere Busstation befindet. Bis ich dort bin, dürfte die Zeit bis zur Abfahrt des Busses schon fast heran sein.
Vorüber an den bunten Prerower Wegweisern, die ich dieses Mal allerdings lediglich zu fotografischen Zwecken beachte, da ich sie zum Auffinden des mir bereits bekannten Weges nicht benötige, spaziere ich durch Berg- und Lange Straße der Hafenstraße entgegen.
An selbiger angekommen, habe ich wider Erwarten doch noch mehr Zeit übrig als erwartet. Eine reichliche Viertelstunde muß ich noch auf den Bus warten. Angesichts des nach wie vor tiefgrauen Himmels und der sich beharrlich hinter der Wolkendecke verbergenden Sonne erscheint es mir nicht sehr sinnvoll, diese Zeit mit Herumstehen an der Haltestelle zu verbringen, denn ohne die wärmenden Strahlen der Sonne wird mir an diesem Apriltag doch recht schnell recht kühl. So spaziere ich ein wenig in der Gegend herum und nehme sie in Augenschein. Zunächst fällt mir erneut das Wartehäuschen auf. Mit mir warten einige Personen, die trotz dieses sauertöpfischen Tages recht fröhlich gestimmt scheinen. Ein junges Mädchen in rotem T-Shirt und knielanger blauer Sommerhose, ausgestattet mit Sonnenbrille und Strohhut sitzt auf seinem blauen Koffer direkt neben drei Sitzen, die sämtlich frei sind. Auf deren anderer Seite steht eine junge Familie mit zwei Kindern. Die Eltern tragen beide lange blaue Hosen und schulterfreie Tops, die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, stehen brav vor ihren Eltern und sind ebenfalls recht sommerlich angezogen. Etwas abseits wartet noch ein junger Mann mit Vollbart, der einen Rucksack über die Schulter geworfen hat und einen Koffer in der Hand trägt. Auch er ist lediglich mit knielangen Hosen bekleidet. Daß diese Gesellschaft Wartender bei diesem kühlen Wetter nicht friert und auch die freien Sitze beharrlich meidet, hat seinen Grund. Denn genau wie die Fenster des Häuschens sind alle diese Personen lediglich auf dessen Wand aufgemalt. Eine hübsche und durchaus passende Gestaltung für eine Bushaltestelle.
In Berlin versucht man dergleichen auch immer wieder einmal, doch leider erweist sich ein solches Unterfangen stets als verlorene Liebesmüh, die Perlen vor die Säue streut, denn innerhalb kürzester Zeit sind tumbe Graffiti-Schmierfinken zur Stelle, um die mit viel Liebe gestalteten Wandbilder mutwillig zu beschmieren und so zu zerstören. Und das ist nicht nur in Berlin so. Auch andere der größeren deutschen Städte haben mit diesem Problem zu kämpfen. Es ist mir unbegreiflich, warum es nicht möglich ist, das in den Griff zu bekommen. Andere Städte dieser Welt schaffen das doch schließlich auch. Weder in Singapur noch in Auckland, Sydney, Melbourne, Adelaide oder auch Vancouver und Quebec habe ich derartiges in dem Ausmaß zu Gesicht bekommen, wie es in den Städten unserer heimischen Gefilde gang und gäbe zu sein scheint. Wenn es sich dabei wenigstens um Bilder mit zumindest etwas gestalterischem Anspruch handeln würde, ließe sich noch trefflich darüber streiten, ob das nun Ausdruck einer Art Subkultur oder einfach nur Geschmiere und Sachbeschädigung fremden Eigentums ist. Doch schaut man sich an, was da beispielsweise in Berlin an Hauswänden, Brückenpfeilern, Mauern, auf Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs und an sonstigen Flächen aufgesprüht wird, handelt es sich meist um irgendwelches unentzifferbares Gekrakel, mit dem seine Verursacher vermutlich lediglich eine Marke setzen wollen, die ihr Revier kennzeichnen oder auch nur ein profanes „Ich bin hier gewesen“ mitteilen soll. Am Ende ist es auch wieder nur eine neue Form des heute so allgegenwärtigen Hangs zur Selbstdarstellung. Solche Graffitis offenbaren lediglich die Geist- und Ideenlosigkeit ihrer Urheber. Vermutlich von ihnen ungewollt, doch dafür um so entlarvender. Besonders dreist und unverschämt wird es natürlich, wenn sie dabei die ästhetisch schönen und wertvollen Werke wirklicher Könner auf diesem Gebiet zerstören. Der Stadt und ihren Verantwortlichen scheint es egal zu sein. Ihnen fehlen ganz offenbar nicht nur die Fähigkeiten, sondern auch der Wille, dies wirksam zu unterbinden. Doch wahrscheinlich ist dies nicht nur ein administratives, sondern auch ein gesellschaftliches Problem. Man kann wohl mit einigem Fug und Recht davon sprechen, daß eine Gesellschaft, die Derartiges widerspruchslos geschehen läßt, sich selbst längst aufgegeben hat – eine Feststellung, die ich einmal irgendwo gelesen habe, wobei mir leider entfallen ist, wo das gewesen ist und von wem sie stammt. Trotzdem erscheint sie mir wahr.
Auf meinem kleinen Streifzug durch die Umgebung der Bushaltestelle bin ich mittlerweile an der Straßenkreuzung angekommen, an der Hafen- und Strandstraße einander begegnen. Als ich ein paar Tage zuvor auf meinem Rundgang durch Prerow hier vorübergekommen war, hatte ich mich nicht allzu lange aufgehalten, denn viel gibt es wirklich nicht zu sehen. Der große Parkplatz, der nur eine zerfahrene Wiese ist, gegenüber die Darss-Passage mit dem Supermarkt und die Straßenkreuzung, an der sich ein kleiner Imbißstand befindet, der sich De lütt Eck nennt und als Prerows Snackbar bezeichnet. Viel mehr ist da nicht. Und doch, nun, da ich hier gewissermaßen die Zeit totschlagend herumlungere, bemerke ich zu meinen Füßen am Straßenrand, zwischen Fahrbahn und Gehsteig, eine Reihe von Blumenrabatten, die ganz offensichtlich liebevoll gepflegt werden und den Frühling in den Ort einladen. Und der hat das Anerbieten dankend angenommen und ist mit einer Reihe von Narzissen als Frühlingsboten in Prerow eingezogen, die mit ihren üppigen gelben Blüten dem heutigen Grautag einen willkommenen Farbtupfer bescheren.
Und als ich gerade noch sinnend auf die hübschen Blumen herunterschaue, entdecke ich ein Stück voraus in Richtung Ortsausgang den Bus. Die Tatsache, daß ich mich ein Stück von der Bushaltestelle entfernt befinde, muß mich allerdings nicht in Hektik versetzen, denn mittlerweile bin ich nach mehreren bereits absolvierten Busfahrten gut darüber informiert, wie sich die Sache mit den Fahrten des öffentlichen Personennahverkehrs in Prerow verhält. Zunächst wird der Bus die Haltestelle an der Hafenstraße ignorieren und direkt ins Zentrum fahren. Nachdem er alle dort wartenden Fahrgäste aufgenommen hat, wird er wenden und schließlich hierher zurückkommen, einen kleinen Abstecher zur Haltestelle an der Hafenstraße einlegen und mir so die Möglichkeit geben, ebenfalls zuzusteigen und die Fahrt nach Barth anzutreten. Bis dahin bin ich ganz gemütlich und in Ruhe zu der Haltestelle zurückgelaufen. Und genauso geschieht es dann auch.
Die Fahrt ist mir bereits hinlänglich bekannt. Wieder einmal passiere ich den Prerower Hafen, den Alten Bahnhof, die Hohe Düne, die Engstelle zwischen Ostsee und Prerower Strom und die Haltestelle Prerow Hertesburg, an der es auch heute keinen Halt gibt. Dann bin ich auch schon wieder in Zingst. Von hier aus geht die Fahrt weiter zur Meiningenbrücke, die wir überqueren, um über Bresewitz und Pruchten schließlich nach Barth zu gelangen. Nun, da ich nach meiner zwischenzeitlichen Beschäftigung mit der Darßbahn und ihrer früheren Route weiß, worauf ich zu achten habe, gelingt es mir, ihre einstige Trasse während der Fahrt nahezu die gesamte Wegstrecke über in der Landschaft auszumachen, folgt die Straße in ihrem Verlauf doch im wesentlichen dem der einstigen Darßbahn. Ab Bresewitz ist das sogar bedeutend leichter, da hier zu großen Teilen noch die alten Gleise liegen. Von Barth bis Bresewitz war die Bahn noch einige Jahre länger in Betrieb gewesen, bis dieser 1947 auch hier eingestellt wurde und man die Gleise entfernte. Allerdings hatte, wie ich bereits weiß, die Nationale Volksarmee der DDR genau zwanzig Jahre später diesen Abschnitt wiederaufgebaut, um ihn für Truppen- und Materialtransporte zu nutzen. Dafür errichtete sie nahe Bresewitz eine Laderampe, über die ihr Übungsplatz in den Sundischen Wiesen und ihr Stützpunkt in Zingst versorgt werden konnten. Bis zur sogenannten Wende im Jahre 1989 blieb die Strecke in Betrieb und ist daher heute noch samt Gleisen vorhanden. Als mein Bus Bresewitz im Süden des Ortes verläßt, kann ich auf der rechten Seite den einstigen Darßbahn-Haltepunkt des Ortes erkennen, an dem es zwar kein Bahnhofsgebäude gibt, wohl aber drei alte Güterwaggons, die dort noch herumstehen und langsam vor sich hinrotten. Und auch das alte Bahnhofsschild und ein Formsignal sind noch vorhanden.
Rund fünfundvierzig Minuten dauert die Fahrt. Als wir die Barthe, einen in den Barther Bodden mündenden, knapp fünfunddreißig Kilometer langen Fluß, überqueren und kurz darauf die ersten Häuser Barths erreicht haben, beginne ich zu überlegen, wo genau ich aussteigen will. Ich beschließe, nicht bis zum Bahnhof mitzufahren, sondern möglichst nah am Zentrum der kleinen Stadt auszusteigen. Gespannt warte ich darauf, irgendwo voraus das alte Stadttor zu entdecken, das heute morgen bereits aus meinen Erinnerungen aufgetaucht war. Werden wir hindurchfahren? Oder drumherum?
Kurz darauf habe ich die Antwort. Gerade als ich durch das Frontfenster des Busses weit voraus ein hohes turmartiges Gebäude mit einer Toröffnung am Boden ausmachen kann, schwenkt der Bus nach links, verläßt die darauf zuführende Straße und umfährt das Zentrum der Stadt weiträumig in Richtung Bodden. Wenige Minuten später kommt er an der am Hafen der Stadt gelegenen Haltestelle zum Stehen. Die Türen öffnen sich und ich steige aus.
Just diesen Moment sucht sich der Himmel aus, um den Regen wieder einsetzen zu lassen. Zwar nieselt es nur leicht, doch ich verspüre dennoch nur wenig Lust, draußen herumzulaufen, während unablässig Wasser von oben auf mich herunterfällt. Wollte ich lediglich ein paar Besorgungen machen, wäre das nicht weiter schlimm, doch für einen Stadtbummel eignet sich Regenwetter eher weniger. So beschließe ich, den Hafen später einer eingehenderen Betrachtung zu unterziehen, und mache mich auf den Weg zum nahegelegenen Marktplatz, wo, wie ich weiß, die Sankt-Marien-Kirche zu finden ist. Eine eingehende Besichtigung des Gotteshauses sollte dem Himmel ausreichend Gelegenheit geben, den Regen wieder einzustellen. Stadt und Hafen würde ich danach noch ausgiebig besichtigen können.
Von der am Hafen vorüberführenden Straße, in der der Bus gehalten hatte und die passenderweise den Namen Hafenstraße trägt, biege ich in die Fischerstraße ein. Bereits nach wenigen Metern passiere ich die einstige mittelalterliche Stadtmauer, was allerdings kaum zu bemerken ist, da sie nicht mehr steht. Lediglich die hier die Fischerstraße kreuzende Mauerstraße erinnert mit ihrem Namen an das historische Bauwerk, das die Stadt einst vollständig umgeben hat. Genau hier hat sich auch eines der vier Tore befunden, die damals Zugang zur Stadt gewährten. Im Pflaster der Straße hat man dessen Standort markiert, indem man links und rechts der mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Fahrbahn die diese begrenzenden Mauern des Turms angedeutet hat. Warum man dafür auf der rechten Straßenseite allerdings erhöhte, in die Fahrbahn hineinragende und sie so verengende Bordsteinkanten verwendet hat, während sich die Markierung auf der linken Seite eben in das Straßenpflaster einfügt, erschließt sich mir nicht so ganz. Aber wie heißt es doch: Die Genossen werden sich schon was dabei gedacht haben. Ich muß unwillkürlich schmunzeln, als mir diese Redewendung aus vergangenen DDR-Tagen durch den Kopf geht.
Die meisten Häuser in der Fischerstraße haben drei Stockwerke, deren oberes durch ein Spitzdach nach oben hin abgeschlossen wird. Bis auf wenige wenden sie ihre Giebelseite der Straße zu. Die Fassaden sehen nahezu alle wie aus dem Ei gepellt aus. Hier hat man in den letzten Jahren und Jahrzehnten ganz offensichtlich viel gemacht. Die Häuserfronten sind sauber verputzt, allerdings meist in nur einer Farbe, was sie ein wenig langweilig macht. Einige wenige Häuser durchbrechen dieses Einerlei jedoch. Eines präsentiert stolz seine Ziegelfassade, ein anderes zeigt sich in schlichtem Fachwerk. Und eines ist dabei, das wohl als das schwarze Schaf der Straße bezeichnet werden muß, denn es scheint ihm nicht gelungen zu sein, es zu etwas zu bringen. Der Putz ist fleckig braun und bröckelt hier und da bereits ab, wodurch er die darunter liegenden Ziegel freilegt. Die Fenster im Erdgeschoß hat man mit Brettern und Sperrholzplatten verrammelt, in den oberen Stockwerken ersetzen, wie es scheint, blinde Plastiktafeln die Scheiben der ansonsten leeren Fenster. Und an der Giebelspitze bröckelt bereits die Dachkante nach und nach weg. Hier wohnt ganz offensichtlich niemand mehr.
Als ich das Ende der Fischerstraße erreicht habe, stehe ich an der nordöstlichen Ecke des Marktplatzes. Sein großes Areal wird an allen vier Seiten von ebensolchen Häusern umstanden, wie ich sie bereits in der Fischerstraße angetroffen habe, allerdings mit dem Unterschied, daß den hiesigen ein viertes Stockwerk gestattet wurde. Doch auch hier sehen allesamt so aus, als seien sie nagelneu. Der Markt besitzt eine rechteckige Grundform, wobei die Ost-West-Ausdehnung die größere Länge aufweist. Nord- und Südseite werden jeweils von einer Baumreihe gesäumt, wobei man die Bäume so zurechtgestutzt hat, daß sie nicht nur einheitlich hoch sind, sondern daß ihre Kronen auch an der Unterseite eine gerade Linie bilden. Zwar sind die Äste um diese Jahreszeit noch kahl, doch wird trotzdem sehr deutlich, daß die Baumreihen wie zwei große, auf mehreren Baumstammstelzen ruhende Balken aussehen. Es ist mir ein ewiges Rätsel, warum sich Menschen die Mühe machen, Pflanzen in ihrem Wachstum so zu dressieren, daß sie strenge Formen und Linien, einheitliche Höhen und strikte Symmetrie einhalten. Das ist in meinen Augen nicht nur gemein, sondern auch ausgesprochen langweilig anzusehen. Mehr Glück hatte da der Baum, der auf der Ostseite des Marktes allein stehen darf. Ihm ist es gestattet, so zu wachsen, wie er will. Der Verzicht auf jegliche Symmetrie, jede Beschränkung in Breite und Höhe und die Wahrung irgendeiner vorgegebenen Form läßt ihn trotz seiner momentanen Laublosigkeit ungleich viel interessanter aussehen als seine bedauernswerten in Reih und Glied gezwungenen Artgenossen an den Seiten des Platzes.
Aufgrund des regnerischen Wetters wirkt der Platz heute etwas trist. Weil er, sieht man einmal von dem einzelnen Baum, dem achteckigen Brunnen mit den drei auf einer Ziegelsäule aufragenden Fischen in der Mitte und ein paar vereinzelt parkenden Autos ab, weitgehend leer ist, dominiert sein rotes Ziegelpflaster das Erscheinungsbild des Platzes. Es glänzt in der Nässe, die der Regen ausgiebig darauf verteilt. Kaum eine Menschenseele ist zu sehen. Wie es scheint, haben es die meisten Bewohner der Stadt vorgezogen, sich im Inneren der Häuser aufzuhalten, wo es warm und trocken ist. Nur wer unbedingt muß, ist jetzt draußen unterwegs. Und ich.
Über den Dächern der Häuser an der Westseite des Marktes, meinem Standort genau gegenüber, kann ich das Dach und den Turm der Sankt-Marien-Kirche aufragen sehen, die sich dahinter befindet. Und weil ich angesichts des Regens keine Veranlassung sehe, mich länger als unbedingt nötig draußen aufzuhalten, lenke ich meine Schritte zielstrebig dorthin. An der Nordwestecke des Marktes angekommen, gehe ich an den Häusern vorbei in die Papenstraße hinein und bin nach wenigen weiteren Schritten an der nördlichen Längsseite der Kirche angekommen.
Eine kleine Grünanlage trennt die Kirche von der ebenfalls mit Kopfsteinen ausgelegten Fahrbahn der Straße. Direkt an der Wand des Gotteshauses führt ein Weg entlang, den ich einschlage. Links neben mir ragen die Backsteinmauern des Kirchengebäudes in die Höhe, die in regelmäßigen Abständen von riesigen, dreigeteilten und nach oben hin in einem spitzen Bogen auslaufenden Kirchenfenstern unterbrochen werden – unmißverständliche Hinweise auf den Baustil der norddeutschen Backsteingotik, der dem Bau zugrundeliegt.
Wann der Grundstein für die Sankt-Marien-Kirche, die das bedeutendste Gotteshaus Barths ist, gelegt wurde, weiß man nicht genau. Vermutet wird, daß es um das Jahr 1250 herum geschah. Aus dieser Zeit stammt der Chor der Kirche, an dem ich als erstes vorübergekommen bin, denn er ist dem Marktplatz zugewandt. Den Namen Sankt-Marien-Kirche trug das in Bau befindliche Gotteshaus damals noch nicht. Dessen erste urkundliche Erwähnung findet sich erst 1340. Gebaut hat man gute zweihundert Jahre. Mit der Vollendung des Turms waren die Bauarbeiten im 15. Jahrhundert schließlich abgeschlossen. Zu dieser Zeit war die Kirche natürlich noch katholisch, schlug doch Martin Luther seine 95 Thesen erst im Jahre 1517 an die Tür der Wittenberger Schloßkirche, womit die Reformation offiziell begann. Und da die Bürger der Stadt damals recht wohlhabend waren und die katholische Kirche gegen Prunk nichts einzuwenden hatte, war die Innenausstattung des Gotteshauses zu jener Zeit noch recht prachtvoll. Das änderte sich jedoch, als die Reformation schließlich auch nach Vorpommern kam und Fuß zu fassen begann. Offiziell eingeführt wurde sie hier um 1535. Das hatte eine erste und gleichzeitig radikale Umgestaltung des Kircheninneren zur Folge. Entsprechend den neuen Ansichten hatte die Ausstattung einer Kirche schlicht zu sein. So entfernte man die prächtige Innenausstattung, die die Bürger der damals reichen Hafenstadt über die Jahre der Kirche hatten angedeihen lassen, und ersetzte sie durch eine bedeutend einfachere Ausgestaltung.
Als sich Anfang des 19. Jahrhunderts die Aufklärung auch in den deutschen Landen durchzusetzen begann, erfuhr das Gotteshaus eine weitere Umgestaltung. 1820 wurde sie im Stil der Aufklärung renoviert und erhielt eine neue Orgel, die der Berliner Orgelbauer Johann Simon Buchholz gemeinsam mit seinem Sohn Carl August Buchholz schuf. Fast vierzig Jahre später kam es dann zu einer erneuten gravierenden Veränderung. Seit dem Jahre 1815 gehörte Pommern zum Königreich Preußen, dessen König Friedrich Wilhelm IV. der Provinz immer wieder einmal einen Besuch abstattete. Als er bei einer dieser Reisen auch einmal nach Barth kam und die Sankt-Marien-Kirche aufsuchte, mißfielen ihm deren in schlichtem Weiß gehaltene Innenbemalung und die nüchterne Ausstattung offenbar derart, daß er im Jahre 1857 eine umfassende Neugestaltung des Gotteshauses veranlaßte. Den Auftrag dazu vergab er an keinen Geringeren als den Architekten Friedrich August Stüler, einen Schüler Karl Friedrich Schinkels. Berliner sollten ihn als den Schöpfer des Neuen Museums, der Kirche St. Peter und Paul auf Nikolskoje, der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, der Alten Nationalgalerie auf der Museumsinsel sowie der Kuppel des Berliner Stadtschlosses kennen. Passend zum gotischen Baustil des Kirchengebäudes verhalf Stüler dessen Innenraum zu seinem heutigen Erscheinungsbild, das er im Stile der Neugotik entwarf. Dieses selbst in Augenschein zu nehmen, bin ich mehr als gespannt.
Mittlerweile habe ich eine genau in der Mitte der Nordseite des Kirchenschiffes gelegene zweiflügelige Eingangspforte erreicht, deren Tür sich bei einem Druck auf die Klinke als offen erweist. Somit steht einem Besuch des Inneren der Sankt-Marien-Kirche nichts mehr im Wege und ich trete ein[1]Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende … [Weiterlesen].
Hatte ich erwartet, in einen von Dämmerlicht erfüllten Kirchenraum zu gelangen, so bin ich einigermaßen überrascht, als ich mich stattdessen in einem Kirchenschiff wiederfinde, das zwar von Licht nicht gerade überflutet wird, doch einen ausgesprochen hellen und freundlichen Eindruck macht. Verantwortlich dafür sind nicht nur die hohen, dreiteiligen und nach oben spitz zulaufenden Bogenfenster in den beiden Seitenschiffen, sondern auch die farbenprächtige Gestaltung des Raumes. Die Wände und die mächtigen, die drei Schiffe voneinander trennenden und das Gewölbe der Decke tragenden Pfeiler sind in einem hellen, sandsteinfarbenen Ton gehalten. Die einander kreuzenden Rippen dieses Gewölbes sind ebenso wie die spitz zulaufenden Bögen zwischen den Pfeilern rot und blau bemalt und teilweise mit Ornamenten verziert.
Auf dem Boden des Hauptschiffes stehen die Kirchenbänke, die zwischen den Pfeilern bis in die Seitenschiffe hineinragen. Dabei handelt es sich jedoch nicht um einfache, hintereinander aufgereihte lange Bänke, wie man sie aus vielen Kirchen kennt. Zwar sind die hiesigen, in hellem Grau gehaltenen Sitzgelegenheiten ebenfalls aus Holz und sehen mit ihren senkrechten Lehnen, die in strengen rechten Winkeln zur Sitzfläche stehen, auch genauso unbequem aus wie anderswo, doch hat man hier jeweils mehrere dieser Bänke zu Blöcken zusammengefügt, eingefaßt von hölzernen Wänden, die die gleiche Höhe wie die Banklehnen aufweisen und in denen Türen den Zugang zu den einzelnen Bänken gewähren. Es handelt sich um ein sogenanntes Kastengestühl.
Über dem Mittelgang, der zwischen den Kirchenbänken durch das gesamte Hauptschiff verläuft, hängen drei große Kronleuchter aus einem Metall, das ich für Messing halte. Der mittlere, heißt es, sei eine Stiftung Kaspar Kümmelbergs gewesen, der von 1577 bis 1655 lebte und in Barth Bürgermeister war. Die anderen beiden Leuchter hat der Stralsunder Gelbgießer Dominicus Slodt in den Jahren 1589 und 1590 geschaffen. Das Material dafür gewann man aus dem Deckel des Tauffasses, der dafür eingeschmolzen wurde.
Dieses Tauffaß ist ebenfalls noch in der Kirche vorhanden. Ich entdecke es direkt vor der Kanzel, die sich an der nördlichen Längsseite des Hauptschiffes am vom östlichen Ende aus zweiten Pfeiler befindet. Taufbecken habe ich in Kirchen schon viele gesehen, doch ein Tauffaß wie dieses noch nie. Auch als Tauffünte bezeichnet, gehört es zu den ältesten Stücken des Kircheninventars. Vollständig aus sogenanntem Rotmessing beziehungsweise Bronze bestehend, wurde es in der Zeit nach 1360 geschaffen. Daß mir ein so altes Taufbecken aus Metall ungewöhnlich erscheint, kommt nicht von ungefähr. Der ansonsten gebräuchliche Begriff Taufstein hat schließlich durchaus seinen Grund. Und tatsächlich ist das hiesige Exemplar die einzige erhaltene Bronzetaufe in ganz Vorpommern. Im Grundriß achteckig, zeigt das Faß, dessen Höhe ich auf etwa einen Meter und zwanzig Zentimeter schätze, an seinen acht Seiten jeweils zwei übereinanderliegende Reliefbilder. In jedem von ihnen stehen immer zwei Personen, die dem Kreis der Apostel, der christlichen Heiligen und der Figuren biblischer Geschichten entstammen. Am oberen Rand ragt an jeder der acht Kanten ein kleiner Kopf hervor. Menschen und Tiere sind dabei bunt gemischt. Unten ruht das Faß auf einem großen Fuß, dessen Standfläche den achteckigen Grundriß wiederholt. An vier der acht Seiten stehen darauf Figuren, die so gestaltet sind, daß sie das Faß auf ihren Schultern zu tragen scheinen.
An dem Pfeiler, vor dem das Tauffaß steht, windet sich eine steinerne Treppe zum Korb der Kanzel hinauf. Dieser zeigt an seinen Außenseiten in Feldern mit gotischen Formen als Relief gestaltetes steinernes Blattwerk. Die Felder wurden mit einem tiefblauen Hintergrund versehen, über dem sich die Ranken zu winden scheinen. Während an der unmittelbaren Vorderseite des Kanzelkorbes ein aufgeschlagenes Buch mit den beiden griechischen Buchstaben Alpha und Omega in das Blattwerk eingearbeitet wurde, sind es an den Seiten links und rechts davon Spruchbänder, ein Engel und ein Kelch. Am unteren Rand des Kanzelkorbes, der auf einem mächtigen Sockel ruht, blicken kleine Engelsköpfchen dem Betrachter entgegen. Nach oben hin wird die Kanzel durch eine Abdeckung abgeschlossen, die die Form eines gotischen Turmes besitzt und reich gegliedert ist. Im Gegensatz zum steinernen Kanzelkorb besteht diese Abdeckung aus tiefdunklem Holz.
Ausmalung und ornamentale Gestaltung wurden ebenso wie die Kanzel und die Emporen im Zuge der von Stüler vorgenommenen Umgestaltung entweder erneuert oder gänzlich neu geschaffen. Die Emporen befinden sich an den Seitenwänden der äußeren Kirchenschiffe sowie am westlichen Ende des Hauptschiffs. Während erstere aus Holz bestehen und nur eine Etage besitzen, ist die Westempore aus Stein gemauert und weist zwei Ebenen auf, von denen die obere die Orgel trägt. Das bereits vorhandene gewaltige Instrument hatte Stüler mit einem neuen Prospekt versehen lassen, der seinem Gesamtkonzept entsprechend im Stile der Neugotik geschaffen wurde. So bilden insbesondere Kanzel und Orgel eine gestalterische Einheit.
An einem der Pfeiler, deren Grundriß im übrigen ebenfalls achteckig ist – das scheint ein wiederkehrendes Motiv zu sein -, hat man an fünf seiner Seiten lange Tafeln angebracht, deren Form ebenfalls Elemente der Neugotik aufweist. Die darauf zu lesenden langen Namenslisten weisen sie ebenso wie die am oberen Ende sichtbaren Darstellungen von Kränzen und Eisernem Kreuz als Erinnerungsstätte für im Krieg gefallene Soldaten aus. Die Daten aus den Jahren 1914 bis 1918 zeigen, daß es sich um Soldaten handelt, die ihr Leben im Ersten Weltkrieg verloren und sicherlich alle aus Barth stammten. Insgesamt sind es 286 Namen, die für jedes Jahr nach den Ländern gruppiert sind, aus denen ihre Träger nicht zurückkehrten. Frankreich, Flandern, Rußland, Rumänien, Mazedonien – der Orte sind viele. Und wo man kein Land zuordnen konnte, hat man Gruppen wie „Lazarett“ oder „Auf See“ verwendet. Fast dreihundert Männer, an die der damalige Kriegerverein der Stadt mit diesen Tafeln erinnern wollte. Liest man anderswo, daß der Weltkrieg Millionen tote Soldaten zeitigte, ist das stets eine Größenordnung, die nur schwer Eingang in die eigene Vorstellungskraft findet. Doch die Zahl Dreihundert in Bezug zu einer Kleinstadt wie Barth läßt mit einem Mal deutlich werden, wie groß die Verluste an Menschenleben in diesem Krieg wirklich waren und wie sehr sie die Bevölkerung des Landes betrafen. Männer, die in fremde Lande auszogen, um dort irgendeinen Kampf zu kämpfen, der sie und ihr Leben eigentlich nicht betraf, und aus denen sie niemals zurückkehrten – zu ihren Familien, ihren Frauen und Kindern, ihren Müttern und Vätern, ihren Geschwistern, die von nun an ohne sie weiterleben mußten, betroffen von dem Verlust und dem vielleicht nie ganz zu verwindenden Schmerz darüber. Und dennoch wird die Menschheit nicht klüger. Dennoch werden bis zum heutigen Tage immer wieder Kriege geführt, in denen sich Soldaten gegenüberstehen und gegenseitig töten, die sich nicht einmal kennen und einander vorher nie etwas zuleide getan haben, die jedoch durch Kriegspropaganda so aufgehetzt wurden, daß sie ernsthaft glauben, sie kämpften für irgendeine gerechte Sache oder gegen einen bösartigen Feind und helfen, den Frieden zu sichern, indem sie Gewalt ausüben und töten. Und die Bevölkerung zu Hause wähnt sich derweil an der Heimatfront und übt sich in Haß auf den Gegner, in dem sie das personifizierte Böse zu erkennen glaubt, weil es in den Medien der Mächtigen tagtäglich so steht oder gesagt wird. Und keiner erinnert sich daran, was die älteren Generationen über vergangene Kriege erzählten, wieviel Leid sie brachten, wieviel sie unwiederbringlich zerstörten und welche Lehren man doch einst daraus gezogen zu haben glaubte, als man aus voller Überzeugung „Niemals wieder!“ gelobte. Hassen ist ja so einfach, besonders, wenn man über den vermeintlichen Gegner so gut wie nichts weiß, doch alles glaubt, was einem über ihn gesagt wird. Und so kommen zu den vergessenen Denkmälern vergangener Kriege nach und nach neue hinzu, wenn es denn nach den nächsten Kriegen noch Orte gibt, an denen man sie aufstellen kann, und wenn dann noch jemand da ist, der es tut. Nach dem zweiten der großen Weltkriege war das wohl schon nicht mehr der Fall, denn ein ähnliches Denkmal für die darin zu Tode gekommenen Männer Barths findet sich in der Kirche nicht. Vielleicht gab es einfach nur keinen Kriegerverein mehr, der das hätte tun können. Vielleicht waren es auch einfach zu viele Namen, die man hätte auflisten müssen, als daß sie an einen Pfeiler gepaßt hätten. Und wer weiß – wenn es demnächst erneut zu einem großen Krieg kommt, weil die Deutschen wieder einmal glauben, gegen den Russen in den Kampf ziehen zu müssen, weil die Medien ihnen das gesagt haben, dann wird es in dieser Kirche vielleicht nicht einmal mehr einen Pfeiler geben, an dem man ein weiteres Denkmal für die Gefallenen anbringen könnte…
Ich wende mich von den Tafeln mit den Namenslisten ab und gehe den Mittelgang des Kirchenschiffs entlang in Richtung des Chores, der sich am Ostende des Gotteshauses befindet. Ganz traditionell steht hier der Altar. Handelt es sich dabei zumeist um einen großen, mit einem Tuch verhängten Tisch, auf dem ein Kruzifix und vielleicht ein paar Kerzen stehen, so ist dieser hier etwas ganz Besonderes. Zwar gibt es auch hier einen großen Altartisch, doch ist dieser nicht komplett verhängt. Das große weiße Tuch, das ihn bedeckt, hängt nur an den Schmalseiten wenige Zentimeter herunter, doch insbesondere die Vorderseite läßt es frei. Hier hängt lediglich ein etwa ein Meter breites, hellgraues Leinentuch herab, auf dem ein goldfarbenes Kreuz und darüber eine ebensolche Krone eingestickt sind. Links und rechts davon kann man an den beiden seitlichen Enden des Tisches die beiden steinernen Säulen sehen, die ihn tragen, während die hintere Seite von einer massiven Rückwand abgeschlossen wird. Da diese lediglich unter der Tischplatte zu sehen ist und somit in tiefem Schatten liegt, kann ich leider nicht erkennen, ob sie aus Holz oder Stein besteht. Dafür ist die Kante der Altarplatte um so besser zu erkennen. Sie ist mit dicht aneinandergereihten goldenen Sternen verziert. Auf dem Altar stehen zwei große Kerzen auf schwarzen Leuchtern, zwischen denen man eine Vase aufgestellt hat, in der einige dicht mit weißen Blüten besetzte Zweige stecken. Hinter der Vase ragt ein übermannshohes Kruzifix mit einer marmornen Jesusfigur auf. Das beeindruckendste Accessoire des Altars ist jedoch der hohe Sandsteinbaldachin, der ihn überwölbt. Auf vier in einem Quadrat angeordneten starken Pfeilern ruhend, ist er ebenso wie Kanzelhaube und Orgelprospekt im neugotischen Stil gestaltet und sieht aus wie eine kleine Kirche in der großen. An jedem der vier Pfeiler befindet sich am Ansatz des Baldachin-Daches eine steinerne Statue. Die vier Seiten sind mit großen, spitz zulaufenden Bögen versehen, über denen sich jeweils ein dreieckiger Giebel befindet, auf dessen Spitze eine Engelsfigur steht. Im Inneren des Baldachins ist das Dach als Gewölbe gestaltet, dessen in der Mitte befindlicher Schlußstein die Figur einer weißen Taube trägt. Die Felder des Gewölbes sind mit tiefem Blau ausgemalt, auf dem sich eine Vielzahl goldfarbener Sterne befindet, was den schönen Eindruck erweckt, der Tisch des Altars befände sich unter einem prächtigen Sternenhimmel.
Einen solchen sogenannten Ziborium-Altar hatte Stüler ein paar Jahre zuvor bereits in der alten Berliner Garnisonkirche gestaltet[2]Ich habe darüber ausführlich in meiner Serie zur Geschichte der Berliner Garnisonkirche berichtet, die auf meiner Website Anderes.Berlin zu finden ist. Die Beschreibung des dortigen von Stüler … [Weiterlesen]. Dort war es ihm allerdings nicht möglich gewesen, ihn freistehend in der Mitte des Raumes zu plazieren, wie er das hier getan hatte, so daß der Altar gewissermaßen das Zentrum des Chorraumes bildet. In der Garnisonkirche hatte er ihn stattdessen mit der Rückseite an eine Wand anschließen müssen, was ihm andererseits jedoch die Möglichkeit geboten hatte, den Altar mit einem großen Altarbild über dem Tisch zu versehen. Heute wäre es sicher interessant, diese beiden Werke Stülers miteinander zu vergleichen, doch leider ist die Berliner Garnisonkirche im Zweiten Weltkrieg untergegangen – ein Schicksal, das ihr Ziborium-Altar teilte, auch wenn er sich zu dieser Zeit bereits nicht mehr im Kirchenraum befunden hatte, da er bei einem Umbau im Jahre 1899 von dort entfernt worden war.
Die Wände des Chorraums sind mit Scheinemporen versehen. Im unteren Bereich reihen sich als Spitzbögen ausgeführte Felder aneinander, die von als runde Säulen gestalteten Pilastern voneinander getrennt werden. Darüber ist eine Balustrade zu sehen, die den Anschein erweckt, als befände sich darüber eine Empore. Tatsächlich setzen sich jedoch, sieht man einmal vom ersten Drittel des Chorraumes ab, wo das tatsächlich der Fall ist, die Wände unmittelbar fort. Sie zeigen lebensgroße Darstellungen der zwölf Apostel, die der Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, der in hiesigen Gefilden auch als Barths Michelangelo bezeichnet wird, im Rahmen der von Stüler konzipierten und geleiteten Neugestaltung der Kirche geschaffen hat. Die Freskenmalereien sind von beeindruckender Natürlichkeit und wirken regelrecht lebensecht. Die Apostel sind dabei jeweils paarweise angeordnet und scheinen in von gotischen Baldachinen überdachten Nischen zu stehen, die jedoch ebenfalls aufgemalt sind. Jeder von ihnen ist an charakteristischen Gegenständen zu erkennen, mit denen er in der biblischen Geschichte verbunden ist und die er in der hiesigen Darstellung bei sich trägt. Jacobus der Ältere beispielsweise trägt die Jakobsmuschel sowie Pilgerhut und -stab, während Petrus an dem Schlüssel zu erkennen ist. Paulus hält das Schwert und Johannes der Evangelist den Kelch mit der Schlange. Bei einigen von ihnen bedarf es allerdings der Kenntnis ihrer Attribute nicht, denn ihre Namen sind in die steinernen Sockel zu ihren Füßen eingemeißelt.
Die östliche Rückwand des Chores wird in der Mitte von einem riesigen Fenster eingenommen. Es ist wohl das einzige Buntglasfenster der Kirche und vorwiegend mit roten und blauen Ornamenten gestaltet. Nur in seiner Mitte ist eine große Mandorla[3]Eine Mandorla ist eine Glorie oder Aura beziehungsweise Aureole, die eine ganze Figur umgibt. zu sehen, in deren Innerem sich das Bildnis Der auferstandene Christus befindet. Es wurde im Jahre 1889 nach Entwürfen von Professor Andreas Müller geschaffen.
Als ich den Chorraum wieder verlassen will, komme ich an einem kleinen Ständer vorüber, der ein einfaches Textblatt trägt. Es weist mich auf zwei weitere von Karl Gottfried Pfannschmidt geschaffene Bildnisse hin, die sich im sogenannten Gurtbogen des Chores befinden. Der Gurtbogen ist der große steinerne Bogen, der gewissermaßen den Eingang in den Chor bildet und diesen vom Kirchenschiff abtrennt. Da ich meinen Blick beim Betreten des Chores auf den in dessen Zentrum befindlichen Altar gerichtet hatte, waren mir die beiden Gemälde völlig entgangen, obwohl sie sich doch in Augenhöhe und damit bedeutend tiefer als die Apostelfresken befanden. Aus dem Text erfahre ich, daß die Nordseite des Bogens Die Menschwerdung Christi zeigt, während auf der Südseite Die Auferstehung Christi zu sehen ist. Folgerichtig ist auf ersterem Gemälde die von den Hirten umgebene Maria zu sehen, die den neugeborenen Jesus auf ihrem Schoß hält, während das letztere den auferstandenen Heiland zeigt. Die Wahl der Themen für die beiden Gemälde, so heißt es in dem Text, geht auf Pfannschmidt selbst zurück, der sie vorschlug, nachdem Stüler im Anschluß an die Besichtigung der gerade fertiggestellten Apostelfresken angeregt hatte, daß man doch auch den unteren Teil des Gurtbogens noch mit weiteren Malereien Pfannschmidts versehen solle, um zu ermöglichen, daß die großartige Malkunst des Künstlers auch aus der Nähe gesehen werden könne. Und tatsächlich, so beeindruckend und schön die Darstellungen der Apostel im Chor der Sankt-Marien-Kirche auch sind, erst die Betrachtung dieser beiden Gemälde, die ich gewissermaßen direkt vor Augen nehmen kann, läßt mich die großartige Malkunst des Barther Michelangelo so richtig würdigen. Derart lebensechte Darstellungen habe ich in einer Kirche auf den dort üblichen Bildwerken selten zu sehen bekommen. Meist scheinen mir die Malereien religiös stark überhöht, die Figuren entrückt und weit jenseits gewöhnlicher Menschen zu sein. Ein Eindruck, der wahrscheinlich durchaus gewollt ist. Hier jedoch kann ich nicht umhin zu meinen, ganz gewöhnliche Menschen – im besten Sinne – vor mir zu sehen, wie man sie in jenen Zeiten allerorten hätte treffen können. Und doch strahlen die Gemälde gleichzeitig etwas Erhabenes aus, jedoch auf eine Weise, daß man sich als Betrachter nicht klein und weit davon entfernt fühlt.
Über ihren Schöpfer, den Maler Karl Gottfried Pfannschmidt, erfahre ich später noch, daß er, der ursprünglich aus Mühlhausen in Thüringen stammte, sein Leben in meiner Heimatstadt Berlin beendet hat und auf dem Alten Sankt-Matthäus-Kirchhof bestattet wurde, wo sein Grab seit 1984 ein Ehrengrab der Stadt Berlin ist. Zu seinen Lebzeiten hatte er gemeinsam mit Peter von Cornelius an der Ausschmückung der Vorhalle des Alten Museums gearbeitet und mit Wilhelm von Kaulbach die Ausmalung des Treppenhauses des Neuen Museums vorgenommen. Manchmal muß man erst ein Stück in die Ferne reisen, um etwas über die eigene Heimat zu erfahren.
Ich bewundere die Bildnisse, den Altarraum und die gesamte Kirche noch eine Weile, doch schließlich habe ich alles eingehend in Augenschein genommen, so daß es Zeit ist, das Gotteshaus wieder zu verlassen. Langsam begebe ich mich zum Ausgang, wo ich durch ein Hinweisschild noch auf die Bibliothek der Kirche aufmerksam werde, die sich in der nördlichen Seitenhalle des Turmes befindet. Sie wurde bereits im Jahr 1398 erstmals erwähnt und umfaßt etwa viertausend vorwiegend kirchengeschichtliche Werke – Handschriften, Bücher und Drucke. Darunter sind nicht nur die umfangreiche Sammlung des Barther Reformators Johannes Block, sondern auch die Erstausgaben sämtlicher Schriften Martin Luthers sowie einige Schriften Philipp Melanchthons. Zwei Weltkriege hatten ihr glücklicherweise nichts anhaben können, so daß sie heute weitgehend vollständig erhalten ist. Leider ist sie nicht öffentlich zugänglich, so daß ich sie nicht selbst in Augenschein nehmen kann.
Als ich schließlich durch die seitliche Kirchentür, durch die ich hereingekommen war, wieder ins Freie trete, muß ich feststellen, daß der Wettergott die Zeit weidlich genutzt hat, um den Regen noch zu verstärken. Nun nieselt es nicht mehr nur, sondern pladdert regelrecht. Zwar kann ich auf dem Straßenbelag noch keine Blasen sich bilden sehen, doch kann das auch daran liegen, daß dieser hier konsequent aus Kopfsteinpflaster besteht, von dem ich nicht weiß, ob Regen darauf üblicherweise Blasen bildet.
Nun, das ist weniger schön. Doch will ich mich davon nicht abschrecken lassen. Das wäre ja noch schöner, denke ich. Wie heißt es doch so treffend? Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unangepaßte Kleidung. Genau! Das bißchen Regen wird mich nicht davon abhalten, mir die Stadt anzusehen.
Mutig laufe ich los. Zunächst geht es zur Westseite der Kirche, denn in dieser Richtung muß, wie ich weiß, das alte Stadttor liegen. Schließlich war mein Bus vorhin von Westen aus in die Stadt hineingefahren. Dort angekommen, finde ich mich vor einem großen Eingangsportal wieder, dessen Spitzbogen von einer dreifach abgestuften Ziegeleinfassung gebildet wird und das damit dem Seitenportal, durch das ich die Kirche zuvor betreten hatte, recht ähnlich ist. Dort waren es allerdings vier Abstufungen gewesen. Die große, zweiflügelige Holztür ist fest verschlossen. Hier kommt niemand hinein oder hinaus. Glücklicherweise hatte ich den an der Nordseite gelegenen offenen Eingang zur Kirche bereits vorher gefunden.
Das Kopfsteinpflaster der Papenstraße, auf der ich unterwegs bin, glänzt vor Nässe, die vom niederprasselnden Regen beständig erneuert wird. Nur wenige Schritte weiter stoße ich auf eine Kreuzung, an der die Papenstraße auf die Dammstraße trifft. An der Ecke steht ein Wohnhaus, dessen prächtige rote Fassade aus einfachen Ziegeln besteht. Über und unter den Fenstern hat man mittels gelber Steine Verzierungen eingemauert. Und zwischen der oberen Etage und dem Erdgeschoß verläuft ein breiter Streifen aus ebensolchen gelben Ziegeln, als habe man das Gebäude mit einer Art zick-zack-gemusterten Bordüre versehen wollen. Das Haus ist der Länge nach entlang der Papenstraße ausgerichtet und wendet der Dammstraße seine schmale Giebelfront zu. Es wirkt mit seinen Verzierungen sehr hübsch, strahlt aber gleichzeitig mit seiner rohen Ziegelfassade eine gewisse Rustikalität aus. Obwohl seine sich in der Dammstraße anschließenden Nachbarhäuser alle eine ähnliche Form aufweisen, ist es leider nur noch eines von zweien unter ihnen, die über eine Backsteinfassade verfügen. Alle anderen Häuser wurden von ihren Besitzern verputzt. Zum Teil hat man dabei auch die klassische Aufteilung in Fensterachsen aufgegeben und stattdessen großformatige Fensteröffnungen geschaffen, die derart riesige Ausmaße haben, daß an den schmalen Giebelfronten nur je eine pro Etage Platz gefunden hat. Dafür ist jedes der Häuser in einer anderen Farbe gehalten, was dem Anblick eine angenehme Buntheit verleiht. Jedes der Gebäude wird nach oben hin durch einen dreieckigen Giebel abgeschlossen. Während sich einige dabei an die klassische geometrische Form halten, bevorzugen andere abgestufte Treppengiebel.
Der Blick in die Straße hinein offenbart mir nicht nur, daß ich weit und breit der einzige Mensch zu sein scheine, der bei diesem Wetter in der Stadt unterwegs ist, sondern auch die Richtigkeit meiner Annahme, daß sich in dieser Richtung das alte Stadttor befinden müsse, kann ich es doch weiter hinten aufragen sehen. Es nimmt die ganze Breite der schmalen Straße ein.
Es sind nur wenige Schritte zu gehen, dann habe ich das Tor auch schon erreicht. Steht man unmittelbar davor, wirkt es in seiner Wuchtigkeit unglaublich beeindruckend. Trotzig ragt der fünfunddreißig Meter hohe Torturm in den grauen, wolkenverhangenen Himmel auf. Die Straße führt direkt auf ihn zu. Nur widerwillig scheint er ihr Durchlaß gewähren zu wollen, denn die spitzbogige Toröffnung ist, obwohl schon die kopfsteingepflasterte Fahrbahn nicht eben breit genannt werden kann, noch einmal schmaler als diese. Darüber ragt die glatte, aus Ziegeln festgefügte Turmwand auf, bis sich im dritten Stock endlich zwei kleine Bogenfenster zeigen. Ob sie über Fensterscheiben verfügen oder einfach die schwarzen Löcher sind, als die sie von hier unten erscheinen, kann ich nicht erkennen. Der vierte Stock tut es dem dritten gleich, allerdings scheinen hier die Fenster schmaler zu sein. Die fünfte Etage besitzt anstelle von Fensteröffnungen nur mehr ein kleines Guckloch, das sich in einem Erker befindet, dessen unteres Ende ebenfalls eine Öffnung zu haben scheint. Und in der Tat – diese sogenannten Trauferker, von denen es an jeder Seite des Turmes einen gibt, waren als sogenannte Pechnasen gestaltet, durch die man auf etwaige Angreifer hätte siedendes Pech hinabgießen können. Darüber erhebt sich das Spitzdach des Turmes, das von einer Wetterfahne bekrönt wird und an jeder Ecke ebenfalls einen Erker aufweist. Diese vier weiteren Vorsprünge sind diagonal ausgerichtet, besitzen ihr eigenes kleines Spitzdach sowie Gucklöcher.
Natürlich war dieser Turm einst nicht als Einzelstück errichtet worden. Vielmehr war er Bestandteil der mittelalterlichen Stadtmauer, in der er gemeinsam mit seinen vier Kameraden, dem Langen Tor im Süden, dem Wiecktor im Osten und dem Fischertor am Hafen im Norden, einen gesicherten Durchgang in die Stadt bot. Er selbst trägt den Namen Dammtor, der auf den Hochwasserschutzdamm Bezug nimmt, der unmittelbar vor ihm begann. Errichtet wurde das Dammtor um das Jahr 1425 herum. Was man von außen natürlich nicht sehen kann, ist der Umstand, daß es im Inneren des Stadttores keine Treppen gab. Von Etage zu Etage gelangte man nur über Leitern, die man jeweils hochziehen mußte, wollte man die nächste Ebene erreichen.
Heute ist nur noch der trutzige Torturm erhalten. Zu Zeiten der Stadtmauer hatte das Dammtor jedoch noch ein vorgelagertes Vortor besessen, von dem der Weg bis zum eigentlichen Haupttor durch Mauern eingefaßt wurde. Auch einen doppelten Wassergraben hatte es gegeben, der vor der Stadtmauer lag und auf dem Weg vom Vor- zum Haupttor überquert werden mußte. Davon ist heute leider nichts mehr zu sehen. Vielmehr wirkt es so, als hätte jemand einst einen großen Turm errichten wollen, sich aber nicht sonderlich darum geschert, ob er mit ihm jemanden behindern oder stören würde, und ihn so mitten auf der Straße plaziert. Weder Stadtmauer noch Vortor noch Wassergraben sind heute noch vorhanden. Lediglich ein paar Reste schmiedeeiserner Torangeln in den Mauern der Durchfahrt zeugen davon, daß diese nicht immer so offengestanden hatte wie heute, sondern mit schweren Holzbohlentoren verschlossen werden konnte.
Warum das Dammtor nicht wie seine anderen drei Pendants und die Stadtmauer insgesamt im 19. Jahrhundert abgerissen wurde, scheint heute nicht ganz klar zu sein. Die an seinen Mauern angebrachten Texttafeln, die ein wenig aus der Geschichte der Barther Wehranlagen plaudern, wissen dazu leider nichts Genaueres zu berichten. Noch im 20. Jahrhundert hatte man Pläne dafür gemacht, doch letztlich lediglich ein paar angrenzende Häuser abgerissen. So blieb das Dammtor als einziges der einstigen vier Stadttore Barths bis zum heutigen Tag erhalten. Daß hier allerdings der Bus, der mich in die Stadt gebracht hatte, nicht versuchte, durch die Toröffnung zu fahren, leuchtet mir angesichts ihrer Enge unmittelbar ein. Er wäre, hätte er es getan, wohl geradewegs steckengeblieben. Mit unserem kleinen Trabant 601 S war das hingegen damals kein Problem gewesen, und so ist mir die Durchfahrt durch das Tor nach wie vor in Erinnerung. Heute kann ich immerhin hindurchlaufen. Und das tue ich auch. Schon, um wenigstens für ein paar Sekunden einmal nicht im Regen zu stehen.
Da es in der Barthestraße, die die Dammstraße auf der anderen Seite des Torturms fortsetzt, nichts weiter zu sehen gibt, was für mich von Interesse wäre, wende ich mich wieder um und gehe in die Stadt zurück. An der Ecke Dammstraße und Papenstraße würdige ich noch einmal den prachtvollen Anblick der Sankt-Marien-Kirche, von dem ich vorher, als ich in der Gegenrichtung unterwegs gewesen war, keine Notiz genommen hatte.
Ich gehe nun auf dieser, der Südseite der Kirche entlang, die ebenfalls durch eine kleine Grünanlage von der Straße getrennt ist. Auch hier gibt es ein in der Mitte der Kirchenwand gelegenes zweiflügeliges Portal, das den anderen beiden stark ähnelt, sich andererseits jedoch von ihnen dadurch unterscheidet, daß auf den Türflügeln zwei große preußische Kreuze zu sehen sind. Auch ist der Spitzbogen hier wieder mit vier Abstufungen versehen. Die Prüfung, ob die Tür offen oder verschlossen ist, spare ich mir diesmal allerdings und gehe weiter an der Grünanlage entlang. An ihrem östlichen Ende stoße ich auf einen großen metallenen Gegenstand, der hier auf der Rasenfläche abgelegt worden ist. Es handelt sich um eine große Glocke, die bei mir mit ihren beeindruckenden Ausmaßen einigen Eindruck schindet.
Eine Grünanlage scheint mir allerdings ein eher ungewöhnlicher Aufbewahrungsort für eine Kirchenglocke – denn um eine solche handelt es sich bei dem guten Stück unzweifelhaft – zu sein. Ganz sicher wird sie hier an diesem Ort keinen Ton mehr produzieren. Doch das muß sie auch nicht, denn sie ist eine der beiden Eisenglocken, mit denen man im Jahre 1925 die zwei kleineren der insgesamt drei Glocken der Kirche ersetzte. Weil Eisen jedoch als Glockenmaterial nicht sonderlich gut geeignet ist, da es nach nicht allzu langer Zeit ermüdet, mußte man die beiden Glocken bereits runde siebzig Jahre später stillegen. Das war 1997. Während die eine von ihnen im Stockwerk unterhalb der Glockenstube in der Kirche verblieb, legte man die andere an dieser Stelle vor der Kirche ab. Die dritte im Bunde, die große Glocke, wurde im Jahre 1911 gegossen, wobei man sich allerdings – wie bereits zweimal zuvor – an der 1585 gegossenen ersten Glocke orientierte. Vielleicht wollte man neben der Rücksicht auf Traditionen auch den mit ihr verbundenen Superlativ nicht verlieren, ist sie doch die zweitgrößte Bronzeglocke Vorpommerns.
Nach wie vor prasselt der Regen ununterbrochen hernieder. Und wie ich mir nun eingestehen muß, ist es ihm mit seiner unverminderten Stärke mittlerweile gelungen, meinen Trotz, den ich ihm zuvor beim Verlassen der Kirche entgegengebracht hatte, Stück für Stück aufzuweichen. Zwar hält ihn meine Regenjacke nach wie vor wirksam von mir ab, doch erweist sich ein Stadtbummel bei Dauerregen dann doch als wenig erbauliche Angelegenheit, zumal inzwischen auch die Kälte beginnt, vom Boden aufzusteigen, meine Schuhe und Strümpfe zu überwinden und meine Beine hinaufzuklettern. So erkenne ich denn zähneknirschend den Sieg des Wetters über meine Pläne und meinen Willen, ihm zu trotzen, an und beschließe schweren Herzens, meinen Ausflug abzubrechen und zurückzufahren.
Ist eine Entscheidung, so ungeliebt sie auch sein mag, einmal gefallen, setzt sie doch neue Energie frei. Und auch das Denken und die eigene Stimmung passen sich unmittelbar daran an, wie ich interessiert an mir selbst beobachten kann. War ich zuvor noch voller Enthusiasmus gewesen, mir alles in der Stadt anzusehen, Neues zu entdecken oder auch auf alte Erinnerungen zu stoßen, so bin ich nun, da ich beschlossen habe, den Regen Regen sein zu lassen und nach Prerow zurückzukehren, nur noch daran interessiert, zu einer Bushaltestelle zu gelangen, wo ich mich in einen Bus setzen und Kälte und Regen für eine Weile entkommen kann. Nun, vielleicht ist es aber auch das Mißempfinden, das mich angesichts fortdauernder Nässe und aufsteigender Kälte befallen hat, das es mir jetzt verleidet, irgendwo noch einmal anzuhalten und eine schöne Hausfassade oder einen anderen interessanten Ort zu bewundern. Nicht gerade mißmutig, doch konsequent verfolge ich mein neues Vorhaben und gehe raschen Schrittes zurück zum Marktplatz und von dort durch die Lange Straße direkt zum Bahnhof. Ich hätte auch zurück zum Hafen gehen können, was vielleicht geringfügig näher gewesen wäre, doch erscheint mir das Warten auf den Bus am Ufer des Boddens, wo der Wind ungehindert wehen und mir den Regen um die Ohren schlagen kann, als die weniger attraktive Alternative.
Von der Langen Straße registriere ich auf meinem Weg eigentlich nur noch, daß sie wohl die Hauptgeschäftsstraße der Stadt ist, denn ich komme an einer Vielzahl von Geschäften aller Art vorüber. Auch daß es hier einige sehenswerte Gebäude gibt, deren eingehendere Betrachtung sich lohnen würde, bemerke ich zwar durchaus wohlwollend, doch weil der Regen seine Intensität nun sogar noch einmal verstärkt hat, weiche ich von meinem gefaßten Entschluß dennoch nicht ab. Ihre Besichtigung wird einem zukünftigen weiteren Besuch in Barth ebenso vorbehalten bleiben müssen wie die des Hafens, den ich eigentlich nach meiner Besichtigung der Kirche noch einmal hatte aufsuchen wollen. Ich setze daher gedanklich einen weiteren Barth-Besuch auf die Liste meiner zukünftigen Vorhaben.
Am Ende der Langen Straße angekommen, befinde ich mich direkt am Bahnhof. Ich setze mich in eines der Wartehäuschen, die sich an dem angeschlossenen großen Parkplatz befinden. Als einige Zeit später der Bus vor mir hält, steige ich ein und fahre den Weg zurück, den ich gekommen bin. Der Regen hört während der gesamten Fahrt nicht auf und prasselt auch auf mich herunter, als ich in Prerow von der Bushaltestelle im Zentrum des Ortes zu meiner Pension gehe. Wie es scheint, umfaßt das Regengebiet mittlerweile nicht nur Barth, sondern die gesamte Region der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst.
Es ist früher Nachmittag, als ich schließlich mit leidlich nasser Regenjacke, doch nicht durchnäßt durch die Tür meines Zimmers trete. Ich werde wohl den Rest des Tages hier verbringen müssen. Nun gut, dann soll es eben so sein.
Ich verfolge einige Zeit das Fernsehprogramm, das mir eindrücklich vermittelt, warum es vor einigen Jahren eine ausgesprochen gute Idee war, den Fernseher aus meiner Wohnung zu verbannen. Was man dort an einem Nachmittag wie diesem geboten bekommt, ist kaum anders zu bezeichnen als mit Volksverblödung.
Da gibt es Quizsendungen, in denen die Fragen entweder so trivial sind, daß man sie auch noch beantworten kann, wenn man sein Gehirn im Tanzbein aufbewahrt, oder so abgehoben, daß selbst ein Hochschulstudium einem keine Chance einräumt, über derartiges Nischenwissen zu verfügen.
Auf einem anderen Kanal läuft eine Sendung, in der sich die Protagonisten redlich mühen, eine Gerichtsverhandlung zu simulieren. Weil das aber so billig wie nur irgend möglich produziert wird, sind die Darbietungen der Darsteller, bei denen es sich ganz offensichtlich um Laienschauspieler handelt, derart schlecht, daß jede Schulaufführung dagegen als hohe Schauspielkunst durchgeht. Von der hanebüchenen Story gar nicht zu reden. Wäre diese wirklich wahr, wie man offenbar den Anschein erwecken möchte, müßte man sich als Zuschauer ernsthaft fragen, ob es bei der Polizei eigentlich noch Ermittler gibt, die ihren Beruf verstehen. Offenbar nicht, denn in jeder dieser simulierten Gerichtsverhandlungen müssen die Anwälte und Richter es übernehmen, die Wahrheit ans Licht zu bringen, was ihnen natürlich stets durch ihre überragenden Fragen gelingt. Und wo die doch einmal nicht weiterhelfen, tritt garantiert irgendein unglaublicher Zufall auf den Plan, der sich natürlich immer genau zum Zeitpunkt dieser Gerichtsverhandlung ereignet. Der Stuß könnte größer nicht sein und beleidigt die Intelligenz des Zuschauers.
Der Rest des Angebots fällt allerdings auch in diese Kategorie oder, was noch schlimmer ist, in die der regelrechten Menschenverachtung. Wer will, kann dabei zusehen, wie Leute aus den untersten Schichten der Gesellschaft, die dafür wahrscheinlich ein paar dürftige Euro kriegen, vor die Kamera gezerrt und bloßgestellt werden. Hier versuchen schwer Übergewichtige abzunehmen und scheitern dabei, dort probieren notorisch Abgebrannte dies und das, um ihre Schulden zu vermindern, was ihnen jedoch nicht gelingt. Und stets sind scheinbar selbstlose Helfer zur Stelle, die letztlich jedoch nichts anderes tun, als diese Menschen vorzuführen und der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben.
Und dann sind da noch die ganzen anderen Formate, die als Realitätsfernsehen beziehungsweise Reality TV angepriesen werden und doch nur aus einer Aneinanderreihung genauso gestellter Szenen bestehen, wie es bei den Gerichtsshows bereits der Fall ist. Da kann man als Zuschauer Polizisten auf Streife begleiten oder Anwälten bei ihren Ermittlungen über die Schulter sehen, die sie mit der Hilfe von Privatdetektiven offenbar selbst anstellen müssen, weil die Polizei dafür keine Zeit mehr hat, da sie doch das Fernsehen auf Streife mitnehmen muß.
Das Nachmittagsprogramm des deutschen Fernsehens ist nach meinem Empfinden mittlerweile durch die Bank so dämlich, daß es definitiv besser ist, man schaltet den Fernseher umgehend wieder aus. Und weil es mit dem Programm zu anderen Tageszeiten nicht viel besser aussieht, habe ich den Fernseher bereits vor einigen Jahren komplett aus meinem Leben verbannt.
Nachdem ich mich nun also davon überzeugt habe, daß es in der Zeit seitdem mit dem Fernsehen nicht besser, sondern eher noch schlimmer geworden ist, schalte ich den Kasten, der heute ja keiner mehr ist, sondern genauso flach wie das Programm, das er zeigt, aus. Mir gefällt der Gedanke, daß sich das Empfangsgerät gewissermaßen dem Inhalt angepaßt hat.
Ich greife zu einem guten Buch und verbringe den Rest dieses regnerischen Tages zufrieden und ohne Gram über die widrigen Umstände in dem Zimmer meiner Pension. So ein Nachmittag der Ruhe ist ja eigentlich auch mal ganz schön…
Sie können alle Fotos auch direkt auf Flickr anschauen. Für alle Fotos gilt die folgende Lizenz:
Leider kann ich aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Gleich neben der Eingangstür stoße ich auf ein kleines Hinweisschild, das mir in strengem Ton das Folgende verkündet: „Ton-, Film-, Foto- und Videoaufnahmen sind nur zu privaten Zwecken erlaubt. Die Veröffentlichung von Aufnahmen, auch im Internet, ohne Genehmigung ist verboten!“
So muß in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln.
War ich in den vorausgegangenen Tagen zumindest in Teilen auf den mal mehr, mal weniger ausgetretenen Pfaden meiner Erinnerungen an vergangene Zeiten auf dem Darß unterwegs gewesen, so gedenke ich an diesem fünften Tag meines Urlaubs, mich einmal auf neue Wege zu begeben und mir den sich durchaus einiger Bekanntheit erfreuenden Nachbarort von Prerow anzusehen: Zingst. Wie neu diese Wege allerdings wirklich sind, kann ich dabei eigentlich gar nicht genau sagen, denn ich muß immerhin die Möglichkeit einräumen, daß wir diesem Ort in einem unserer damaligen Urlaube doch einmal einen Besuch abgestattet hatten, dies aber – aus welchen Gründen auch immer – nur keinen Eingang in meine Erinnerungen gefunden hat. Doch wie dem auch sei, im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus: mein heutiger Ausflug nach Zingst wird für mich eine kleine Reise in unbekannte Gefilde sein.
Der Beschluß ist also gefaßt, nun heißt es, ihn in die Tat umsetzen. Und das gestaltet sich ausgesprochen einfach, selbst für mich, der beständig ohne eigenen fahrbaren Untersatz hier unterwegs ist. Denn wie ich bereits von meiner Ankunft in Prerow weiß, verkehrt auf der Fischland-Darß-Zingst genannten Halbinsel ein Bus, der Barth mit Ribnitz-Damgarten verbindet und dabei so ziemlich alle auf ihr existierenden Orte anfährt. Und so war ich auf meiner Fahrt hierher in der Tat bereits mit dem Bus durch Zingst hindurchgefahren. Daß nun dieser mich auch in der entgegengesetzten Richtung von Prerow aus dorthin würde bringen können, daran habe ich nicht den kleinsten Zweifel – und behalte Recht damit.
Die Fahrt dauert nicht lange. Gerade einmal zwanzig Minuten braucht der Bus von Haltestelle zu Haltestelle – Prerow Mitte bis Zingst Zentrum. Zum Prerower Hafen geht die Fahrt, dann über den Prerower Strom, am Alten Bahnhof und kurz darauf an der Hohen Düne vorüber, und schon haben wir, also der Bus und ich, die schmale Landenge zwischen Strom und Ostsee passiert. Die Haltestelle Prerow Hertesburg wird angekündigt und ist auch schon vorüber. Hier hält der Bus offenbar so gut wie nie. Nun, viel gibt es hier ja auch nicht zu sehen, wie ich seit dem Vortage weiß. Auf der linken Seite begleitet uns seit der Hohen Düne ein Deich, rechts stehen entlang der Straße Bäume, zwischen denen hin und wieder, mit viel Phantasie und auch nur, wenn man von seiner Existenz weiß, der alte Bahndamm der einstigen Darßbahn zu erahnen ist. Als die Straße schließlich einen weiten Bogen nach rechts vollzieht, um den Ort Zingst zu umgehen, nimmt der Bus einen Abzweig nach links und folgt weiter dem Deich. Kurze Zeit später passieren wir die ersten Häuser und die Straße, auf der wir unterwegs sind, trägt nun einen Namen, mit dem sie an die ehemalige – und vielleicht auch wieder zukünftige – Eisenbahnlinie erinnert: Am Bahndamm. Auch sie führt alsbald vom Deich weg und in das Innere des Ortes hinein. Der Bus fährt am alten Bahnhof von Zingst vorüber, was mir allerdings völlig entgeht, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, daß er noch existiert. Tatsächlich ist das aber der Fall, und das Bahnhofsgebäude beherbergt heute das Wirtshaus Zingst. Von hier aus fahren wir weiter auf der Bahnhofstraße – noch eine aus früheren Zeiten verbliebene Reverenz an die Darßbahn -, die uns mitten hinein ins Zentrum des Seebades bringt. Ein paar Kurven und Abzweige später hat der Bus die Haltestelle Zingst Zentrum erreicht und ich steige aus.
Als der Bus sich wieder entfernt hat, stehe ich zunächst etwas verloren herum. Wie ein Zentrum sieht das hier eigentlich nicht aus. Ganz im Gegenteil. Die Haltestelle bildet das Ende der Straße, die in einem großen Wendekreis ausläuft, mittels dessen der Bus gerade wieder dorthin verschwunden ist, wo er hergekommen war. Rings um den Wendekreis stehen ein paar moderne Gebäude in der Gegend herum, die auf einen ortsfremden Besucher wie mich nicht sehr einladend wirken. Eines trägt über seinem Eingang den Schriftzug Max Hünten Haus Zingst und stellt sich mir damit namentlich vor. Zumindest nehme ich das an. Angesichts der völligen Abwesenheit jeglicher Bindestriche könnte es sich auch einfach nur um die Aneinanderreihung einiger Wörter handeln und damit vielleicht ebenso eine Art Kunstwerk sein wie die vor dem Eingang auf dem Rasen liegende riesige schwarze Brille, die offenbar auf irgendetwas hinweisen soll, das sich mir aber nicht erschließt. Auch als ich später herausfinde, daß sich in dem Gebäude das Zingster Zentrum der Fotografie befindet, wird mir der Sinn dieser Brille nicht viel klarer. Allerdings geht mir das mit moderner Kunst des öfteren so, und so mache ich mir nichts daraus[1]Auf der Suche nach einer Erklärung finde ich auf verschiedenen Seiten im Internet und auch in den sozialen Netzwerken Fotos, die die von Marc Moser geschaffene Brille mal am Strand und mal am … [Weiterlesen].
Ich laufe ein Stück dem Bus hinterher und gelange nach wenigen Schritten über die Jordan- in die Hafenstraße, die mich auf einem kurzen Stück Wegs zu genau dem Ort bringt, nach dem sie benannt ist: dem Zingster Hafen. Genau wie der in Prerow befindet er sich nicht an der Ostsee, sondern an den Boddengewässern. Und genau wie in Prerow liegt er an einem Wasserlauf, der hier allerdings Zingster Strom heißt. Im Gegensatz zum Prerower Strom ist dieser hier allerdings kein Seegatt, sondern lediglich ein Wasserarm des Barther Boddens. Er trennt Zingst von der Insel Kirr, die dem Seebad im Bodden vorgelagert ist. Genau wie sein Prerower Pendant hatte der Strom einstmals auch eine direkte Verbindung zur Ostsee, die sich auf der Ostseite des Ortes befand. Sie war als Folge des großen Sturmhochwassers entstanden, das sich im Februar des Jahres 1625 ereignet hatte. Mit der Zeit versandete sie jedoch wieder und schloß sich schließlich ganz.
So ist der am Ende der Hafenstraße gelegene Hafen von Zingst eben kein Ostsee-, sondern ein Boddenhafen. Besonders groß ist er nicht, doch das ist auch gar nicht notwendig, denn er dient heute vorwiegend nur als Anlegestelle für Ausflugsschiffe. Das war jedoch nicht immer so. Die Anfänge des Hafens reichen ein ganzes Stück in die Geschichte zurück, denn wie man heute vermutet, legten bereits in der Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts hier regelmäßig Segelschiffe an. Als dann im Jahre 1858 die erste regelmäßige Dampferverbindung eingerichtet wurde, die Zingst verkehrstechnisch mit Barth und Stralsund verknüpfte und täglich bedient wurde, brach die große Zeit des Zingster Hafens an. Gemeinsam mit diesem neuen Verkehrsweg gewann er insbesondere für Urlauber schnell an Bedeutung, bildeten die Dampfer doch lange Zeit die einzige Möglichkeit zur Anreise in einigermaßen vertretbarer Zeit. Die Inbetriebnahme der Darßbahn im Jahre 1910 machte der Dampfschiffahrt jedoch schnell den Garaus. Die Verbindungen wurden innerhalb kürzester Zeit vollständig eingestellt. Zwar verlor der Hafen, sieht man einmal von den hier an- und ablegenden Ausflugsschiffen ab, nun seine Bedeutung für die Personenschiffahrt nahezu vollständig, für den Güterverkehr blieb er jedoch weiterhin wichtig. Und auch Fischer- und Sportboote frequentierten ihn nach wie vor.
Als der Zweite Weltkrieg dann zum Ende der Darßbahn führte, kam es dennoch nicht zu einer Wiederbelebung der Personenschiffahrt. Zunächst hatten die Menschen anderes im Kopf, als an der Ostsee Urlaub zu machen. Und als später der Tourismus schließlich doch wieder zunahm, hatte das Auto als Verkehrsmittel längst die Oberhand gewonnen. Und dennoch gibt es heute wieder ein paar Fahrgastschiffe, die im Zingster Hafen anlegen. Sie bedienen die Fährverbindungen nach Barth, Stralsund und Hiddensee. Und natürlich gibt es auch die Ausflugsschiffe noch, die die Urlauber auf die beliebten Boddenrundfahrten mitnehmen. Diesem eher überschaubaren Schiffsverkehr gemäß ist der Zingster Hafen, ebenso wie sein Prerower Bruder, nicht allzu groß.
Als ich den Hafen erreiche, liegt gerade ein Schiff darin vor Anker, das mir einigermaßen bekannt vorkommt. Schon glaube ich, die Baltic Star vor mir zu sehen, und beginne mich zu wundern, warum sie sich wohl nach meiner gestrigen Fahrt mit ihr auf den Weg hierher nach Zingst gemacht hat, da entdecke ich an ihrer Seite den großen Schriftzug mit dem Schiffsnamen darauf. River Star steht dort in großen blauen Buchstaben auf knallrotem Grund. Es ist das Schwesterschiff der Baltic Star und wie diese ein Schaufelraddampfer im Stil der nordamerikanischen Flußschiffe, der die Urlauber auf Ausflugsfahrten durch die hiesige Boddenlandschaft mitnimmt. Hier von Zingst aus gehen die Fahrten allerdings nicht in den Bodstedter, sondern in den Barther Bodden.
Nun, mein Bedarf an Boddenrundfahrten ist vorerst hinreichend gedeckt, und so wende ich mich, nachdem ich mich noch ein wenig am Ufer rings um das einzige Hafenbecken umgeschaut habe, wobei es, sieht man einmal von ein paar Läden, drei Restaurants, einigen Fahrradständern, einer Informationstafel zur Historie des Hafens und einer terrassenartigen Kombination aus Treppe und Sitzgelegenheit ab, nicht sonderlich viel Erwähnenswertes zu entdecken gibt, wieder dem Zentrum des Ortes zu, dem mich die Hafenstraße hilfreich entgegenbringt.
Zurück an der Jordanstraße, finde ich mich an einem kleinen, namenlosen, dreieckigen Platz wieder, der von einer Grünanlage eingenommen wird, die ein einzelner riesiger Baum dominiert, um den herum sich ein paar von Rasen umgebene Büsche gruppieren. Welcher Art dieser Baum ist, kann ich nicht mit völliger Sicherheit ausmachen, da sich an seinen Ästen noch kein einziges Blatt sehen läßt. Anhand der Beschaffenheit seiner Rinde tippe ich allerdings auf eine Eiche. Ich überquere die Jordanstraße und schicke mich gerade an, auf ihrer gegenüberliegenden Seite der Hafenstraße weiter zu folgen, da bemerke ich inmitten der Grünanlage ein metallenes Etwas, dessen blankpolierte Oberfläche die grünen Büsche spiegelt, die allerdings gar keine sind, wie ich feststelle, als ich nähertrete, denn sie geben sich als niedrigwachsende Nadelgehölze zu erkennen. Offenbar habe ich das metallische Konstrukt zuerst von seiner rückwärtigen Seite bemerkt, an der ich nicht erkennen kann, um was es sich handelt. Von der Straßenecke aus gesehen kann ich lediglich eine Wand identifizieren.
Ich laufe also um die kleine Grünfläche herum, um auf die andere Seite dieses Was-auch-immer-es-ist zu gelangen. Dort angekommen, werde ich jedoch zunächst auch nicht schlauer. Ich sehe tatsächlich eine glatte, hohe Wand aus Metall vor mir, die auf der Rasenfläche unter dem hohen Baum steht und deren Oberfläche derart stark poliert ist, daß sie wie ein Spiegel wirkt. Auf’s kleinste Detail genau kann ich darin die Szenerie hinter mir und natürlich mich selbst erkennen, einschließlich des strahlend blauen Himmels mit den schneeweißen Wolken, der sich über mir wölbt. Vor der Wand ist der Boden bis fast an den Weg, auf dem ich stehe, ebenfalls mit einer Metallplatte ausgelegt, die allerdings mit kleinen, langgezogenen metallischen Noppen versehen ist, die in parallelen, diagonal verlaufenden Reihen angeordnet sind. Und weil es Reihen in beiden Diagonalrichtungen gibt, kreuzen sie einander und bilden so ein interessantes Muster. Auf dieser Bodenplatte befinden sich zwei niedrige, parallel zur Wand ausgerichtete Sockel, die die ganze Breite der Platte einnehmen und von denen der eine sie vorn, wo ich stehe, abschließt. Diese etwa sitzhohen Sockel sind, genau wie die Wand, an allen Seiten spiegelglatt poliert, so daß auch sie Spiegelbilder ihrer näheren Umgebung zeigen. Offenbar handelt es sich um irgendeine Art Kunstwerk, doch kann ich mir zunächst keinen Reim darauf machen. Das ändert sich jedoch, als ich die an der Spiegelwand angebrachte und auf deren Oberfläche fast schwarz wirkende Bronzetafel entdecke, auf der sich offenbar eine Aufschrift befindet. Neugierig gehe ich darauf zu, um zu lesen, was dort steht.
DEN OPFERN
VON
KRIEG
UND
GEWALT-
HERRSCHAFT
Daneben sind zwei als Relief gestaltete ernste Gesichter zu sehen, deren Augen geschlossen sind und sich leicht nach vorn neigen, der Schrift entgegen. Ein Denkmal also. Mit seinen sitzhohen Sockeln lädt es ein, hier einen Moment zu verweilen. Doch unabhängig davon, ob man dieser Einladung nun folgt oder nicht, wird man als Betrachter mit seinem Abbild, das die Spiegelflächen erzeugen, gewissermaßen in das Denkmal integriert. Während man über die Opfer vergangener Kriege und Gewaltherrschaften nachdenkt, sieht man sich selbst und wird so daran erinnert, wie schnell man selbst zu einem dieser Opfer werden könnte, sollte die Gesellschaft es noch einmal zulassen, daß sie sich in diese Richtung fehlentwickelt.
Dieses Denkmal steht an dieser Stelle seit dem 19. November 2006. An diesem Tage eingeweiht, ersetzt es eine vorher an dieser Stelle an einer kleinen Mauer angebrachte Gedenktafel, die zu Zeiten der DDR hier plaziert worden war und an die Opfer des Faschismus erinnerte, was sich insbesondere auf die faschistische Herrschaft in Deutschland in der Zeit von 1933 bis 1945 bezog. Weil sowohl Mauer als auch hölzerne Tafel mit den Jahren recht marode geworden waren, so daß eine Restaurierung nicht mehr möglich war, entschloß sich die Gemeinde dazu, das Denkmal zu schaffen, das ich nun hier vor mir sehe. Damit einher ging dann auch die Umwidmung von einer Erinnerungsstätte, die konkret den Opfern des Faschismus gewidmet war, zu einem verallgemeinerten Gedenkort für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Es war nicht die erste Umwidmung dieser Art. Die vielleicht bekannteste hatte es bereits mit der Neuen Wache in Berlin gegeben. Diese war in der DDR zu einem Mahnmal für die Opfer des Faschismus und des Militarismus gestaltet worden. Nachdem das kleine Land in der BRD aufgegangen war, hatte man sie 1993 neu gestaltet und zu deren zentraler Gedenkstätte für die Opfer der Kriege und der Gewaltherrschaft umgewidmet. Doch wie positiv man den Einbezug aller Opfer jeglicher Kriege und Gewalt in das Gedenken immer sehen mag – und damit wird diese Verallgemeinerung schließlich oft genug begründet -, so ist er doch auch problematisch. Denn damit geht auch stets etwas verloren. Es ist der Bezug auf die ganz konkrete Schuld, die das deutsche Volk in der Zeit des deutschen Faschismus in den Jahren 1933 bis 1945 auf sich geladen hat, auf Verbrechen wie den Holocaust, die in der Menschheitsgeschichte aufgrund ihres außerordentlichen und kaum vorstellbaren Umfangs eine traurige Ausnahmestellung besitzen. Und daher wäre es auch heute noch notwendig, die daran erinnernden Gedenkstätten zu erhalten und nicht mit anderen Kriegen und Gewaltherrschaften in einen Topf zu werfen und so zu verallgemeinern. Das Gedenken an die in jener faschistischen Zeit von Deutschen verübten Verbrechen und an deren Opfer mag in die neue Widmung eingeschlossen sein, doch weil es in dieser Verallgemeinerung einfach aufgeht, geht es darin auch unter. Es wird unsichtbar, eines von vielen. Und weil es das eben nicht war, empfinde ich das als hochproblematisch, gerade in Deutschland und gerade in einer Zeit, in der wieder vermehrt Stimmen laut werden, die meinen, es wäre doch nach all der Zeit nun endlich einmal genug mit der Erinnerung an die Schuld. Doch das ist es nicht. Sonst kommt dereinst wieder der Tag, wo all das wiederkehrt, weil niemand die Gefahr mehr kennt und rechtzeitig zu erkennen in der Lage ist.
Von dem Denkmal und der kleinen Grünanlage, in der es steht, gehe ich weiter die Hafenstraße entlang, auf der ich mich nun gemächlich dem Zentrum des Ortes nähere. Wie bereits auch schon am Hafen entdecke ich vereinzelt Informationstafeln, die mich über die Geschichte des Ortes, an dem sie stehen, aufklären. Wie in Prerow markieren sie einen historischen Rundgang durch den Ort. Zwar sind sie weniger zahlreich als jene des Nachbarortes, doch dafür meist etwas ausführlicher in ihrer Beschreibung. Als ich an einem Supermarkt vorüberkomme, stoße ich auf eine dieser Tafeln. Sie erinnert an die einstige HO-Kaufhalle[2]HO stand in der DDR für Handelsorganisation. Das war ein staatliches Unternehmen des Einzelhandels, das mit der Bandbreite der von ihm angebotenen Waren und der ihm unterstehenden Läden alle … [Weiterlesen], die sich zu Zeiten der DDR an seiner Stelle befunden hat und im Jahre 1969 eröffnet worden war. Hier gab es sowohl für die Zingster als auch für die Urlauber die Möglichkeit, die benötigten Waren des täglichen Bedarfs käuflich zu erwerben. Diese Erinnerung an einen Ort des alltäglichen Lebens hat durchaus ihren Charme, und ich registriere interessiert die Unterschiede in der Bewertung, was dem der Geschichte zugeneigten Besucher auf dem jeweiligen Historischen Rundgang in Prerow und Zingst präsentiert wird. Auch in Prerow hatte es, wie ich aus eigener Erinnerung weiß, eine solche Kaufhalle gegeben. Eine diesbezügliche Rundgangstafel suchte ich dort allerdings vergebens. Sicher hätte es auch da irgendetwas Interessantes darüber zu berichten gegeben. Für mich hatte diese Kaufhalle in einem oder zwei unserer Urlaube jedenfalls einige Bedeutung besessen, versuchte ich doch jedes Mal, wenn wir dort einkauften, meine Eltern zu nötigen, verschiedene der regionalen Getränke zu erwerben. Dabei waren weniger die Inhalte der Flaschen für mich wichtig, von denen ich einige, insbesondere die alkoholischen, gar nicht selbst trinken konnte oder wollte. Ich war vielmehr an den Etiketten der Flaschen interessiert, die ich meiner Sammlung einverleiben wollte, die ich damals anzulegen gedachte. Sorgfältig weichte ich sie von den Flaschen ab, trocknete und glättete sie und klebte sie in ein Notizbuch ein. So frönte ich schon als Kind und Jugendlicher leidenschaftlich meinem Sammeltrieb. Irgendetwas habe ich eigentlich immer gerade gesammelt. Mal waren es kleine Eislöffel aus Plastik, auf deren Stiel aus irgendwelchen Gründen Vornamen aufgeprägt waren, dann wieder Kronkorken. Ein anderes Mal sammelte ich die bereits erwähnten Flaschenetiketten, dann, als ich älter wurde, die Programmhefte und Eintrittskarten von mir besuchter Konzert- und Theatervorstellungen. All diese Sammlungen gingen alsbald jedoch wieder den Weg alles Irdischen, denn zum einen fehlte mir der Platz, zum anderen aber auch die zündende Idee, wie ich denn Systematik in die jeweilige Sammlung bringen könnte. So gab ich sie schließlich bald alle wieder auf, nicht jedoch das Sammeln an sich. Hatten die erwähnten Sammelobjekte den Nachteil, daß ihnen kein rechter Unterhaltungs- oder ideeller Wert innewohnte – was sollte man mit Flaschenetiketten, Kronkorken oder Eislöffeln letztlich schon groß anfangen? -, so sah das bei Büchern, Romanheften, Schallplatten oder Briefmarken schon anders aus. Irgendwas habe ich über viele Jahre hinweg eigentlich immer gesammelt. Bis ich irgendwann, schon längst erwachsen, dann doch einmal einsah, daß es besser ist, sich zu beschränken, und zwar auf das, was einem wirklich wichtig ist. Und so sammle ich heute nicht mehr im eigentlichen Sinne, sondern beschränke mich auf einige wenige Dinge, die mir auch wirklich am Herzen liegen; bei Büchern beispielsweise auf einige sehr ausgewählte Autoren, die ich auch tatsächlich lesen will.
Ist es nicht interessant, wie die Gedanken auf Wanderschaft gehen können, wenn man, nichtsahnend durch einen fremden Ort streifend, plötzlich auf eine Informationstafel stößt, die in ihrem kurzen Text über etwas so Alltägliches wie eine einstige HO-Kaufhalle berichtet? Etwas daran hatte eine Erinnerung aus meinem Gedächtnis hervorgeholt und mich in der Zeit zurückversetzt…
Ich reiße mich los und spaziere weiter die Hafenstraße entlang, die sich jetzt zunächst scharf nach links, alsbald aber wieder sanft nach rechts wendet. Kurz darauf finde ich mich erneut auf einem dreieckigen Platz wieder, der ebenfalls eine Grünanlage besitzt. Deutlich größer als der letzte, hat er auch einen eigenen Namen: Postplatz. Und auch die Grünanlage ist erheblich umfangreicher und mit einer stattlichen Anzahl Bäume versehen, die aber ebenfalls alle noch völlig kahl sind. In ihrer Mitte finde ich einen großen Stein, der Ähnlichkeit mit jenem hat, der sich in Prerow auf dem Gemeindeplatz befindet. Nur ruht dieser hier im Gegensatz zu jenem auf einem deutlich weiträumigeren Sockel aus vermauerten Feldsteinen, der zudem auch noch nach beiden Seiten in die Grünanlage ausgreift. Die Aufschrift an der Vorderseite des großen Findlings ist nicht ganz leicht zu entziffern. Mühsam lese ich:
Zum Gedächtnis
der Helden
1914 – 1918
Darüber prangt das Symbol des eisernen Kreuzes. Noch ein Kriegerdenkmal also. Doch anders als in Prerow, wo man offenbar ein mahnendes Gedenken bevorzugt, wie die dortige Inschrift „Die Toten mahnen“ auf dem Stein nahelegt, werden die bei den Eroberungsfeldzügen des Ersten Weltkriegs zu Tode gekommenen Soldaten, wenn ich die Aufschrift richtig entziffert habe, hier als Helden verehrt, eine Auffassung, der ich mich allerdings weder anschließen kann noch will.
Ich lasse das Denkmal hinter mir und setze meinen Weg fort. Dort, wo der Postplatz – man hat hier gleich noch ein Stück der von ihm fortführenden Straße mit diesem Namen versehen – auf die Friedenstraße trifft, laufe ich an vier einander außerordentlich ähnlich sehenden Häusern vorüber, von denen drei direkt an der Straße stehen, während sich das vierte, etwas größere diskret in den Hintergrund zurückgezogen hat. Jedes sieht aus wie eine zweistöckige Stadtvilla mit Balkons im oberen Stockwerk, die um die vorderen Ecken gehen und von gelben Ziegelpfeilern getragen werden. Die an der Straße gelegenen Häuser beherbergen in ihren Erdgeschossen kleine Läden. An der Frontseite präsentiert ein jedes dem Betrachter seinen Namen. Nacheinander laufe ich erst an der Villa Nadine vorüber, dann an der Villa Beatrice und zuletzt an der Villa Verena. Den Namen des Hauses im Hintergrund kann ich nicht erkennen und muß ihn daher dem Stadtplan entnehmen: Villa Sophie. Wie vermutlich in fast jedem Haus hier im Ort – ebenso wie in Prerow – werden in den oberen Stockwerken Ferienwohnungen vermietet.
Die Friedenstraße bringt mich schließlich zur Strandstraße, wo ich das Herz des Seebades erreicht zu haben scheine, denn von hier an befinde ich mich in einer ausgedehnten Fußgängerzone. Diese umfaßt allerdings nicht die gesamte in Nord-Süd-Richtung verlaufene Strandstraße, sondern endet etwa einhundert Meter südlich von meinem jetzigen Standort. Daß ich dort heute bereits gewesen bin, wird mir klar, als ich diese kurze Entfernung zurückgelegt und das Ende – oder den Beginn, je nach Perspektive – der Fußgängerzone erreicht habe. Genau an dieser Stelle mündet die hier endende Bahnhofstraße in die Strandstraße und ich erkenne die Kurve, die die aus ihr kommende Fahrbahn beschreibt, sofort wieder. Hier war ich vorhin, im Bus sitzend, entlanggefahren. Da es an dieser Stelle jedoch für mich nichts weiter von Interesse zu sehen gibt, kehre ich wieder um und gehe die Strandstraße in Richtung Norden weiter. Da sie nicht nur in großen Teilen eine Fußgängerzone ist, sondern auch noch genau auf die Seebrücke des Ortes und damit auf den zentralen Strandabschnitt zuführt, ist sie ohne Zweifel eine der bedeutendsten Straßen in Zingst. Zahlreiche Geschäfte, Cafés und Restaurants säumen den Weg, die sich besonders am Fischmarkt konzentrieren. Dieser ist nur wenige Schritte von der Friedenstraße entfernt und genau wie der Postplatz nicht einfach nur ein großer Platz. Tatsächlich ist der Name auch noch einer kleinen Seitenstraße zugeordnet, die östlich der Strandstraße ein Stück parallel zu ihr verläuft, bevor sie ihren Namen in Klosterstraße ändert. Da ich für diese Eigenart keine Erklärung finden kann, überlege ich mir selbst eine. Ohne es also genau zu wissen, vermute ich, daß der Platz möglicherweise einst viel größer gewesen sein und das gesamte Areal zwischen den beiden Straßen umfaßt haben mochte. Später wurde es vielleicht in Teilen bebaut, so daß die heutige Situation nach und nach entstanden ist. Eine alternative Erklärung, die mir einfällt, bezieht den Namen auf einen realen Markt, auf dem vorwiegend Fische verkauft wurden. Dieser mochte von dem Platz, auf dem er ursprünglich stattfand, immer mehr in die Seitenstraße übergegriffen haben, so daß man irgendwann diese in den Namen einbezog. Doch egal, wie es wirklich gewesen war, der Fischmarkt ist nun meine nächste Station.
Doch bevor ich die wenigen Meter auf der Strandstraße zu ihm zurücklege, fällt mir an der Ecke zur Friedenstraße ein Gebäude auf, das ich zwar auch vorher schon bemerkt, jedoch nicht weiter beachtet hatte, weil es auf den ersten Blick wie ein gewöhnliches Wohngebäude aussieht. Es ist ein langgestreckter Bau mit vergleichsweise flachem Spitzdach, der längs entlang der Friedenstraße ausgerichtet ist. In der Mitte wird er von einem etwas erhöhten Gebäudeteil unterbrochen, dessen Dach die gleiche Form aufweist, jedoch quer verläuft. Diesem Mittelteil ist ein vom Boden bis zum Dach reichender Erker vorgesetzt. War ich vorhin etwas achtlos an dem Gebäude vorübergegangen, so fällt mir jetzt, da ich, vom südlichen Ende der Strandstraße zurückkommend, genau darauf zulaufe, auf, daß die beiden Seitenflügel recht unterschiedlich gestaltet sind. Während sich im rechten, östlichen Flügel normale rechteckige Fenster befinden, besitzt der linke, westliche Flügel hohe, schmale Bogenfenster, die von außen aussehen, als seien sie aus vielen kleinen, bunten Glasstücken zusammengesetzt worden. Und auch der Erker des Mittelteils besitzt im Erdgeschoß derartige Bogenfenster, die allerdings bedeutend kleiner ausfallen. Als ich das Gebäude schließlich erreicht habe, bemerke ich an der fensterlosen, der Strandstraße zugewandten Schmalseite eine flache, darin eingelassene Nische, die ebenfalls die Form eines Bogenfensters besitzt. Darin ist ein riesiges, aus Ziegeln geformtes Kreuz eingelassen. Ganz offensichtlich habe ich hier kein gewöhnliches Wohnhaus vor mir. Tatsächlich stehe ich vor der katholischen Kapelle Sankt Michael, in der die Katholische Kirchengemeinde Sankt Bernhard aus Stralsund in Zingst ihre Gottesdienste abhält.
Daß man die Kapelle auf den ersten Blick für ein Wohnhaus halten kann, ist kein Zufall, denn einst war das Gebäude tatsächlich ein altes Seemannshaus. Katholische Gottesdienste gab es in Zingst erst vergleichsweise spät. 1921 sollen die ersten hier gefeiert worden sein. Vier Jahre später begann man mit den sogenannten Kurgottesdiensten, die auch den Urlaubern offenstanden. Doch noch gab es keine eigene Kirche. Diese wurde erst notwendig, als nach dem Zweiten Weltkrieg etwa zweitausend Flüchtlinge in Zingst eintrafen, die katholischen Glaubens waren. Der Pfarrer der Gemeinde erwarb daraufhin das Gebäude an der Friedenstraße, ließ es zum Pfarrhaus umbauen und mit einer Kapelle versehen, die unter das Patronat des Erzengels Michael gestellt wurde. Bis zum heutigen Tage werden in der Kapelle katholische Gottesdienste abgehalten.
Langsam spaziere ich die Strandstraße entlang auf den Fischmarkt und über diesen hinweg. Der Boden ist ein buntes Sammelsurium von Belägen. Hier zieht sich eine geteerte Bahn entlang, dort bilden große, unregelmäßige Steine eine Art hoppeliges Kopfsteinpflaster und wieder woanders liegen ebenmäßig gefertigte, in ihrer Form an Ziegel erinnernde Steine so streng in Reih und Glied, daß die Fugen zwischen ihnen sich in ihrer Breite kaum einmal um einen Millimeter voneinander unterscheiden. Auf dem Platz gibt es kleine mit Rasen ausgelegte und von Hecken eingefaßte Inseln, auf denen vereinzelte Büsche stehen. Und während diese am einen Ende in eine strenge Kugelform gezwungen wurden, läßt man ihnen am anderen in ihrem Wachstum freien Lauf. Rings um den Fischmarkt haben sich einzeln stehende Häuser versammelt, deren einige, die direkt an den Platz grenzen, in ihrem Erdgeschoß einen Laden oder ein Café beherbergen, während andere noch einen Vorgarten zwischen sich und den Platz gesetzt haben, um von diesem etwas Abstand zu gewinnen. Hier wird offenbar einfach nur gewohnt. Allzu viel ist gerade nicht los, und so wandere ich weiter die Strandstraße entlang nach Norden.
Das Bild ändert sich nicht wesentlich. Hier ein Wohnhaus mit Vorgarten, dort ein Laden, dann eine Seitenstraße, ein Restaurant und wieder ein Wohnhaus. Mal nehmen die Läden an Häufigkeit zu, dann ist plötzlich abrupt wieder Schluß mit den Einkaufsmöglichkeiten und ich wandere an einer ein Grundstück begrenzenden Hecke entlang. Es ist nicht gerade eine Einkaufsmeile, auf der ich unterwegs bin, sondern einfach nur die Hauptstraße eines Ortes, in dem es zu dieser Jahreszeit, in der Vorsaison, vergleichsweise ruhig und gemütlich zugeht.
Schließlich erreiche ich einen auf der rechten Straßenseite befindlichen kleinen Ziegelbau, der mir ausgesprochen bekannt vorkommt. Da sich die rechter Hand hinter den Häusern parallel zur Strandstraße verlaufende Klosterstraße nun soweit angenähert hat, daß sie einige Meter voraus mit dieser zusammentrifft, befindet sich das kleine Gebäude genau in der Mitte zwischen den beiden Verkehrswegen. Mit seinem spitz zulaufenden Dach und den an den beiden Schmalseiten jeweils nebeneinanderliegenden zwei großen, doppelflügeligen Toren sieht es der alten Seenotstation von Prerow, die ich bereits an meinem ersten Abend dort entdeckt hatte, ausgesprochen ähnlich. Zwar ist eine entsprechende Aufschrift, wie es sie dort gegeben hatte, hier nicht vorhanden, doch das ovale Emblem mit dem roten Kreuz der Seenotretter ist auch hier zu sehen. Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger Bremen ist in einem Kreis rings um das Symbol zu lesen.
Dieser sogenannte Alte Rettungsschuppen wurde im Jahre 1873 durch die Zingster Bürger errichtet. Er sollte den fünf Jahre zuvor bei einem Sturmhochwasser zerstörten Rettungsschuppen ersetzen und diente zur Aufbewahrung der Ruder-Rettungsboote. Lange Jahre erfüllte er seinen Zweck, bis er schließlich außer Dienst gestellt wurde. Doch nach wie vor, und darauf weist das Zeichen über den Toren unmißverständlich hin, wird er von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) genutzt. Sie hat darin ein Traditionskabinett untergebracht, das eine Sammlung historischer Rettungsgeräte aus der Geschichte der hiesigen Rettungsstation beherbergt. Doch im Gegensatz zu seinem Pendant in Prerow kommt hier auch die Öffentlichkeit in den Genuß, von diesem kleinen Bauwerk etwas zu haben, denn zusätzlich ist darin ein kleines Lokal untergebracht, an das sich ein Biergarten anschließt, der genau zwischen den beiden Straßen gelegen ist.
An dem Rettungsschuppen vorbei gelange ich nun auf einen großen, halbkreisförmigen Platz, an dem die Strandstraße endet. Direkt vor mir, gewissermaßen auf dem Durchmesser des Halbkreises, verläuft der schnurgerade Deich, hinter dem ich wohl mit einiger Berechtigung die Ostsee vermuten darf. An seiner halbkreisförmigen Seite wird der Platz, der offenbar keinen Namen hat, von einigen großen Gebäuden gesäumt, die ausnahmslos alle so aussehen, als seien sie noch gar nicht so alt. Auf das große Hotel links von mir trifft das auf jeden Fall zu. Es stellt sich mir an seinem Portikus als Strandhotel vor und gibt sich alle Mühe – durchaus nicht völlig erfolglos, möchte ich anfügen – , den Anschein zu erwecken, als stamme es aus der Zeit der Wende zum 19. Jahrhundert, der großen Ära der Seebäder. Tatsächlich wurde das Hotel erst im Jahre 2006 errichtet und erbringt so den Beweis, daß es auch heutigen Architekten möglich ist, Bauten zu entwerfen, die sich nicht wie Fremdkörper in ihrer Umgebung ausnehmen, sondern gut in den Ort, in dem sie stehen, integrieren.
Auch die andere Seite des Platzes wird von einem großen Hotelbau dominiert. Dieser versucht zwar nicht, sich irgendeiner historischen Architektur anzugleichen, paßt sich aber dennoch gut in seine Umgebung ein, auch wenn er um ein Vielfaches größer ist als das Strandhotel. Der Größenzuwachs geht dabei aber nicht in die Höhe, sondern eher in die Breite, nimmt das Aparthotel, wie dieser Bau heißt, doch den gesamten Rand des Platzes von der Strandstraße bis zum Deich hinüber ein. Ich bin immer wieder überrascht, was Architekten der heutigen Zeit für gefällige Bauten zustandebringen, wenn sie nicht versuchen, originell zu sein und einander möglichst großartig zu übertreffen. In einem vergleichsweise kleinen Ort wie Zingst kann man wohl kaum erwarten, mit dem Ergebnis seines Tuns die Aufmerksamkeit der großen weiten Welt zu erringen, wie das in Metropolen wie Berlin, Köln, Hamburg, Frankfurt oder München der Fall ist oder zumindest erhofft wird. So kommt es wohl, daß sich in jenen Städten heutzutage oft Bauten finden, deren Gestaltung so extraordinär, gewaltig und Eindruck schindend wie nur irgend möglich ist, daß man unwillkürlich zu bezweifeln geneigt ist, es könnte dahinter noch irgendeinen anderen Zweck geben als den, herauszustechen, aufzufallen und für genial gehalten zu werden. Dabei ist das Ergebnis oft ein Gebäude, das seine Umgebung völlig ignoriert, so daß es überhaupt nicht dorthin paßt, wo es steht, und dies oftmals nicht nur optisch und ästhetisch, sondern auch bezogen auf das menschliche Umfeld. Oft genug haben die Normalbürger der jeweiligen Stadt überhaupt keinen Bezug zu dieser Art von Gebäude. Weder brauchen sie sie noch nutzen sie sie selbst. Und so ist es mit Sicherheit auch nicht nur die Geltungssucht der Architekten, die zur Errichtung dieser sinnlosen und wenig ästhetischen Protzbauten führt, sondern ganz sicher auch die Manie der jeweiligen Bauherren (oder -damen – ich will ja niemanden ausschließen!), zu repräsentieren, etwas darzustellen und den Nachbarbau möglichst auszustechen. Und das läßt man sich dann eine Menge kosten. Je mehr Geld, desto mehr Geltungsdrang. Zumindest kommt es mir so vor, wenn ich mir die neuen Bauten ansehe, die heute so entstehen, besonders in meiner Heimatstadt Berlin. Man schaue sich nur das Ensemble am Potsdamer Platz an. Was dort entstanden ist, ist lediglich eine Insel inmitten der Stadt, die weder wirklich in diese integriert ist, noch irgendeinen Bezug zu ihr herstellt. Von einem lebendigen Viertel mit Lebens- oder wenigstens Aufenthaltsqualität kann dort keine Rede sein, was man allein schon an den nach wie vor hilflosen Versuchen ablesen kann, aus den Potsdamer-Platz-Arkaden, wie sie früher hießen, irgendetwas Lebendiges, sich selbst Erhaltendes zu machen, das die Menschen anzieht. Nicht einmal ein McDonald’s hat dort überlebt… Ein ähnliches Erscheinungsbild bieten die Neubauten am Bahnhof Zoo, die mit ihrer gewaltigen Höhe vielleicht in Städte wie New York passen mögen, aber nicht nach Berlin und schon gar nicht in das dortige Charlottenburger Umfeld mit seinen Bürgerhäusern. Und was nun am Alexanderplatz geplant und bereits in Bau ist, davon will ich gar nicht erst anfangen…
Doch zurück auf den großen Platz am Ende der Strandstraße in Zingst. Ich überquere die vor dem Deich parallel zu diesem verlaufende Seestraße und anschließend ihn selbst auf dem breiten, die Strandstraße fortsetzenden Weg und finde mich alsbald auf der anderen Seite wieder, wo sich ein weiterer Platz befindet, der ebenfalls keinen Namen hat. Ganz offensichtlich gibt es hier in Zingst noch einiges Potential für Namensgebungen. Direkt voraus gewahre ich eine Schar kleiner Kiefern. Wenn es sich nicht um eine Art handelt, die einfach von selbst nicht größer wird, hat man sie wohl so zurechtgeschnitten, daß die Bäume die Form kleiner Linden oder Obstbäume haben. Das sieht ganz hübsch aus, ich bezweifle aber, daß man sie gefragt hat, ob sie das wollen. Doch sie können sich ja nicht wehren…
Auf der linken Seite des Platzes stehen zwei vergleichsweise schmucklose, miteinander verbundene Ziegelbauten. Vor dem ersten hat man einige Tische und Bänke auf den Platz gestellt; ein einzelner blauer Sonnenschirm, der jedoch momentan gerade zusammengefaltet ist, leistet ihnen Gesellschaft. Wenn mir das nicht ausreichen sollte, um in dem Gebäude ein gastronomisches Etablissement zu vermuten, so weist mich die Aufschrift Bistro Zentral über den großen Schaufenstern im Erdgeschoß unmißverständlich darauf hin. Am zweiten Gebäude befindet sich ebenfalls ein Schild, auf dem Deutsches Rotes Kreuz zu lesen ist. Hier ist die Wasserwacht des Zingster Strandes untergebracht.
Gegenüber, also auf des Platzes rechter Seite, steht ebenfalls ein Gebäude. Es ist etwa dreimal so groß wie die beiden Bauten linker Hand zusammen und besitzt das Erscheinungsbild eines Fachwerkhauses. Ein genauerer Blick verrät mir jedoch, daß es noch recht neu ist. Keinesfalls ist das, was ich hier vor mir sehe, historisches Fachwerk. Tatsächlich wurde dieses Zingster Kurhaus erst im Jahre 2000 eingeweiht. Obwohl Zingst bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebter Badeort gewesen ist, besaß der Ort lange Zeit kein Kurhaus. Das erste wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg, im Jahre 1948 errichtet. Es stand ziemlich genau fünfzig Jahre, denn 1998 riß man es wegen Baufälligkeit ab und errichtete umgehend ein neues Gebäude, das ich nun vor mir sehe.
Hinter dem Platz führt der Weg weiter unter den Kiefern hindurch, über die Düne zum Strand. Hier beginnt der Sand. Doch anders als an anderen Strandzugängen muß man hier nicht zwingend hindurchstapfen, um an’s Meer zu kommen. Oder in diesem Fall besser über’s Meer. Denn am hiesigen Hauptzugang zum Zingster Strand hat man im Jahre 1993 eine Seebrücke errichtet. Mit ihren zweihundertsiebzig Metern Länge und zweieinhalb Metern Breite ist sie ein vergleichsweise einfacher Vertreter ihrer Zunft. Wer also einen über den Wellen sich erhebenden Brückenkiosk oder ähnliches erwartet, dürfte enttäuscht werden. Die Seebrücke erinnert eher an einen übergroßen, mit Geländern versehenen Steg, über den man Zugang zu anlegenden Schiffen erlangt, die wegen der benötigten größeren Wassertiefe nur weiter draußen ankern können. Bereits vor Errichtung der heutigen Seebrücke gab es hier ein entsprechendes Bauwerk, das Ende des 19. Jahrhunderts entstand und auch als Seebrücke bezeichnet wurde. Allerdings war das ein wenig hochtrabend, denn eigentlich handelte es sich um nicht viel mehr als einen etwas größeren Steg. Er diente kleineren Zubringerbooten zum Anlegen, die die Aufgabe hatten, die Passagiere zu den voraus liegenden Dampfern zu bringen. Diesem Steg hatten Meerwasser, Eis und Schnee über die Jahre so zugesetzt, daß er im Jahre 1947, mittlerweile völlig marode, nur noch abgerissen werden konnte. Der ihm so viele Jahre später nachfolgende Neubau wurde dann ungleich größer.
Der Strand selbst unterscheidet sich eigentlich kaum vom Nordstrand in Prerow, sieht man einmal davon ab, daß hier in regelmäßigen Abständen lange Reihen von Holzpflöcken ins Wasser hineinragen. Diese sogenannten Buhnen dienen, ebenso wie Deich, Dünenwald und die Düne selbst, dem Küstenschutz. Bei heftigen auflandigen Winden betätigen sie sich als Wellenbrecher. Sowohl in westlicher als auch in östlicher Richtung reihen sie sich bis zum Horizont endlos aneinander. Doch ansonsten bietet sich mir dasselbe Bild. Auf die Bäume des hier recht schmalen Waldstreifens folgt die grasbewachsene Düne, an die sich der breite Sandstrand anschließt, an den die von den Buhnen gezähmten Wellen branden – oder branden würden, wenn es denn wenigstens ein kleines bißchen Wind gäbe. Doch der legt heute offenbar einen Ruhetag ein, so daß sich das Meer, wenn auch nicht spiegelglatt, so doch zumindest vollständig wellenlos präsentiert.
Die Pfeiler der Seebrücke, auf die ich mich nun begebe, sind allerdings nicht aus Holz. Sie bestehen aus solidem Stahl und sind tief in den sandigen Meeresboden hineingerammt worden. Wie das gemacht wird, habe ich zwei Tage zuvor in Prerow bereits beobachten können. So fühle ich mich denn auf den Planken der über den Wassern der Ostsee hinführenden Seebrücke ausgesprochen sicher, zumal zu ihren beiden Seiten aus dicken Holzbalken bestehende Geländer jegliches unvermitteltes Hinabfallen wirksam verhindern.
Es ist jetzt Mittag. Das behauptet jedenfalls meine Uhr. Doch da wir in Europa nach wie vor alljährlich den Unsinn der sommerzeitlichen Uhrenumstellung vollführen, hat die Sonne ihren höchsten Stand trotzdem noch nicht erreicht. Auf der Seebrücke sind zahlreiche Menschen unterwegs, die in beide Richtungen flanieren, die einen auf’s Meer hinaus, die anderen zurück gen Strand. Und doch sind es glücklicherweise nicht genug, um von einem Massenandrang sprechen zu müssen. Ganz im Gegenteil. Ganz gelassen und in Ruhe kann ich, ohne jemanden zu stören oder meinerseits von anderen gestört zu werden, langsam den langen Steg entlangwandern, immer wieder einmal stehen bleiben und den Ausblick zurück auf den Strand, die Düne, die Bäume und das Kurhaus genießen oder hinaus auf’s Meer schauen, wo sich die weitestgehend glatte Fläche des Wassers bis zum Horizont dehnt, dessen schnurgerade Linie in dem weiten Halbkreis von West über Nord nach Ost durch nichts unterbrochen wird, wenn man einmal von den weißen Windrädern des Offshore-Windparks Baltic 1, die natürlich auch hier zu sehen sind, und dem sich im Nordosten erhebenden Hiddenseer Schluckswiek absieht, der hier, wo die Entfernung zu ihm bereits etwas geringer ist, noch deutlicher zu erkennen ist als drüben in Prerow. Es ist ein gemütliches Bummeln auf diesem langen Steg, bei schönstem Wetter und in der Gelassenheit der Vorsaison, die es ermöglicht, die Seele baumeln zu lassen und das Hiersein einfach zu genießen.
Die gesamte Seebrücke entlang hat man in gleichmäßigen Abständen Lampen aufgestellt, die sie auch bei Dunkelheit begehbar machen. Jetzt, bei Tageslicht, benötige ich sie dafür allerdings nicht. Ich bin den langen Steg bereits ein Stück entlanggegangen, da fällt mir in einiger Entfernung voraus ein Gegenstand auf, beim es sich um ein einfaches, aufrecht stehendes Brett zu handeln scheint. Es hält sich, zusammen mit zwei Bänken, auf einer Plattform auf, zu der sich der Steg der Seebrücke für ein paar Meter erweitert. Frage ich mich zunächst, was es damit wohl auf sich haben mag, bemerke ich beim Näherkommen, daß sich etwa auf halber Höhe in der Oberfläche dieses Brettes eine Spirale befindet, die sorgfältig und ausgesprochen akkurat in sie hineingeschnitzt worden ist. Ihre Enden laufen in eleganten, weit geschwungenen Linien zu den beiden vertikalen Enden des Brettes hin aus, während sich in ihrer Mitte ein kreisrundes Loch befindet. Als ich schließlich direkt davorstehe, bemerke ich fasziniert, daß es keineswegs willkürlich in dem Brett positioniert worden ist. Seine Höhe ist exakt so gewählt, daß es, wenn man gerade hindurchblickt, von der Linie des Horizontes in zwei gleich große Halbkreise geteilt wird. In den Bögen der Spirale sind Buchstaben eingraviert. Von außen nach innen lese ich die Worte Zurück zur Quelle allen Seins.
Dies ist auch der Name des Kunstwerkes, wie ich einem kleinen metallenen, am Geländer der Seebrücke angebrachten Schildchen entnehmen kann, das mir auch den Namen des Künstlers verrät: Roland Lindner. Kunstwerke dieser Art entdecke ich auf meinem Weg die Seebrücke entlang mehrere. Eines befindet sich ebenfalls auf der Plattform und hat die Form einer Kugel. Diese ist jedoch nicht geschlossen, sondern besitzt eine von oben nach unten verlaufende, geschwungene Öffnung, deren Kanten nach außen gewölbt sind, so daß sie ein wenig an geöffnete Lippen erinnern. Das zwischen ihnen sichtbare Innere ist mit übereinandergelegten Steinen verschiedener Größe angefüllt. Da auch einige dieser Steine auf dem Boden vor der Skulptur liegen, sieht es so aus, als habe sich die Kugel geöffnet und ihren Inhalt ins Freie purzeln lassen. Frucht des Lebens lautet der Name dieses Kunstwerks.
Ein anderes, das sich einige Meter vor der Plattform befindet, wirkt wie ein der Länge nach gespaltener Pfosten, dessen beide Teile auseinanderklaffen. Der so entstandene Spalt ist mit übereinandergelegten großen Steinen gefüllt. Und wieder taucht das Motiv des in Augenhöhe befindlichen Loches auf, durch das man durch das Kunstwerk hindurchsehen kann, diesmal in Form eines durchbohrten Steines. Sofort muß ich an einen Hühnergott denken, liege damit aber nicht ganz richtig, denn das auch hier vorhandene erklärende kleine Schild verkündet mir, daß ich den Abendgruß vom Sonnengott vor mir sehe, der ebenfalls dem Künstler Roland Lindner zu verdanken ist – wie im übrigen alle anderen Kunstwerke auf der Seebrücke auch.
Sie alle wurden sämtlich aus Treibholz geschnitzt. Steine wie die, die in einigen dieser Skulpturen das Schnitzwerk ergänzen, können hier an der Ostsee gefunden werden. Ganz ohne Zweifel verleihen diese Kunstwerke der ansonsten eher nüchtern wirkenden Seebrücke ein gewisses Flair. Ohne sie würde der lange Schiffsanleger lediglich wie der reine Zweckbau wirken, der er doch eigentlich ist.
Und dann habe ich es schließlich erreicht: das Ende der Seebrücke. Es wird von einer weiteren Plattform gebildet, die ebenso breit ist wie die vorige, etwa auf halber Länge gelegene. Und damit etwaige hier ankommende Schiffsreisende auch sofort wissen, wo sie sich befinden, ragen links und rechts des Zugangs zu der Plattform zwei hohen Metallstangen in die Höhe, zwischen denen in luftiger Höhe ein weißes Schild den Steg überspannt, auf dem in großen Lettern ZINGST zu lesen ist. Über dem Ortsnamen kann ich zwei einander zugewandte spitze Winkel erkennen, die zweifellos als stilisierte Darstellung zweier fliegender Seevögel zu interpretieren sind. Ich tippe auf Möwen. Aus der Nähe kann ich dann erkennen, daß sich auch unterhalb des Ortsnamens etwas befindet. Es ist ein in sehr viel kleineren Buchstaben gehaltener Marketing-Slogan, mit dem Zingst für sich wirbt: Halb Insel, halb Paradies. Zunächst bin ich versucht, darüber zu sinnieren, warum hier Insel und Paradies einander gegenübergestellt werden und warum wohl das eine das andere irgendwie auszuschließen scheint. Doch dann erinnere ich mich daran, daß es schließlich nur ein Werbespruch ist, und denke nicht mehr weiter darüber nach.
Denn schließlich gibt es hier etwas zu sehen, daß ungleich interessanter ist als das Ortsschild. Links neben der Plattform, auf der einige Bänke zum Ausruhen müde gewordener Beine einladen, ragt ein dicker, stählerner Pfahl aus dem Wasser, dessen oberes Ende von einem helmartigen Aufsatz bekrönt wird, der entfernt an einen Tropenhelm erinnert. Oder an eine leicht flachgeklopfte Glocke. Der Pfahl selbst weist keine glatte Oberfläche auf und ist auch nicht rund, sondern besitzt einen Querschnitt in Form eines Polygons mit zehn oder zwölf Ecken, genau kann ich das von hier aus nicht erkennen. An der der Plattform direkt zugewandten Seite dieses Pfahls ist ein Aufsatz angebracht, der von oben nach unten verläuft und mit dem Pfahl im Wasser verschwindet. Flüchtig betrachtet sieht er aus wie eine Miniaturleiter, mit zahllosen dicht beieinanderliegenden Querstreben, die sich zwischen zwei vertikalen äußeren Leisten befinden. Es fällt nicht schwer, in diesem Aufsatz die Laufschiene für ein Zahnrad zu erkennen. Ich vermute, daß es auch auf der der Seebrücke abgewandten Seite des Pfahls eine solche Vorrichtung gibt. Offenbar kann mit ihrer Hilfe etwas diesen Pfahl hinauf- und hinunterfahren. Und richtig, als ich einen Blick über das Geländer hinunter zur Wasseroberfläche werfe, sehe ich, wie ein großes, glockenförmiges, stählernes Ungetüm gerade aus dem Wasser auftaucht und in quälender Langsamkeit den Pfahl nach oben strebt.
Ich habe die Zingster Tauchgondel vor mir. Zusammen mit der Seebrücke im Jahr 1993 eingeweiht, nimmt sie bis zu dreißig Besucher pro Tauchgang mit auf eine Reise in Tiefe. Vier Meter unter der Wasseroberfläche soll man so die Pflanzen- und Tierwelt der Ostsee aus der Nähe betrachten können. Klingt doch eigentlich ganz spannend, denke ich mir, und überlege, ob ich nicht eine Fahrt mitmachen soll, die, so heißt es, nur dreißig Minuten dauert. Als ich jedoch sehe, wie langsam die Tauchgondel unterwegs ist und wie lange sie braucht, bis sie schließlich oben angekommen ist und ihre Insassen hinaus ins Freie treten können, als ich ferner bemerke, wie lang die Schlange der Wartenden für die nächste Tour schon ist, und mir ausrechnen kann, daß ich vermutlich kaum bereits den nächsten Tauchgang mitmachen können werde, und als ich dann auch noch feststelle, daß dieser laut Ankündigung des „Fahrplans“ der letzte vor einer längeren Mittagspause sein würde, nehme ich von diesem Vorhaben Abstand. Lieber will ich, sobald sich der Trubel gelegt hat, den der Aus- und Einstieg der Besucher aus der beziehungsweise in die Gondel auf der Plattform verursachen, noch ein wenig die Ruhe hier auf der Seebrücke, über dem windstillen Meer und unter dem strahlend blauen Himmel mit der freundlich herablächelnden Sonne genießen.
Ich lehne entspannt am Geländer auf der rechten Seite der Plattform und schaue den ungeduldig Wartenden und den nacheinander der Gondel Entsteigenden zu, die sämtlich aufgeregt durcheinanderschwatzen – die einen über das, was sie wohl gleich erwartet, die anderen darüber, was sie gerade erlebt haben. Zwei Frauen, die die Tauchgondel eben verlassen haben, bleiben in meiner Nähe stehen und beugen sich interessiert über das Geländer. Die eine streckt ihren Arm aus und zeigt aufgeregt nach unten.
„Da ist er!“, ruft sie aufgeregt aus.
„Wo?“, fragt die andere und blickt suchend nach unten.
„Na, da! Auf der Leiter! Dort hab‘ ich ihn unten vom Fenster aus gesehen!“
Offenbar haben sie auf ihrer Fahrt in die Unterwasserwelt irgendein Tier beobachtet, das sie nun, wo sie wieder auf der Seebrücke angekommen sind, noch einmal betrachten wollen. Meine Neugier ist geweckt, und so schaue auch ich interessiert über das Geländer nach unten. Direkt neben der Plattform, auf der ich stehe, befindet sich auf stählernen Pfosten eine zweite, niedrigere, zu der eine durch ein zweiflügeliges Gittertor versperrte Treppe hinabführt. Da diese zweite Plattform jedoch nicht über einen durchgängigen Boden verfügt, sondern lediglich aus großen Balken besteht, zwischen denen große Lücken klaffen, durch die ich das Meerwasser darunter sehen kann, erschließt sich mir ihr Zweck nicht so recht. Ich vermute allerdings, daß sie in irgendeiner Form den hier anlegenden Schiffen dient, auch wenn ich mir nicht genau vorstellen kann, wozu. Ich brauche eine kleine Weile, um die Leiter zu finden, die die eine der beiden Frauen erwähnt hat. Als ich sie schließlich entdeckt habe und erkennen kann, daß es sich um eine metallische Ab- und Aufstiegshilfe handelt, die an einem der Pfosten zur Wasseroberfläche hinabführt und vermutlich Wartungszwecken dient, ist es bereits zu spät. Gerade noch kann ich undeutlich einen fellbedeckten Körper im Wasser verschwinden sehen.
„Ach, schade! Jetzt ist er weg!“
Die Frau klingt merkbar enttäuscht. Ob sie wohl auf den Gedanken kommt, daß das Tier – welches auch immer es war – sich wegen ihres lauten Geschreis aus dem Staub gemacht haben könnte?
Die beiden starren noch eine Weile über das Geländer hinab in die Tiefe, doch das Tier läßt sich nicht mehr blicken. Nach einer Weile verlieren sie die Lust und machen sich auf den Weg zurück in Richtung Strand.
Mittlerweile hat sich die Plattform wieder etwas geleert, denn die Besucher, die auf den nächsten Tauchgang gewartet hatten, sind inzwischen alle eingestiegen. Der Mann, der an dem schmalen Zugangssteg die Tickets kontrolliert hatte, folgt ihnen hinein und verschließt die Tür der Tauchglocke von innen. Es dauert noch ein paar Minuten, dann setzt sich das Gefährt in Bewegung. Ebenso langsam, wie es zuvor aufgestiegen war, fährt es nun auch wieder hinab. So dauert es eine ganze lange Weile, bis es schließlich unter der Wasseroberfläche verschwunden ist.
Ich verzichte allerdings darauf, diesen doch vergleichsweise langweiligen Vorgang in seiner vollen Länge zu beobachten, denn ich habe vor der Seebrücke etwas ungleich Interessanteres entdeckt. Bereits bei meinem Eintreffen am Strand hatte ich in westlicher Richtung ein kleines Schiff bemerkt, daß dort in nicht allzu großer Entfernung vom Ufer entweder kreuzte oder vor Anker lag. Einzelheiten hatte ich allerdings nicht erkennen können. Auf meinem Weg die Seebrücke entlang war meine Aufmerksamkeit dann von anderen Dingen in Anspruch genommen worden, so daß ich nicht mehr weiter darauf geachtet hatte, zumal es sich ja sowieso nicht zu bewegen schien. Nun aber bemerke ich es auf einmal in unmittelbarer Nähe zur Seebrücke, auf die es jetzt zuzusteuern scheint. Es handelt sich um ein Schiff in der Größe einer kleinen Yacht, auf dem es allerdings kaum Platz zu geben scheint, um sich darauf aufzuhalten. Während sich im vorderen Drittel das Steuerhaus beziehungsweise die Brücke befindet, ist im hinteren Bereich ein kleineres Beiboot zu sehen, das dort auf dem Deck verankert ist. Darüberhinaus sind allerlei technische Aufbauten vorhanden. Ganz ohne Zweifel handelt es sich nicht um eine Yacht, sondern um einen kleinen Kreuzer. Sein Zweck wird mir sofort klar, als ich an der Seite das mir bereits hinlänglich bekannte Symbol der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger entdecke. Dies ist ein Seenotrettungskreuzer.
Als es in allernächster Nähe vor der Seebrücke vorüberfährt, kann ich den Namen des Schiffes lesen, der in schwarzen Buchstaben an der seiner Seite steht: Nis Randers. Ein merkwürdiger Name, denke ich. Was der wohl bedeutet? Und auch an dem kleinen Tochterboot[3]In der Umgangssprache bekannter ist die Bezeichnung „Beiboot“ für ein einem größeren Schiff beigegebenes Boot. Dieses kann allerdings normalerweise nicht selbständig operieren. Weil … [Weiterlesen], das ganz ohne Zweifel über einen eigenen Antrieb verfügt, ist ein solches Schild zu sehen. Der Name, der dort steht, ist nicht minder merkwürdig, auch wenn ich ihn im Gegensatz zu dem anderen durchaus kenne, denn dort ist einfach nur Uwe zu lesen. Im Augenblick kann ich mir keinen Reim darauf machen, doch interessieren mich die Hintergründe für diese Namensgebung hinreichend genug, um später ein wenig darüber in Erfahrung zu bringen.
Nis Randers, so erfahre ich, ist die Titelfigur einer von Otto Ernst verfaßten Ballade über einen Seenotretter[4]Auf der Website Deutschland-Lese ist die Ballade Nis Randers von Otto Ernst zu finden. Weitergehende Informationen zum Schiff der Seenotretter sind auf deren Website seenotretter.de zu finden.. Es geht darin um eine Rettungsaktion, die der Titelheld gemeinsam mit einigen Gefährten unternimmt, um inmitten eines heftigen Sturms einen Schiffbrüchigen von einem vor der Küste gestrandeten Schiff zu holen und so vor dem sicheren Tod zu bewahren. Trotz des Flehens und Bittens seiner ihn zurückhalten wollenden Mutter, die ihren Mann ebenso wie einen Sohn bereits an das Meer verloren hat und sich um einen weiteren Jungen namens Uwe, der auf See verschollen ist, sorgt, macht er sich auf den Weg und riskiert sein Leben, weil er nicht anders kann. Es ist für ihn unvorstellbar, den Schiffbrüchigen um seiner eigenen Sicherheit willen sich selbst zu überlassen. So riskieren er und seine Mannen ihr Leben, wagen sich hinaus auf die aufgepeitschten Wogen, wo es ihnen, obwohl sie mehrmals dem eigenen Untergang nahe sind, gelingt, den Schiffbrüchigen zu retten. Und wie durch ein Wunder entdecken sie in ihm den verlorenen Sohn: „Sagt Mutter, ’s ist Uwe!“
Nun wird mir die Namensgebung beider Schiffe, des Kreuzers und seines Tochterbootes, unmittelbar klar. Seit dem Herbst 2021 sind sie zusammen auf dem Darß stationiert. Ihr Bau wurde ausschließlich durch Spenden, die aus dem ganzen Land eingingen, finanziert. Langsam zieht die Nis Randers an der Seebrücke vorüber und nimmt, wieder ein Stück entfernt, Fahrt auf, um ihre Patrouille fortzusetzen.
Da ich noch immer neugierig darauf bin, welches Tier sich wohl hier an der Zingster Seebrücke aufhalten mag, nehme ich meine frühere Position am Geländer auf der rechten Seite der Plattform wieder ein und schaue gespannt nach unten zu der Leiter. Die Minuten vergehen, doch nichts regt sich. Selbst das Wasser plätschert nur sacht gegen die stählernen Pfeiler. Ich übe mich in Geduld, genieße den durch nichts gehinderten Blick auf die Weite des Meeres, beobachte die Wolken, wie sie langsam ihre Bahn über den Himmel ziehen, schaue hinüber nach Nordosten, wo sich die Hügel des nördlichen Hiddensees über den Horizont erheben, und beobachte die Menschen, die langsam die Seebrücke entlang hierher geschlendert kommen, sich umsehen, ein paar Fotos von sich machen und wieder gehen. Die Zeit verstreicht, erst fünf Minuten, dann zehn, schließlich fünfzehn. Und gerade, als ich beginne, mir zu überlegen, ob ich das Warten nicht doch aufgeben und mich auf den Weg zurück zum Strand machen solle, da ich doch schließlich gar nicht weiß, ob das, worauf ich warte, überhaupt eintreten wird, vernehme ich ein Geräusch, das von unten zu mir heraufdringt. Ein Plätschern, das jedoch lauter als das der kaum vorhandenen Wellchen ist, die gegen die Pfeiler der Seebrücke schlagen. Gespannt schaue ich über das Geländer hinunter zum Fuß der Leiter. Zwei schwarze Knopfaugen schauen zurück.
Von dort, aus dem schattigen Zwischenraum zwischen Leiter und Pfeiler, schaut ein kleiner Geselle zu mir herauf – wie mir scheint, mindestens ebenso neugierig wie ich. Oder ist es Vorsicht? Einer von diesen Menschen könnte ja plötzlich herabgestiegen kommen. Und wer weiß, was die im Schilde führen… Unverwandt ist der Blick aus diesen schwarzen Augen auf mich gerichtet. Nur mit Mühe kann ich im Schatten das Gesicht des Tieres erkennen. Braunes Fell, eine schwarze Nase, die mich ein bißchen an die eines Hundes erinnert, dazu lange, seitlich abstehende Barthaare, wie sie auch Katzen haben, und sehr kleine Ohren. Zwei Pfoten ruhen auf der untersten Sprosse der Leiter, die sich über dem Wasser befindet. Fünf Zehen kann ich erkennen, jede ausgestattet mit einer kleinen Kralle. Der Rest des Körpers befindet sich noch unter der Wasseroberfläche und ist somit nicht zu sehen.
Nach einigen Minuten gespannten gegenseitigen Musterns beschließt das kleine Tier, daß ich wohl keine Gefahr bin, und wagt sich weiter vor. Behende klettert es, seinen Körper geschickt zwischen Leiter und Pfeiler klemmend, die Sprossen hinauf, bis es schließlich auf einer angekommen ist, an der Streben die Leiter mit dem Pfeiler verbinden und sie so an diesem befestigen. Dadurch entsteht eine etwas größere Fläche, die überdies bereits hoch genug über dem Wasser liegt, um von der Sonne erreicht werden zu können. Das kleine Tier, bei dem es sich nach meinem Dafürhalten um einen Fischotter handelt, dreht sich ein paar Mal um sich selbst, bis es eine gemütliche Position gefunden hat, in der es sich gut liegen und das Fell trocknen läßt, dann plaziert es seine Schnauze auf der seitlichen, der Sonne zugewandten Strebe und schließt beseelt die Augen. Endlich Ruhe!
Da ich bemerke, daß mein unentwegtes Hinabschauen über das Geländer Aufmerksamkeit zu erregen beginnt, so daß einige der Umstehenden neugierig zu werden scheinen, was es da unten denn wohl zu sehen gibt, wende ich mich von dem kleinen Kerl ab, da ich nicht möchte, daß seine wohlverdiente Ruhe gestört wird. Die Tauchglocke ist mittlerweile unter Wasser und somit nicht mehr zu sehen, das Seenotrettungsschiff ist nurmehr ein kleiner weißer Punkt, der sich weiter draußen auf dem Meer dahinbewegt, und die Menschen, die nach wie vor hier auf der Plattform am Ende der Seebrücke eintreffen, sich umschauen und wieder gehen, habe ich bereits hinlänglich beobachtet. So mache nun auch ich mich wieder auf den Weg und schlendere langsam den langen Steg zurück zum Strand.
Dort angekommen, entdecke ich auf dem Vorplatz, der sich vor der Seebrücke auf der Düne befindet, ein weiteres der hölzernen Kunstwerke Roland Lindners, das mir zuvor entgangen war. Es ist ebenfalls kugelförmig und weist auf der der Seebrücke zugewandten Seite auch eine völlig glatte Oberfläche auf. Als ich jedoch darum herumgehe, stelle ich fest, daß die andere, dem Land zugewandte Seite sehr zerklüftet ist. Ganz offensichtlich handelt es sich um eine knorrige Wurzel, die der Künstler mit viel Geschick in eine Kugelform gebracht hat. Das Leben ist Veränderung hat er es getauft. Leider ist es der Unsitte zum Opfer gefallen, der so viele frisch zusammengekommene Paare frönen, indem sie an allem, was auch nur entfernt mit einer Brücke zu tun hat und Möglichkeiten bietet, etwas zu befestigen, kleine Vorhängeschlösser anbringen, um aller Welt ihre unverbrüchliche Liebe und deren ewige Dauer zu verkünden. Wie bei so vielem, das in unserer heutigen Zeit plötzlich Mode wird, frage ich mich auch hier, worin dabei eigentlich der Sinn liegt. Zunächst wäre einmal festzuhalten, daß ein irgendwo angehängtes Vorhängeschloß aller Welt gar nichts bringt, da die darauf meist namentlich Verewigten ihr völlig unbekannt sind und sie diese somit auch nicht zu würdigen in der Lage ist. Doch davon einmal abgesehen, finde ich auch das mit einem solchen Schloß verknüpfte Symbol recht eigenartig. Was will es mir sagen? Natürlich, daß es nicht einfach nur Liebe ist – nein, die ewige Liebe soll es sein. Doch damit man sie auch ja nicht verliere, schließt man sie weg? Interessantes Konzept. Und noch dazu eines, daß offenbar nicht durchgängig funktioniert. Schaut man sich nämlich die einschlägigen Statistiken an, kann von ewiger Liebe in vielen Fällen kaum die Rede sein. Denn auch wenn die Zahl der Ehescheidungen in Deutschland seit Beginn der 2000er Jahre durchaus zurückgegangen ist, liegt sie dennoch immer noch recht hoch. Reichlich 137.000 waren es allein im Jahre 2022. Kommen die dann wenigstens zurück und montieren ihr Schloß wieder ab?
Aber darum ginge es doch gar nicht, mag man mir nun entgegenhalten. Das Motiv wäre doch vielmehr, daß das ganz wunderbar romantisch sei. Und dafür fehle mir wohl ganz offenbar der Sinn. Nun, vielleicht ist das so. Vielleicht ist aber auch mein Sinn für Romantik einfach nur nicht in erster Linie darauf ausgerichtet, mich in die Öffentlichkeit zu drängen und mich dieser selbst darzustellen, ob es sie nun interessiert oder nicht. Für mich ist Romantik eher mit Zweisamkeit, der Konzentration auf den Partner und dem Füreinander-da-sein verbunden, mit Stille und Zurückgezogenheit. Die Öffentlichkeit hat da eher wenig verloren. Doch da ist noch ein anderer Aspekt, der mich an dieser Schlössermode stört und vermutlich mit dem Drang zur Selbstdarstellung eng verknüpft ist. Denn wo werden diese Schlösser denn angebracht? Nicht etwa am eigenen Gartentor, der eigenen Haustür oder in sonst einem privaten Raum. Es werden stattdessen historische Bauwerke damit behängt, die oft ihren eigenen ästhetischen Reiz sowie architektonischen wie künstlerischen Wert haben. Oder man verunziert – wie in diesem Fall – Kunstwerke damit. In jedem Fall mißachtet man dabei das Werk des jeweiligen Architekten beziehungsweise Künstlers, indem man es für seine eigenen unmaßgeblichen Zwecke – nun ja – zweckentfremdet. Und dem kann ich dann so gar nichts abgewinnen und empfinde es als störend und ignorant, keineswegs aber romantisch. Und dabei ist von der möglichen Beschädigung des jeweiligen Bau- oder Kunstwerks noch nicht einmal die Rede.
Es mag sein, daß dieser spezielle Fall anders liegt, und der Künstler, der diese Wurzel gestaltet hat, die Praxis, daran Liebesschlösser anzubringen, ausdrücklich begrüßt. Ich weiß es nicht, man müßte ihn fragen. Der Titel der Skulptur scheint mir darauf jedoch keinen Hinweis zu geben, es sei denn, man läßt das Behängen des Kunstwerks mit Schlössern als dessen Veränderung durch das Leben gelten. Nun ja. Doch selbst, wenn dem so sein sollte – soweit wie eine Beschreibung der Seebrücke und der darauf aufgestellten Skulpturen, die mir untergekommen ist und davon spricht, daß Liebende mit diesen Schlössern dieses Kunstwerk mitgestalten, würde ich dennoch nicht gehen[5]Zu finden ist diese Beschreibung auf der Website Fischland-Darß-Zingst., ist doch dieses bunte Sammelsurium Metallschrott, das man an die Wurzeläste gekettet hat, weder besonders schön noch sehenswert.
Wieder an Land angelangt, überlege ich, was ich als nächstes tun soll. Da es mittlerweile früher Nachmittag ist und ich ein leichtes Leeregefühl in der Magengegend verspüre, erscheint mir die Aussicht auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen nicht nur angemessen, sondern auch verlockend. An dem großen, halbrunden Platz am Ende der Strandstraße kann ich kein Café entdecken, das mir auf den ersten Blick zusagt, doch erinnere ich mich, ein solches am Fischmarkt zuvor gesehen zu haben. So mache ich mich auf den Weg dorthin, wobei ich allerdings nicht die Strandstraße, sondern die im weitesten Sinne parallel zu ihr verlaufende Klosterstraße wähle, die gemeinsam mit ersterer den alten Rettungsschuppen einrahmt. Sie führt ebenfalls auf den Fischmarkt und trägt, wie ich bereits weiß, an ihrem hinteren Ende sogar ein Stück seinen Namen. Nachdem ich ein paar Geschäfte und ein großes, gut besuchtes Eiscafé, in dem es keinen freien Platz mehr gibt, hinter mir gelassen habe, führt die Straße zwischen sich zu beiden Seiten aneinanderreihenden Grundstücken hindurch, auf denen von Gärten umgebene Einfamilienhäuser stehen. Als ich allerdings den als Fischmarkt bezeichneten Teil der Straße erreicht habe, säumen Restaurants ihre Seiten. Schließlich öffnet sich zur Rechten hin ein Platz, hinter dem ich die mir bereits hinlänglich bekannte Strandstraße wiederfinde. Ich bin am eigentlichen Fischmarkt angekommen.
Das Café, das ich zuvor bereits bemerkt hatte, erweist sich bei näherer Betrachtung als Restaurant, das den malerischen Namen Zum Klabautermann trägt. Da ich durch die Fenster im Inneren bereits Gäste an den Tischen sitzen sehen kann, trete ich ein, ohne weiter auf die Öffnungszeiten zu achten, und suche mir einen freien Tisch am Fenster. Ich lege ab, setze mich und werfe einen eher oberflächlichen Blick in die Karte. Meiner Erfahrung nach sind die verfügbaren Kuchensorten in Cafés und Restaurants sowieso ein sich täglich änderndes Angebot, für das man in der Speisekarte lediglich den Hinweis vorfindet, man möge sich in der einschlägigen Vitrine selbst ein Bild machen oder sich beim Kellner erkundigen. Es dauert nicht lange, da steht eine Kellnerin neben mir und fragt nach meinem Begehr. Auf meine Bitte um eine Tasse Kaffee und meine Frage, welche Kuchensorten denn zu haben seien, teilt sie mir lakonisch mit, daß es dafür noch zu früh sei. Kaffee und Kuchen könne ich erst in einer knappen halben Stunde bestellen, wenn im Restaurant Kaffeezeit sei.
Natürlich sehe ich meinen Fehler unverzüglich ein. Einfach so eine halbe Stunde vor der Kaffeezeit zu erscheinen und nach Kaffee und Kuchen zu fragen – das geht nun wirklich nicht. Wo kämen wir denn da hin, wenn ein jeder einfach so bestellte, wonach ihm gerade ist? Das wären ja ganz neue Moden. Das absolute Chaos bräche aus. Wie sollte man denn da noch erfolgreich ein Restaurant betreiben? Am Ende müßte man gar noch Kundenservice einführen! Das geht nun wirklich nicht. Zerknirscht bedanke ich mich für die Auskunft und teile reuig mit, daß ich als Gast natürlich gedächte, auf diese Regel unbedingt Rücksicht zu nehmen. Ich würde dann nichts bestellen und wieder gehen. Und das tue ich dann auch.
Kaffee und Kuchen in durchaus guter Qualität bekomme ich dann nur wenige Minuten später bei der auf der anderen Seite des Platzes ansässigen Bäckerei Junge, in der man von einer speziellen Kaffeezeit ganz offensichtlich noch nichts gehört hat und einfach den ganzen Tag über Kaffee ausschenkt und dazu Kuchen verkauft. Zwar muß ich mir beides selbst an der Theke abholen, dafür ist das Stück Kuchen von überdurchschnittlicher Größe und ausgesprochen lecker. Und auch der Kaffee kann sich durchaus sehen beziehungsweise trinken lassen. Zu guter Letzt ist es dann vermutlich auch noch kostengünstiger als im Klabautermann.
Als ich dann frisch gestärkt wieder auf dem Fischmarkt ins Freie trete, lenke ich meine Schritte noch einmal die Strandstraße entlang in Richtung Norden, zurück zur Seebrücke. Mittlerweile ist es halb drei Uhr am Nachmittag und ich habe beschlossen, den Weg zurück nach Prerow zu Fuß zurückzulegen. Direkt am Übergang zur Seebrücke war mir zuvor auf dem Deich ein Wegweiser aufgefallen, dem ich entnehmen konnte, daß die Entfernung bis zu der mir bereits bekannten Hohen Düne nur 5,9 Kilometer betragen würde, wenn ich nur immer geradeaus den Deich entlangwanderte. Da das Wetter unverändert schön ist und ich auf meiner Besuchsliste für Zingst keinen offenen Punkt mehr verzeichnet habe, will ich mich nun also auf den Weg machen.
Einige Minuten später stehe ich neben dem Wegweiser auf dem Deich. Links verläuft vor einer Zeile knallgelber Häuser die Seestraße, rechts stehen die Bäume des Dünenwaldes, der hier lediglich einen schmalen Streifens bildet. Dazwischen führt der breite, asphaltierte Weg die Deichkrone entlang in die Unendlichkeit, zu beiden Seiten von den sanft abfallenden Hängen des dem Küstenschutz dienenden Bauwerks gesäumt.
Ich gehe los. Der Deich verläuft über weite Strecken schnurgerade. Es liegt in der Natur der Sache, daß der Weg es ihm gleichtut und somit selbst nicht allzu viel Abwechslung bietet. Auch der Dünenwald rechts ändert sein Aussehen praktisch nie. Nur auf der linken Seite gibt es immer wieder etwas anderes zu sehen, da sich dort die die Seestraße säumenden Häuser abwechseln. Auf dem Weg selbst sind, solange ich mich noch in Zingst befinde, jede Menge Leute unterwegs, viele mit dem Rad, zahlreiche aber auch zu Fuß. Als ich das Ende der Seestraße und ihre Einmündung in die sich von links nähernde Straße Am Bahndamm erreiche – hier war ich am Vormittag mit dem Bus nach Zingst hineingefahren -, fällt mir links ein Etablissement auf, das sich in einem Flachbau direkt am Deich befindet und ein Restaurant mit Biergarten zu sein scheint, in dem sich angesichts der kühlen Temperaturen allerdings keine Leute aufhalten. Ein an dem Gebäude angebrachtes Schild tut mir kund, das hier der Schnitzel-Kaiser höchstpersönlich zu Tisch bittet. Allerdings sieht es ein wenig so aus, als habe es jemand etwas ungelenk mit der Hand beschrieben. Die Buchstaben weigern sich strikt, sich in der Mitte des Schildes aufzuhalten, und drängen stattdessen an dessen linken Rand, als wollten sie dort zur Hauswand überlaufen. Auch werden sie zum Ende des Namens hin immer kleiner. Ein Ausdruck irgendwie sympathischer Unvollkommenheit.
Mit der Straße Am Bahndamm folgt nun auch die einstige Trasse der Darßbahn dem Deich. Zumindest nehme ich das an, denn zu sehen ist sie nirgends. Das allerdings verwundert auch nicht, denn seit der Stillegung der Bahnlinie sind ja bereits mehrere Jahrzehnte vergangen und das Gelände wurde überbaut. So ist auf der jenseitigen Straßenseite zunächst ein großer Parkplatz zu sehen, hinter dem sich die Häuser des Ortes fortsetzen. Diese enden jedoch gemeinsam mit ersterem, als ein gelbes Schild neben der Straße das Ortsende verkündet. Dahinter schließt sich am Straßenrand dichtes Gebüsch an. Als es sich einige Meter weiter ein wenig lichtet, tritt nun auch der alte Bahndamm unter den Bäumen deutlicher zutage.
Die Zahl der Menschen, die auf dem Deich unterwegs sind, hat hier bereits rapide abgenommen. Fußgänger sehe ich, abgesehen von mir selbst, keine mehr. Hin und wieder überholt mich ein Radfahrer oder es kommt mir einer entgegen. Den kann ich dann bereits schon mehrere Minuten im voraus auf mich zufahren sehen, da der Deich nach wie vor schnurgerade verläuft. Mein Weg wird nur hin und wieder durch einen Übergang unterbrochen, der sich im Dünenwald rechts von mir zu verlieren scheint, von wo er jedoch weiter zum Strand führt. Links Bäume, Büsche und eine Straße, rechts Bäume, dazwischen der sich in der Unendlichkeit verlierende Deich – alles in allem ist das eine recht eintönige Angelegenheit, die das Wandern langweilig macht. So könnte man meinen. Ich empfinde das allerdings nicht so. Bereits seit dem Ende des Ortes bin ich über weite Strecken allein auf dem Deich unterwegs und habe mich in eine gewisse Gleichmäßigkeit der Schritte hineingelaufen. Ohne noch groß darüber nachzudenken, setze ich unentwegt einen Fuß vor den anderen und halte ein schnelles, doch gleichmäßiges Tempo. Fast scheint es mir, als befände ich mich in einem leichten Laufrausch. Meine Gedanken gehen auf Wanderschaft, ich denke über dies und das nach und zähle nebenbei die Überwege, die ich passiere, während ich auf dem Deich unterwegs bin. Jede dieser Passagen hat man nämlich fein säuberlich mit einer Nummer versehen, die jeweils auf einem großen Schild angegeben ist. Was Kennzeichnung, Numerierung und Katalogisierung angeht, da sind wir in Deutschland immer noch einsame Weltspitze. Allerdings war es vermutlich nicht nur übertriebener Hang zur Bürokratie, der hier am Werk gewesen ist. Diese Nummern haben ganz sicher auch einen Zweck. Davon dürfte der, bei einem Notruf im Falle eines Unfalls am Strand oder im Wasser der Ostsee die eigene Position möglichst genau angeben zu können, nicht der unwichtigste sein.
Nach einer Weile erreiche ich den Abzweig, an dem die aus Zingst kommende Straße Am Bahndamm die Umgehungsstraße erreicht. Mein Weg führt weiter den Deich entlang, der immer noch vordergründig geradeaus führt und nur hin und wieder einmal eine leichte Biegung nach rechts oder links macht. Irgendwann passiere ich die mitten im Nirgendwo am Straßenrand gelegene Bushaltestelle Prerow Hertesburg, wenig später werden die Bäume auf der linken Seite lichter, so daß ich zwischen den Stämmen das Wasser des sich nähernden Prerower Stroms blinken sehen kann. Ich habe die schmale Landenge zwischen diesem und der Ostsee erreicht. Nun sind es nur noch einige Meter, bis mir dort, wo der Deich endet, ein weiterer Wegweiser, der an dem Strandübergang kurz vor der Hohen Düne steht, den Weg zurück nach Zingst zeigt. 6,2 Kilometer sollen es ihm zufolge bis ins Ostseeheilbad sein. Interessant. Dreihundert Meter mehr als von Zingst zur Hohen Düne. Wie das wohl kommt? Ob man von hier aus bis zur Zingster Ortsmitte gemessen hat? Ich weiß es nicht.
Da ich den Weg nach Prerow hinein bereits am Tag zuvor über den Strand genommen habe, wähle ich heute die Strecke durch den Dünenwald. Zunächst muß ich zur Hohen Düne und an dieser vorbei, bis ich den charakteristischen Prerower Wegweiser erreiche, den ich ebenfalls schon am Vortag bemerkt hatte. Hier biege ich nun in den Weg ein, der an dieser Stelle auf die Landstraße einmündet. Er bringt mich hinter dem großen Gelände der Ostseeklinik Prerow entlang durch den Dünenwald und endet an einem weiteren Strandübergang. Hier beginnt ein neuer Deich, der interessanterweise jedoch nicht parallel zur Küste verläuft, sondern eine Richtung landeinwärts einschlägt. Was zunächst ungewöhnlich erscheint, erklärt sich jedoch bald, als mir klar wird, daß es sich um eben jenen Deich handelt, der zunächst den Prerower Strom überquert, um diesen anschließend, einen weiten Bogen schlagend, bis an dessen Ende zu begleiten, um so den Ort vor den Wassern des Meeres zu schützen. Und richtig – nach wenigen hundert Metern passiere ich die Märchenhütte und überquere kurz darauf den Strom. Nun dauert es nicht mehr lange, bis ich im Ort und wenig später in meiner Pension angekommen bin.
Doch noch ist der Tag nicht vorüber. Ein, zwei Stunden Ruhe und ein Abendessen später bin ich dann wieder fit genug für einen kleinen Abendspaziergang zum Strand. Ist mein Plan zunächst, dort den Sonnenuntergang zu bewundern, erfährt dieser eine kleine Änderung, als ich auf dem Prerower Hauptübergang am Strom ankomme. Der tagsüber meist gut mit Menschen angefüllte Weg ist um diese Zeit – die Uhr zeigt kurz nach sieben – nur noch spärlich besucht. Die Bänke zu beiden Seiten des Weges, von denen man einen wunderbaren Blick auf die friedliche Wasserfläche des Seegatts und dessen schilfbewachsene Ufer hat, sind nahezu alle unbesetzt. So beschließe ich, hier ein wenig zu verweilen und die abendliche Ruhe, die sich bereits über den Strom gesenkt hat, zu genießen. Meine Wahl fällt auf die Westseite, wo hinter den Bäumen am jenseitigen Ende die Sonne langsam zum Horizont hinuntersinkt.
Der langsam heraufziehende Abend hat den Himmel bunt eingefärbt. Dieser präsentiert eine reichhaltige Farbpalette, die von einem zarten Himmelblau im Zenit über ein kräftigeres Blau bis zu einem feurigen Orange-Rot in der Nähe des westlichen Horizonts reicht, wo es aussieht, als stünde irgendwo ganz weit hinten der Wald in Flammen. Über diese Farbenpracht sind kleine und große Wolken verstreut, die sich hier und da auch einmal zu größeren Wolkenfeldern zusammengetan haben. Diese sind offenbar so stark verdichtet, daß sie es dem Licht nicht mehr erlauben, sie zu durchdringen. Wie in tiefe Schatten getaucht schweben sie über dem Strom auf mich zu, dessen Wasserfläche, von keinem Lüftchen gekräuselt, wie ein ebenerdiger Spiegel wirkt, in dem sich kopfunter eine zweite Welt zu befinden scheint. Wenn ich nur lange genug in diesen Spiegel hineinschaue, gewinne ich den Eindruck, ich müßte mich nur kopfüber hineinstürzen, um direkt in diese andere Welt zu gelangen.
Die Zweige der Bäume um mich herum sind immer noch kahl, so als wollten sie abwarten, ob der aufkommende Frühling die Rückzugsgefechte, die der Winter noch gegen ihn führt, auch wirklich nachhaltig gewinnt. So fällt es schwer, die jeweilige Baumart zu identifizieren, sieht man einmal von den Erlen ab, die sich mit ihren kleinen, tiefschwarzen, vom Vorjahr übriggebliebenen Zapfen deutlich zu erkennen geben. Doch halt, da ist doch ein Baum, der seine kahle Zurückgezogenheit bereits aufzugeben beginnt. An einem Zweig entdecke ich vier kleine Kätzchen – Blütenstände, die von zartem, hellgrauem Flaum umgeben sind, aus dem kleine Spitzen wie Nadeln herausstechen, an deren Enden winzige gelbe Punkte zu sehen sind. Diese kleinen Weidenkätzchen kündigen wie freundliche Boten den nahenden Frühling an, noch bevor die Weide, an deren Zweigen sie sacht in der Abendluft schaukeln, auch nur ein einziges Blatt hervorgebracht hat.
Ich bleibe eine ganze lange Weile auf der Bank am Rand des Stroms sitzen und genieße den Frieden und die Stille um mich herum. Weiter und weiter sinkt die Sonne, bis sie so tief steht, daß ihre Strahlen unterhalb eines großen Wolkenfeldes hervorbrechen. Von einem Moment zum anderen scheint der Himmel in Flammen zu stehen, und das nicht nur einmal, sondern dank des großen Spiegels vor mir gleich zweimal. Feuer von oben und Feuer von unten und dazwischen der tiefschwarze Streifen des Waldes, ebenfalls zweigeteilt in Bäume, die aufwärts wachsen, und andere, die nach unten zu streben scheinen. Es ist ein faszinierendes Panorama, das die Natur vor meinen Augen entrollt, wie ein Schauspiel aus einer wunderbaren Welt der Fantasie.
Plötzlich höre ich hinter mir aufgeregtes Schnattern. Doch noch bevor ich mich nach dem mir nur allzu bekannten Geräusch umdrehen kann, schwebt ein dunkler Schatten über mich hinweg und vor mir auf den Strom hinaus. Eine einzelne, verspätete Graugans fliegt in die heimatlichen Gefilde ein und kündigt den im Schilf vermutlich verborgenen Artgenossen ihr Kommen an. Von irgendwo weiter entfernt ist tatsächlich eine Antwort zu hören. Die Gans lenkt ihren Flug unverzüglich in die entsprechende Richtung und ist, da sich die abendlichen Schatten inzwischen schon recht weit aus dem Wald heraus- und auf die Wasserfläche hinausgewagt haben, bald meinen Blicken wieder entschwunden.
Diese Störung der abendlichen Ruhe hat jedoch auch mich aus meinem Sinnen gerissen, so daß ich beschließe, meinen Weg in Richtung Strand fortzusetzen. Angesichts der zahlreichen Wolken bezweifle ich zwar, daß es möglich sein wird, die Sonne hinter den Horizont sinken zu sehen, doch auf einen schönen Abendhimmel über dem Meer darf ich wohl nach dem, was sich hier bereits meinen Augen geboten hat, allemal hoffen.
Diese meine Hoffnung wird tatsächlich nicht enttäuscht. Bereits oben auf der Düne ist der entflammte Himmel in all seiner Pracht zu bewundern. Die Sonne wird von den Wolken vollständig verborgen, doch haben diese ein großes Stück des sich über mir wölbenden Firmaments freigelassen, das in allen leuchtenden Farben zwischen knalligem Gelb und feurigem Rot erstrahlt und die es einrahmenden Wolken dafür um so dunkler erscheinen läßt. Das Meer ist noch immer völlig ruhig und eben. Nicht eine Welle läßt sich blicken.
Weiter unten am Strand stehen die Strandkörbe verträumt im Sand. Tagsüber von Menschen gut besucht, sind sie nun allesamt leer und verlassen. Im abnehmenden Licht des Tages werden sie nach und nach von den um sich greifenden Schatten verschluckt. Es dauert eine Weile, bis mir bewußt wird, daß das Verlöschen des Lichtes nicht allein dem anhaltenden Sinken der Sonne hinter dem Horizont geschuldet ist, sondern daß auch die Wolken mehr und mehr den Himmel erobern und seine freien Stellen weiter und weiter zurückdrängen. Stumm stehe ich am Ufer des Meeres und schaue zu, wie die Nacht den müden Tag zur Ruhe bringt, bis es schließlich nahezu dunkel ist.
In vollkommener Gelassenheit und innerem Frieden mache ich mich auf den Rückweg, zurück durch den Dünenwald, wandle über den Strom und durch die Straßen des Ortes, in denen mittlerweile kleine Straßenlampen entzündet worden sind, die winzige Inseln des Lichts in die Nacht legen, um abendlichen Spaziergängern wie mir den Weg zu weisen. In mir ist nur noch Ruhe, die Hektik des Alltagslebens in der Großstadt scheint mir in weitester Ferne und ich genieße das Gefühl völliger Entspannung. Ich sollte mir mehr Zeit für Abende wie diesen nehmen…
Sie können alle Fotos auch direkt auf Flickr anschauen. Für alle Fotos gilt die folgende Lizenz:
Auf der Suche nach einer Erklärung finde ich auf verschiedenen Seiten im Internet und auch in den sozialen Netzwerken Fotos, die die von Marc Moser geschaffene Brille mal am Strand und mal am Zingster Hafen zeigen. Offenbar hat sie unmittelbar gar nichts mit dem Fotografie-Zentrum zu tun, sondern wechselt einfach immer mal wieder ihren Standort. Und sie hat sogar einen Namen: Sea Pink II. Sie soll, so heißt es in einer Beschreibung, dazu einladen, die Welt durch einen rosaroten Filter zu betrachten, denn ihre Brillengläser sind von eben dieser Farbe. Nun ja. Für mich ist das etwas zu gewollt.
HO stand in der DDR für Handelsorganisation. Das war ein staatliches Unternehmen des Einzelhandels, das mit der Bandbreite der von ihm angebotenen Waren und der ihm unterstehenden Läden alle Bereiche des privaten Lebens umfaßte, von Lebensmitteln bis zu Haushaltswaren.
In der Umgangssprache bekannter ist die Bezeichnung „Beiboot“ für ein einem größeren Schiff beigegebenes Boot. Dieses kann allerdings normalerweise nicht selbständig operieren. Weil die von den deutschen Seenotrettern verwendeten „Beiboote“ dazu allerdings in der Lage sind und auch ganz allein unterwegs sein können, werden sie von ihnen eher als Tochterboote bezeichnet (auch wenn sie einen männlichen Namen erhalten haben). Mittlerweile hat sich dieser Begriff für diese Art „Beiboote“ sogar international durchgesetzt. Für diese Erklärung danke ich erneut Christian Stipeldey, dem Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS).
Ringsum ist kein Laut zu hören. Das ist zumindest mein erster Eindruck, als ich hier, mitten im Dünenwald, für ein paar Minuten innehalte und lausche. Gerade ist die zehnte Stunde des Tages abgelaufen, und auf dem namenlosen Waldweg inmitten der zahllosen Kiefern läßt sich keine Menschenseele entdecken.
Stille.
Wie bereits zwei Tage zuvor malt die Sonne wieder helle Lichtflecken auf den von niedrigen Sträuchern bestandenen Waldboden. Und der Himmel über den Wipfeln der Bäume erstrahlt in einem satten tiefen Blau.
Stille.
Das ist zumindest das, was meine die Großstadt gewöhnten Ohren, geeicht auf deren nahezu ununterbrochenen Lärm, der des Nachts lediglich ein wenig abflaut, doch nie ganz verschwindet, mir zunächst übermitteln. Es dauert seine Zeit, bis sie wahrzunehmen beginnen, daß da mehr ist. Zunächst dringt ein sachtes Rauschen in mein Bewußtsein, zwar nur leise, aber doch vorhanden; mal anschwellend, dann wieder abflauend; eben noch säuselnd und weit entfernt, so daß ich es für das Rauschen des hinter den Dünen gelegenen Meeres halten könnte, ist es plötzlich direkt über mir und um ein Vielfaches lauter, läßt mich unwillkürlich den Blick zu den Kronen der Kiefern heben, die sich sanft hin- und herwiegen. Und gleich entfernt es sich wieder, wird leiser und leiser, bis es schließlich kaum noch zu vernehmen ist. Doch da scheint es auch schon zurückzukehren, nimmt wieder zu und dringt erneut an mein Ohr. Nein, das sind nicht die Wellen des Meeres, das ist der Wind, der an diesem Morgen gemächlich über den Dünenwald streicht, mit den Baumwipfeln spielt und sie gewissermaßen zum Klingen bringt. Und auch die Stämme der Bäume stimmen ein, denn auf einmal nehme ich ein tiefes Knarren und Knarzen wahr, das, so scheint es mir, irgendwie zufrieden klingt, so als ob die Bäume glücklich darüber wären, sich hin- und herwiegen zu können, sich dabei zu strecken und zu dehnen. Und irgendwie verstärken diese Töne des Waldes in mir den Eindruck absoluter Ruhe, die sich für mich nun allerdings nicht mehr als Geräuschlosigkeit ausdrückt, sondern als die Abwesenheit jeglichen unkontrollierten Lärms und Stresses.
In dieser Stimmung angekommen, nehme ich plötzlich auch andere Geräusche wahr. Von irgendwo ertönt der fröhliche Ruf eines Vogels, der um so stärker in mein Bewußtsein dringt, als das Federvolk an diesem Morgen offenbar beschlossen hat, kein lautstarkes Konzert zu veranstalten, sondern ebenfalls die Ruhe des Waldes zu genießen; eine Ruhe, die der irgendwo auf einem Ast sitzende kleine Piepmatz mit seinem fröhlichen Zwitschern nur unterstreicht. Und was war das?! Hat da nicht eben etwas hinter mir geraschelt? Da! Schon wieder! Je länger ich hier innehalte und lausche, desto mehr Geräusche dringen an mein Ohr und überschreiten die Schwelle meiner Wahrnehmung. Geräusche, die ich sonst im Lärm der Großstadt nie zu hören in der Lage bin. Regungslos stehe ich noch eine ganze Weile mitten im Wald und höre zu…
Daß ich mich um diese Zeit bereits hier im Dünenwald aufhalte, hat seinen Grund. Ich bin unterwegs zu einer Verabredung, die ich allerdings nicht mit einer Person, sondern mit einer Unternehmung habe, die für den heutigen Vormittag geplant ist und für die das Wetter gar nicht besser sein kann. Mein Ziel ist der im Prerower Strom gelegene Hafen. Als ich am gestrigen Abend dort vorübergekommen war, hatte ich herausgefunden, daß man Schiffstouren durch den Strom anbot, die bis in den Bodstedter Bodden führen. Und nach all der Lauferei in den letzten drei Tagen hatte ich spontan beschlossen, daß mir für heute ein Ausflug ganz gut täte, bei dem ich es etwas ruhiger würde angehen können. Und so bin ich nun unterwegs zur Anlegestelle, wobei ich mir anstelle des Weges durch den Ort, die Hauptstraße entlang einen kleinen Umweg gönne, der mich den Hauptübergang entlang zum Strom und darüber hinweg hierher in den Dünenwald geführt hat.
Nach der morgendlichen Andacht im Wald innerlich zur Ruhe gekommen, setze ich schließlich meinen Morgenspaziergang fort. Der Weg, in den ich vom Hauptübergang eingebogen bin und dem ich nun folge, verläuft in östlicher Richtung durch den Dünenwald, bis er eine scharfe Biegung nach Südosten macht und kurz darauf den großen Deich erreicht. Ich treffe dort an genau der Stelle ein, wo ich tags zuvor zur Seemannskirche abgebogen war. Geradeaus über den Deich hinweggehend, folge ich auch heute dieser Route, lasse jedoch, als ich sie erreicht habe, die kleine Kirche und den sie umgebenden Friedhof hinter mir und gehe weiter zur Straße, die Prerow hier verläßt und hinüber nach Zingst führt. Dort angekommen, sind es nur noch ein paar Meter bis zum Hafen. Da ich jedoch trotz meines Verweilens im Wald bis zur Abfahrt meines Schiffes noch mehr als eine Stunde Zeit habe, wende ich mich anstatt nach rechts in die entgegengesetzte Richtung, wo, wie ich weiß, der alte Prerower Bahnhof zu finden ist. Wenn ich schon einmal in dieser Gegend bin, dann will ich doch auch einmal einen Blick darauf werfen.
Es sind nur wenige Meter bis dorthin. Die Straße macht einen kleinen Schwenk nach links und gibt so den Platz frei für ein Gelände, das von einem großen roten Ziegelbau dominiert wird, der seine Herkunft eines alten Bahnhofsgebäudes kaum verleugnen kann. Da er parallel zur Straße ausgerichtet ist, wendet er mir seine westliche Schmalseite zu, die von sechs großen Bogenfenstern dominiert wird, deren fünf unmittelbar nebeneinander liegen, während das sechste sich in einigem Abstand zu diesen an der abgeschrägten Hausecke befindet. Bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, daß es sich bei einem der fünf Fenster eigentlich um eine Tür handelt. An dieser bemerke ich auch den ersten deutlichen Hinweis auf die Eisenbahnvergangenheit des Gebäudes, denn in dem über ihr befindlichen oberen Bogenfeld ist der Flügel eines einstigen Formsignals zu sehen. Der zweite untrügliche Hinweis besteht in der ebenfalls bogenförmigen Aufschrift, die an der Ziegelwand zwischen dem abgesetzten Fenster und den anderen fünf angebracht worden ist. Alter Bahnhof steht dort weithin sichtbar. Und darunter: Restaurant. Wahrscheinlich ist es hinter den aneinandergereihten Bogenfenstern zu finden, die den Eindruck vermitteln, zu einem größeren Saal zu gehören.
Über diesem Erdgeschoß türmt sich bereits das schwarze Dach des alten Gebäudes, das in mehreren Abstufungen schräg nach oben aufragt und wenigstens einer weiteren Etage unter sich Platz gewährt. Tatsächlich ist es höher als die Ziegelwand und die Fenster, die das zu ebener Erde gelegene Geschoß bilden. Als ich der Straße weiter folge, um neben das Gebäude zu gelangen, kann ich nach und nach seine gesamte, dieser zugewandte Längsseite in Augenschein nehmen und dabei weitere Hinweise auf die mit der Eisenbahn in Verbindung stehende Geschichte des Hauses entdecken – wie die aus der Hauswand ragende kreisrunde Bahnhofsuhr mit ihrem schwarzen Rahmen, die sich, wie es sich für eine gute Bahnhofsuhr gehört, beharrlich weigert, die korrekte Zeit anzuzeigen. Am davor verlaufenden Zufahrtsweg steht ein dreieckiges Verkehrsschild mit rotem Rand, auf dem eine schwarze Dampflokomotive zu sehen ist. Der unbeschrankte Bahnübergang, vor dem es warnt, ist allerdings nirgends zu finden.
Die Mitte des Gebäudes wird von einer nach oben hin spitz zulaufenden Giebelwand gebildet, in der sich unzweifelhaft der Haupteingang befindet, über dem sich der bogenförmige Schriftzug Alter Bahnhof wiederholt. Der Zusatz Restaurant fehlt hier zwar, doch gibt es eine andere Ergänzung. Denn mag man früher auch als Reisender durch diese Tür den Bahnhof betreten haben, so verkündet die Aufschrift auf dem der Tür vorgelagerten Baldachin in großen Lettern nun, wohin man heute gelangt, wenn man sie durchschreitet. HOTEL ist dort zu lesen. Die drei Sterne über dem Buchstaben in der Mitte des Wortes machen deutlich, daß es sich durchaus um ein Etablissement mit Anspruch handelt. Unmittelbar vor diesem Haupteingang sind auch die beiden deutlichsten Hinweise darauf zu finden, daß dies hier einst ein Bahnhof war: ein intaktes Formsignal mit einem schräg nach oben ragenden Flügel, der der darunter auf einem Gleisfragment aufgestellten kleinen Diesellokomotive vom Typ Kö II des Herstellers Krupp freie Fahrt anzeigt – ein Hinweis, der angesichts des direkt vor der Lok aufgestellten Prellbocks etwas ironisch wirkt.
Ein Hotel also. Da ergeht es diesem alten Bahnhofsgebäude definitiv besser als manch anderem seiner Geschwister an den Bahnstrecken in ganz Deutschland, die man mittlerweile stillgelegt hat, um lieber die Kosten und Profite zu optimieren als die der Bevölkerung zur Verfügung gestellten Verkehrsverbindungen. Und selbst an Bahnstrecken, die noch in Betrieb sind, verfallen viele der einst stolzen Bahnhofsgebäude, weil ihre Erhaltung Geld kosten und so die genannten Profite schmälern würde. Dieser alte Bahnhof hingegen sieht ausgesprochen gepflegt und gut erhalten aus.
Daß hier ein Zug hielt, ist schon viele Jahre her. Die Geschichte der hiesigen Eisenbahn begann im Jahre 1888, als man zwischen Velgast und Barth eine neu geschaffene Zugverbindung in Betrieb nahm. Weil jedoch die Zahl der Badegäste, die des Sommers in die hiesigen Ostseebäder strömten, stetig zunahm, entschloß man sich zwanzig Jahre später, die Strecke über Zingst bis nach Prerow zu verlängern. Bereits nach nur zwei Jahren Bauzeit ging die sogenannte Darßbahn in Betrieb. Sie war ein überwältigender Erfolg. In kürzester Zeit mußten die Dampfschifflinien, die bis dahin das Monopol auf die Verkehrsverbindung zum Festland hatten, ihren Betrieb einstellen. Mit der Eisenbahn und deren unbestreitbarem Vorteil, ihren Betrieb auch im Winter uneingeschränkt aufrechterhalten zu können, waren sie nicht in der Lage zu konkurrieren. Jahr für Jahr erreichte die Darßbahn steigende Fahrgastzahlen.
Das Sturmhochwasser von 1913, das die Strecke beschädigte, und der kurz darauf Europa verheerende Erste Weltkrieg sorgten dann jedoch für einen großen Einbruch, von dem sich die Bahn auch in den 1920er Jahren nicht so recht erholen konnte, als Deutschland von verschiedenen ökonomischen Krisen heimgesucht wurde. Erst die dreißiger Jahre brachten wieder einen Aufschwung, mit dem die Darßbahn an ihre einstige Bedeutung, die sie vor dem Ersten Weltkrieg hatte, anknüpfen konnte.
Der Zweite Weltkrieg brachte mit seinen Folgen schließlich das Ende der Darßbahn. Zwar überstand die Strecke die Kriegshandlungen weitestgehend unbeschädigt, doch wurde der Abschnitt zwischen Prerow und Bresewitz kurz nach Kriegsende abgebaut. Die Gleise hatten als Reparationsleistung für die Sowjetunion zu dienen. Seitdem ist in Prerow kein Zug mehr gefahren. Nur wenige Jahre später kam dann auch der Zugverkehr zwischen Barth und Bresewitz endgültig zum Erliegen, als dieser Streckenabschnitt das Schicksal des ersten teilte. Seitdem können Fahrgäste mit der Eisenbahn nur noch bis Barth fahren, so wie auch ich es bei meiner Anreise vor einigen Tagen getan hatte. In den 1960er Jahren baute man zwar die Strecke bis Bresewitz wieder auf, doch blieb sie der Nationalen Volksarmee der DDR vorbehalten, die sie zur Versorgung ihres Stützpunktes auf der Halbinsel Zingst nutzte. Das Ende der DDR bedeutete dann allerdings das endgültige Aus jeglichen Eisenbahnverkehrs ab Barth.
Heute besteht die Trasse der einstigen Darßbahn noch immer, wenn auch auf den verschiedenen Abschnitten in stark unterschiedlichem Zustand. Teils liegen noch Gleise, teils wird sie als Radweg genutzt. Zwischen Zingst und Prerow ist sie hingegen kaum noch wahrnehmbar. Die Bahnhofsgebäude wurden in den 2000er Jahren saniert. Dies diente jedoch nicht etwa einer Wiederinbetriebnahme der Strecke, sondern lediglich der Vorbereitung des anschließenden Verkaufs an Privatleute. Aus diesem Grunde ist der alte Bahnhof Prerow heute ein Hotel.
Wie lange dieses noch Bestand haben wird, ist heute allerdings durchaus fraglich. Im Jahre 2002 hatte nämlich die Usedomer Bäderbahn den Personenverkehr zwischen Velgast und Barth übernommen. Seitdem haben Überlegungen zur Wiederherstellung der Darßbahn mehr und mehr an Gestalt gewonnen. Doch wie bei so ziemlich allem, was im heutigen Deutschland unter Beteiligung der öffentlichen Hand in Angriff genommen wird, mahlten die Mühlen der Bürokratie unendlich langsam. Es dauerte bis zum Jahr 2020, daß die Wiedererrichtung der Strecke von Barth über Zingst nach Prerow schließlich wenigstens beschlossen wurde. Man rechnet momentan mit einer Bauzeit bis 2028. Ich vermute jedoch, daß es wesentlich länger dauern wird, denn auf meiner Busfahrt von Barth nach Prerow im Zuge meiner Anreise, die ein großes Stück parallel zur einstigen Trasse der Darßbahn vonstattenging, konnte ich absolut nirgends auch nur den kleinsten Anschein von im Gange befindlichen Bauarbeiten erkennen. Wahrscheinlich hat man bisher noch nicht einmal damit begonnen. So wird wohl auch das Hotel im Alten Bahnhof von Prerow noch einige Jahre vor sich haben.
Zwar liegt die Abfahrt meines Schiffes noch immer in komfortabler zeitlicher Entfernung, doch gibt es hier nicht viel mehr Interessantes zu sehen. So mache ich mich auf den Weg zum Hafen. Vielleicht kann ich mich ja dort noch ein wenig umschauen. Im Weggehen werfe ich noch einen Blick hinter das alte Bahnhofsgebäude, wo sich einst der Bahnsteig mit den Gleisen befunden haben muß. Nach meinem Eindruck ist er noch vage zu erkennen, auch wenn das Gelände heute vollständig grasbewachsen und mit einem Spielplatz versehen ist. Sollte hier in Zukunft jemals wieder ein Zug verkehren, werde ich ganz sicher einmal an diesem Bahnhof aus einem aussteigen. Vorausgesetzt natürlich, das geschieht noch zu meinen Lebzeiten. In Deutschland weiß man ja nie…
Gute fünf Minuten später bin ich am Hafen angekommen. Gerade als ich von der Straße abbiege, um zu dem kleinen Kai zu gelangen, an dem zwei Schiffe angelegt haben, wird bei dem ersten der beiden der Zugangssteg eingezogen. Langsam setzt es sich in Bewegung, wobei sich zwischen Schiffsrumpf und Kai eine stetig größer werdende Lücke auftut. Um dort mitzufahren, bin ich definitiv zu spät dran. Glücklicherweise hatte ich das gar nicht vorgehabt. Genaugenommen hatte ich nicht einmal damit gerechnet, dieses Schiff hier noch anzutreffen, denn meinen am Abend vorher in Erfahrung gebrachten Informationen zufolge sollte es eigentlich bereits seit gut zehn Minuten unterwegs sein. Offenbar läßt man sich hier Zeit. Doch warum auch nicht? Schließlich geht es ja nur um eine Ausflugsfahrt und nicht um einen Fährbetrieb.
Das Schiff entfernt sich zusehends vom Ufer, wendet und nimmt, als es die Mitte des Stroms erreicht hat, Fahrt auf. MS Ostseebad Prerow kann ich an seiner Seite lesen. Dem Aufsteller neben seinem Liegeplatz am Kai entnehme ich, daß es von der Reederei Rasche betrieben wird. Von moderner Bauart, macht es einen durchaus schnittigen Eindruck. Als Passagier hat man, soweit ich es von hier aus sehen kann, die Wahl, ob man im unteren Fahrgastraum oder oben auf dem Sonnendeck sitzen möchte. Wie es scheint, haben sich die meisten der an Bord befindlichen Fahrgäste für die zweite Möglichkeit entschieden, was angesichts des momentan absolut wolkenlosen blauen Himmels und der strahlenden Sonne nicht verwundert. Eine Fahrt auf diesem Schiff wäre sicher angenehm gewesen, doch hatte ich mich bereits am Abend zuvor für die Tour mit der MS Baltic Star entschieden, die eine Stunde später abfahren soll. Der Grund ist ebenso einfach wie kitschig: bei der Baltic Star, die von der Konkurrenzreederei Poschke betrieben wird, handelt es sich um einen Schaufelraddampfer.
Nun ist es nicht so, daß Schaufelraddampfer im Stil nordamerikanischer Flußschiffe hier in Prerow eine besonders ausgeprägte Tradition hätten. Genaugenommen ist der Prerower Strom, wie ich bereits weiß, nicht einmal ein Fluß. Auch findet man heute auf vielen Flüssen in Deutschland, die Schiffahrt ermöglichen und wo man sich mit Urlaubern ein gutes Geschäft versprechen darf, derartige Schaufelraddampfer mit ihren übereinanderliegenden, mit balustradenartigen Geländern versehenen charakteristischen Oberdecks und den beiden nach oben hin in gezackten Kronen auslaufenden Schornsteinen, aus denen man jedoch kaum einmal Rauch aufsteigen sieht, denn das Heizen mit Kohle wäre in heutigen Zeiten kaum noch wohlgelitten, erst recht nicht in einem Nationalpark wie dem hiesigen Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Und doch sind diese historisierenden Schiffe bei den Urlaubern stets außerordentlich beliebt, muß man doch auf diese Weise nicht bis nach Amerika und erst recht nicht in der Zeit zurückreisen, um sich einmal wie auf einem großen Flußdampfer auf dem Mississippi in den Südstaaten der USA des 19. Jahrhunderts zu fühlen. Ich bilde da keine Ausnahme. Unwillkürlich kommen mir die Digedags in den Sinn, jene von Hannes Hegen erdachten Helden der Mosaik genannten Comicreihe, die mich in meiner Kindheit und Jugend begleitet haben und in deren ersten Ausgaben der Amerika-Serie ich ein Wettrennen zwischen zweien dieser Mississippi-Dampfer hautnah miterleben konnte. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich diese Geschichten schon gelesen habe. Auch heute noch nehme ich sie immer wieder einmal aus dem Schrank und vertiefe mich für einen Abend oder zwei in die Welt der Digedags, die in den verschiedensten Teilen der Erde zu den unterschiedlichsten Perioden der Weltgeschichte, ja sogar in der Zukunft im Weltraum ihre Abenteuer erleben – und damals wie heute meine Phantasie beflügeln. So ist es für mich kein Wunder, daß ich, als ich tags zuvor von diesem Dampfer erfuhr, ohne groß nachzudenken entschied, daß meine heutige Ausflugsfahrt in den Bodden mit ihm stattzufinden hätte.
Doch noch habe ich eine gute Dreiviertelstunde Zeit bis zur Abfahrt. Die nutze ich nun, um mich ein wenig im Umfeld des Hafens umzusehen. Über ihn selbst ist nicht allzu viel zu sagen. Betritt man so wie ich den Hafenbereich von der Straße aus, gelangt man unmittelbar an den Kai für die Fahrgastschiffe. Von hier aus brechen die Schiffe zu den Boddenfahrten auf, doch auch Fähren legen hier an, die Prerow zu Wasser mit Born und Bodstedt verbinden. Während man ersteres noch gut auch per Straße erreichen könnte, erforderte dies für letzteres schon eine recht weite Umfahrung des Bodstedter Boddens. Auf der dem Kai gegenüberliegenden Seite des Stroms ist dessen Ufer dicht mit Schilf bestanden. Dort stehen drei alte Holzhäuser mit charakteristischen Reetdächern, in deren Rücken die Straße vorüberführt. Den ihnen beigegebenen Stegen mit den daran vertäuten Ruderbooten nach zu urteilen, sind diese kleinen Fischerhütten heute noch in Benutzung.
Das Ende des Kais bedeutet jedoch nicht das Ende des Hafens, wie ich feststellen kann, als ich dort angekommen bin. Vor mir sehe ich nun die ausgedehnte Wasserfläche des Stroms, der, so liest man häufiger, hier am Hafen endet. Tatsächlich stimmt das, wie ich bereits weiß, nur zum Teil, war doch der Prerower Strom einst mit der Ostsee verbunden und wurde erst nach der großen Sturmflut des Jahres 1872 von dieser getrennt. Reste des Stroms sind allerdings auch heute noch jenseits der am Hafen vorüberführenden Straße vorhanden, wo sie wie kleine, aneinandergereihte Seen wirken. Die beiden Gewässer links und rechts des Hauptübergangs, die das Zentrum des Ortes vom Dünenwald trennen, gehören dazu.
Die vor mir liegende Wasserfläche wird zu beiden Seiten von schilfbewachsenen Ufern eingefaßt, von deren rechtem – dasjenige, an dem ich mich befinde – drei große Stege bis fast zur Mitte des Stroms hinausragen, die von jeder Menge Pfählen gesäumt werden. Sie markieren die fast sechzig Liegeplätze für jede erdenkliche Art von Booten. Jetzt in der Vorsaison ist jedoch noch kein einziger belegt, was mir einen ungehinderten Blick auf die Landschaft rings um den Strom gewährt. Nur ganz hinten, nahe dem Horizont, zieht ein Schiff einsam seine Bahn den Strom entlang. Es ist eben jenes, das seine Fahrt begonnen hatte, als ich am Hafen eintraf.
Ich wandere ein Stück den vom Kai wegführenden Uferweg entlang, der mich hinter dem Schilf zu den Stegen bringt. Dabei entdecke ich eine hier aufgestellte große Informationstafel, die sich vornehmlich an die Wassersportler und -wanderer richtet, denen sie Verhaltensregeln und Hinweise für die Befahrung der Boddengewässer vermittelt. Für mich ist sie jedoch trotzdem interessant, da sie auch eine Karte der gesamten Boddenlandschaft des hiesigen Nationalparks zeigt und die einzelnen Gewässer, die bis hinüber zur Insel Rügen reichen, näher beschreibt. So erfahre ich beispielsweise, daß die Fischland, Darß und Zingst vom Festland trennenden Wasser von insgesamt vier verschiedenen Bodden gebildet werden. Ganz am Ende der Kette liegt der Saaler Bodden, an dessen südlicher Spitze sich die Stadt Ribnitz-Damgarten befindet. Mit seinen ausgedehnten Sandbänken bietet er wichtige Nahrungsgründe für viele Arten von Entenvögeln. Brandgänse, Löffelenten und Krickenten sind nur einige der Artenbezeichnungen, die ich noch nie zuvor gehört habe.
Auf den Saaler Bodden folgt, mit ihm durch den sogenannten Koppelstrom verbunden, der Bodstedter Bodden, der das Ziel meiner heutigen Fahrt sein soll. Die Tafel verrät mir, was ich zu sehen bekommen werde: Bülten und Haken. Und bevor ich beginnen muß zu rätseln, was das wohl sein möge, wird es mir auch erklärt. Bülten sind Inseln, Haken Halbinseln. Beide sind sie flach, bestehen aus Torf und säumen die Randbereiche des Boddens. Hier haben sie Salzgras und Brackwasserröhricht die Möglichkeit geboten, sich im Übergangsbereich vom Land zum Wasser anzusiedeln, so daß sich Moore gebildet haben, die teilweise schon recht alt sind – ein einzigartiger Lebensraum, in dem eine Vielzahl verschiedener Arten Wasservögel seine Brutgebiete gefunden hat.
Der Bodstedter Bodden hatte einst eine direkte Verbindung zur Ostsee – den Prerower Strom. Über die Meerenge Meiningen gelangt man vom Bodstedter Bodden in den Zingster Strom und zum östlich gelegenen Barther Bodden. Dieser ist vergleichsweise flach und reich an Fischen, was sowohl Wasservögeln als auch Menschen eine gute Lebensgrundlage gewährt. So ist es kein Wunder, daß die beiden Boddeninseln Kirr und Barther Oie sich zu regelrechten Vogelbrutgebieten entwickelt haben. Über sechzig verschiedene Arten sollen es sein, die hier nisten. Darüberhinaus dient dieses Gebiet Kranichen auf ihren Zügen als Rastplatz. Besonders im Herbst, wenn sie mit ihren Nachkommen unterwegs sind, halten sich die Kraniche hier länger auf und können zu dieser Zeit sehr gut beobachtet werden.
Die Kavelnrinne führt vom Barther Bodden in den Grabow, der sich noch weiter im Osten befindet und das einzige dieser flachen Gewässer ist, das auf den Begriff Bodden in seinem Namen verzichtet. Vielleicht liegt der Grund darin, das er der Ostsee am nächsten gelegen ist und so den Übergang zu ihr bildet. Dieser wird von zwei größeren Inseln, dem Großen und dem Kleinen Werder, versperrt, die den Kranichen auf ihrem Herbstzug als Rastplatz dienen. Zehntausende dieser Vögel übernachten dann hier, die es zu würdigen wissen, daß sie auf diesen Inseln vor dem Zugriff von Füchsen sicher sind. Der Grabow ist mit vier Metern in seinem Zentrum recht tief, seine Randbereiche weisen allerdings ausgedehnte Areale auf, in denen das Wasser recht flach ist. Sie wurden von Salzwasserfischen wie dem Hering zu ihrem Laichgebiet erkoren. Wegen des geringen Salzgehalts der Boddengewässer haben jedoch auch Süßwasserfische wie Hechte und Zander hier Räume für ihre Fortpflanzung gefunden.
Zur Boddenlandschaft im Nationalpark gehören der Tafel zufolge auch der Wieker und der Kubitzer Bodden, die sich jedoch schon im Einzugsgebiet der Insel Rügen befinden und somit nicht mehr Teil der Fischland, Darß und Zingst vom Festland trennenden Wasserlandschaft sind.
Ich spaziere weiter am Ufer entlang, inspiziere die Stege des Hafens aus nächster Nähe und stoße auf ein kleines Häuschen, in dem die Besitzer der im Hafen anlandenden Schiffe solch wichtige Einrichtungen wie ein WC, eine Dusche oder eine Waschmaschine finden können. Zu dieser Zeit des Jahres scheint es allerdings geschlossen zu sein, was aber nicht weiter schlimm ist, denn es liegt ja auch kein Boot im Hafen vor Anker. Über das Schilf hinweg kann ich zur anderen Seite des Stroms blicken, wo ich nun das Gebäude des alten Prerower Bahnhofs mit seiner Bahnsteigseite direkt vor mir habe. Ich stelle mir die rauchende und fauchende Dampflok an der Spitze eines Zuges vor, wie sie dort mit den hinter ihr aufgereihten Waggons am Bahnsteig steht und ungeduldig darauf wartet, daß es endlich losgeht. Vielleicht ist es ja in nicht allzu ferner Zukunft wieder soweit. Nur eine Dampflokomotive wird es dann wohl nicht mehr sein, die die Waggons hinter sich herzieht…
Als der Weg an einem geschlossenen Bootsverleih schließlich endet, wende ich mich landeinwärts, wo hinter einer Wiese ein vergleichsweise niedriger Deich verläuft, hinter dem sich ein paar Häuser befinden. Es ist dies der einzige östlich der Landstraße, die die Orte von Fischland, Darß und Zingst verbindet, gelegene Ortsteil Prerows, der den schönen Namen Krabbenort trägt. Wie mir scheint, besteht er vornehmlich aus Einfamilien- und Ferienhäusern.
Ein Blick auf die Uhr belehrt mich, daß ich mich nun besser auf den Rückweg machen sollte, will ich die Abfahrt nicht verpassen. So wandere ich den schmalen Pfad auf der Deichkrone entlang zurück zum Kai. Dort angekommen, stelle ich fest, daß der Zugangssteg zum Dampfer bereits ausgelegt ist. So zögere ich nicht länger, gehe hinüber und betrete das Schiff.
Gleich am Eingang steht ein Mann neben einem Tisch, auf dem er eine kleine Kiste stehen hat, die sehr an das Aufbewahrungsbehältnis erinnert, das in Piratenfilmen gewöhnlich für Schätze verwendet wird. Sollte ich mich über dieses Utensil gewundert haben, wird mir sein Zweck sofort klargemacht, denn um weiter in das Schiffsinnere vordringen zu dürfen, muß ich erst einmal den Fahrpreis entrichten. Das von mir dafür übergebene Geld landet – wie sollte es auch anders sein – unverzüglich in der Schatzkiste. Dafür erhalte ich ein kleines Stück Papier, dessen Besitz es mir gestattet, mich frei auf dem Schiff zu bewegen. Das nutze ich auch gleich weidlich aus, um die nächstgelegene Treppe aufzusuchen und ins obere Deck hinaufzusteigen. Dort gibt es im Heckbereich einige Bänke, doch halte ich mich nicht weiter auf, denn mein Ziel liegt noch eine Etage höher. Eine weitere Treppe bringt mich hinauf. Auf dem obersten Deck angekommen, schaue ich mich um. Zwei Reihen Tische und Bänke, aufgereiht an den die Längsseiten des Decks begrenzenden Geländern, dazwischen ein langer schmaler Gang – das ist alles. Das hintere Ende bildet die Treppe, am vorderen ragen die beiden großen Schornsteine mit ihren Zackenkronen in die Höhe. Zwischen ihnen spannt sich ein bogenförmiges Schild, dessen roter Grund blaue, weiß umrandete, in Westernschrift gehaltene Buchstaben zeigt, die den Namen des Schiffes verkünden: Baltic Star. Darüber prangt in der Mitte das Logo der diesen Ostsee-Stern betreibenden Reederei Poschke, eine an einen schwarzen Stab geknüpfte blaue Flagge mit vier weißen Sternen in jeder Ecke und einem in der derselben Farbe gehaltenen Anker in der Mitte, über dem die ebenfalls weißen Buchstaben R und P zu sehen sind. Von den Schornsteinen bis zum hinteren Ende des Decks hat man entlang dessen Längsseiten jeweils eine Kette gespannt, die aus Glühlampen besteht, zwischen denen blaue und weiße Wimpel fröhlich im Winde flattern.
Die Tische sind nahezu alle noch leer. Nur ganz vorn hat sich bereits ein Pärchen plaziert, das jedoch völlig mit sich selbst beschäftigt ist und mich gar nicht beachtet. Ich suche mir einen Tisch auf der linken Seite und zwänge mich auf eine der beiden Bänke, die man, um möglichst viele Plätze auf dem Deck unterbringen zu können, recht nah am Tisch positioniert hat. Glücklicherweise bin ich schlank genug, um ohne größere Probleme dorthin zu passen. Ich lege meinen Rucksack auf die Bank neben mich, lehne mich zurück und harre der Dinge, die da kommen mögen.
Das sind zunächst ein paar weitere Leute. Nach und nach treffen sie ein, suchen sich einen Platz und setzen sich. Trotz der Vorsaison sind es doch schon ansehnlich viele, auch wenn das Schiff noch weit entfernt davon ist, mit Fahrgästen gefüllt zu sein. Ich beachte sie jedoch nicht weiter, denn ich bin damit beschäftigt, mir von hier oben die Gegend anzusehen und die Sonne zu genießen, die ihre wärmenden Strahlen zu uns herunterschickt. Es ist so warm, daß ich die Jacke ablegen kann.
Minute um Minute vergeht, die Abfahrtszeit rückt näher und näher – und ist schließlich vorüber. Auch auf meinem Schiff hat man es offensichtlich nicht sonderlich eilig. Mich stört das allerdings wenig, denn mir geht es nicht anders. Gute zehn Minuten später ist es dann endlich soweit. Die Maschinen werden angeworfen, was eine Welle der Erschütterung durch den Schiffskörper schickt, die bis hier oben hin zu spüren ist und mir einen wohligen Schauer der Erwartung durch den Körper laufen läßt. Ich kann förmlich spüren, wie sich das am Heck befindliche Schaufelrad in Bewegung setzt und das Wasser aufwühlt. Langsam entsteht wieder eine Lücke zwischen Schiff und Kai, die größer und größer wird, und als unser Dampfer genug Abstand zwischen sich und das Ufer gebracht hat, nimmt er schließlich Fahrt auf und steuert den vom Hafen wegführenden Strom an. Wir sind unterwegs.
Zunächst geht es in einem Bogen ein Stück in Richtung Norden. Links ziehen Wiesen vorüber, auf denen sich einige Graugänse tummeln. Dahinter liegt der alte Bahnhof. Gerade als wir ihn passiert haben, gewahre ich neben uns eine weitere Wasserfläche, die sich ein Stück voraus mit dem Strom, auf dem wir unterwegs sind, vereinigt. Freundlicherweise erhalten wir Fahrgäste vom Schiffsführer über die Lautsprecheranlage Erklärungen zu dem, was wir an den beiden Ufern zu sehen bekommen. Aus diesen überaus unterhaltsam vorgetragenen Informationen erfahre ich, daß ich den alten Bootshafen vor mir sehe. Da dieser mit der Zeit zu klein geworden war, hat man vor einiger Zeit den neuen errichtet, an dessen Ufer ich vorhin entlangspaziert war.
Wir haben die erste große Kurve unserer Fahrt nahezu vollendet und sehen vor uns eine bewaldete Erhebung, einen Hügel, der angesichts des hiesigen sonst sehr flachen Landes ausgesprochen hoch wirkt. Es handelt sich um die Hohe Düne. Die auffällige Höhe wirkt, wenn man sie mit einer Zahl benennt, gar nicht mehr so beeindruckend, sind es doch gerade einmal dreizehn Meter, die sie mißt. Und doch, verglichen mit der Umgebung hat die Hohe Düne ihren Namen redlich verdient. Und tatsächlich handelt es sich um eine Ausformung der dem Ostseestrand vorgelagerten Sanddünen.
Wir sind jetzt wirklich genau in Richtung Norden unterwegs, und angesichts der sich nähernden Dünen könnte man tatsächlich meinen, wir wollten auf direktem Wege in die Ostsee fahren. Doch der Prerower Strom nähert sich ihr hier nur an und beschert so der einstigen Insel und heutigen Halbinsel Zingst ihre schmalste Stelle, an der das Land zwischen Strom und Ostsee gerade einmal einhundert Meter breit ist.
Der Prerower Strom beschreibt nun einen weiten Bogen, zuerst in Richtung Osten und dann zurück nach Süden, bis wir wieder auf der Höhe des Prerower Hafens angekommen sind. Nun geht es, sieht man einmal von gelegentlichen Schlenkern ab, ununterbrochen in südöstlicher Richtung gen Bodden.
Die Fahrt verläuft ruhig und lädt dazu ein, sich zurückzulehnen und einfach nur nach links und rechts über das weite Land zu schauen. Allerdings ist es, seit wir unterwegs sind, nun nicht mehr so warm wie noch im Hafen. Obwohl unser Schiff gewiß nicht mit rasender Geschwindigkeit unterwegs ist, macht sich der Wind deutlicher bemerkbar. Das mag auch daran liegen, daß wir nun nicht mehr Häuser neben uns haben, die ihn bremsen könnten, sondern sich zu beiden Seiten des Stroms unbebautes Land erstreckt, das ihm kaum einmal ein Hindernis entgegenstellt. Schnell wird es, da ich mich selbstredend kaum bewege, kühl, ein Umstand, dem ich jedoch mit dem Wiederanziehen meiner zuvor abgelegten Jacke abhelfen kann.
Die Landschaft um mich herum ist wunderschön. Links zieht das Ufer der Halbinsel Zingst an mir vorüber. Es wird nahezu ununterbrochen von einem breiten Schilfstreifen gesäumt, hinter dem uns ein kleiner Deich begleitet, der jede Biegung des Stroms nachvollzieht. Vereinzelt ragen einige Bäume auf, die jetzt im April noch keine Blätter hervorgebracht haben und daher schwarz und kahl in die Luft ragen; ein deutliches Zeichen der noch anhaltenden Winterruhe. Hinter dem Deich dehnen sich weite Wiesen und Felder, die von Waldstreifen begrenzt und immer wieder von Prielen und Fließen durchzogen werden. Einige davon mögen natürlichen Ursprungs sein, viele jedoch hat man im Laufe der Jahrhunderte künstlich angelegt. Dafür spricht allein schon ihr teils sehr regelmäßiger Verlauf. Soweit ich das erkennen kann, sind viele dieser Gräben beeindruckend parallel zueinander angelegt. Weil jetzt, im beginnenden April, der Frühling zwar schon angebrochen ist, aber sein wiederbelebendes Werk in der Natur noch nicht so recht begonnen hat, sind die vorherrschenden Farbtöne alle mehr oder minder Schattierungen von Braun, sieht man einmal von den Wasserflächen ab. Der Schönheit der Landschaft tut das jedoch keinen Abbruch.
Auf der rechten Uferseite, die zum Darß gehört, sieht es ganz ähnlich aus. Da hier jedoch der begrenzende Wald fehlt, reicht der Blick beeindruckend weit in die Ferne. Dort ist hinter dem Land eine große Wasserfläche zu sehen – der Bodstedter Bodden, das Ziel unserer Fahrt. Auch hier sind immer wieder Gräben zu erkennen, die teils wie mit dem Lineal gezogen wirken. Und da ich mich hier auf dem zweiten Oberdeck doch beträchtlich weit über dem Bodenniveau befinde, kann ich bei einem Blick voraus bereits weitere Schleifen des Stroms, auf dem wir unterwegs sind, ausmachen. Über all dem wölbt sich ein strahlend blauer Himmel, der hier und da mit weißen Wölkchen getupft ist und an dem die Sonne hell leuchtet. Ihre Strahlen spiegeln sich in der vom Wind gekräuselten Oberfläche des Stroms, die sie zum Glitzern bringen. Und die Wasserfläche des noch weit entfernten Boddens gleißt und blitzt, als bestünde sie aus flüssigem Silber. Die Luft ist ausgesprochen klar, was ein ausgesprochenes Glück ist, weil sich daraus eine überaus gute Fernsicht ergibt. Bis zum Horizont sind jegliche Konturen von Landschaft, Gewässern und auch Ortschaften gestochen scharf umrissen.
Gerade durchmessen wir eine weitere Schleife des Stroms, da teilt uns der Kapitän unseres Schiffes mit, daß wir auf der linken, der Zingster Seite nun an der Hertesburg vorüberfahren. Es war dies im Mittelalter eine burgähnliche Befestigungsanlage, die die Rügenfürsten hier hatten errichten lassen, um das Gebiet und insbesondere den Prerower Strom als Zugang von den Boddengewässern zur Ostsee militärisch kontrollieren zu können. Natürlich war Geld die maßgebliche Motivation, denn hier wurden Zölle erhoben. Die Hertesburg diente den Rügenfürsten auch als Jagdschloß und Vogteisitz. Später übernahmen sie die pommerschen Herzöge. Die Anfänge der Anlage reichen bis in das späte 13. Jahrhundert zurück. Auf einem Hügel gelegen, besaß sie einen Durchmesser von etwa dreißig Metern. Ihre Befestigungen sollen etwa zwei Meter hoch gewesen sein. Davor lag ein sechzehn Meter breiter Ringgraben, auf den ein Wall folgte. Weitere Schutzwälle schlossen sich an. Natürlich gab es auch einen Turm. Im sechzehnten Jahrhundert sollen seine Mauern sagenhafte drei Meter dick gewesen sein. Der Sage zufolge soll der Seeräuber Klaus Störtebeker hier mit seinen Gefährten einen Unterschlupf besessen haben. Das wird allerdings von vielen Orten an der Ostsee behauptet, so daß es fraglich ist, ob es wirklich stimmt. Daß hier allerdings Seeräuber ihr Unwesen trieben, gilt als sicher. Kriege haben der Anlage zugesetzt. Im sogenannten Rügenschen Erbfolgekrieg belagerten mecklenburgische Truppen sie gleich mehrfach, bis ihnen schließlich die Einnahme gelang. Der Dreißigjährige Krieg bedeutete schließlich das Ende der Burg. Danach waren ihre über der Erde gelegenen Bauten weitestgehend verschwunden. Nur der Wall und der Graben blieben übrig. Da der Hügel, auf dem sich die Burg einst befand, heute weitgehend mit Bäumen bewachsen ist, läßt sich außer diesen vom Schiff aus nichts erkennen. Lediglich eine hölzerne Kapelle mit Reetdach, errichtet im Jahre 1927, steht heute noch auf dem Gelände, ist aber von hier aus natürlich ebenfalls nicht zu sehen.
Wir lassen die Hertesburg links liegen und fahren weiter. Rechts von uns zieht etwas abseits vom Prerower Strom ein kleines Gewässer vorüber. Es wirkt auf mich ein wenig wie das Überbleibsel der letzten größeren Überschwemmung oder der Rest vom letzten Starkregen. Damit liege ich falsch, denn die übergroße Pfütze, wie ich sie in Gedanken etwas despektierlich nenne, hat sogar einen Namen: Lychensee. Viel mehr läßt sich über ihn allerdings nicht sagen. Die in dieser Gegend heimischen Wasservögel finden ihn und seine unmittelbare Umgebung jedoch durchaus ansprechend, wie mir scheint, denn zwischen ihm und dem Strom, auf dem wir unterwegs sind, tummelt sich eine erheblich Anzahl Graugänse.
Bereits eine Weile schon ist mir, wenn ich in Richtung des Bodstedter Boddens blicke, am Himmel ein dort kreisender Schwarm aufgefallen. Aus der großen Entfernung war allerdings bis dato nicht zu erkennen gewesen, um welche Tiere es sich dabei handeln könnte. Zwar spricht in dieser Gegend einiges dafür, daß wir es sicher mit Vögeln zu tun haben würden und nicht etwa mit Heuschrecken, doch welcher Art diese Vögel sind, hatte ich bisher nicht feststellen können. Nun allerdings, da wir uns dem Bodden immer weiter genähert hatten, beschließen die den Schwarm bildenden Tiere offenbar, sich einmal genauer anzusehen, was sich denn da auf dem Strom für ein merkwürdiges Etwas nähert, und kommen zu uns herübergeflogen.
Leider behalten sie dabei ihre relativ große Flughöhe bei, so daß es mir trotzdem verwehrt bleibt, sie zu identifizieren. Einem Ornithologen mag es möglicherweise anhand der Silhouette der Flügel oder mittels des Flugbildes ohne weiteres gelingen, das zu bewerkstelligen, mir jedoch fehlt dazu dann doch das erforderliche Fachwissen. So begnüge ich mich damit, den Schwarm eine Weile zu beobachten. Es ist bewundernswert zu sehen, wie sich in dem anfangs recht chaotisch wirkenden Gebilde bei aller Bewegung doch eine gewisse Ordnung bemerkbar macht. Kein Vogel kreuzt unbeabsichtigt eines anderen Flugbahn, und alle orientieren sie sich aneinander und fliegen letztendlich trotz gelegentlicher Abweichungen und einer steten Veränderung der Gestalt des Schwarms in die gleiche Richtung.
Der Kapitän nimmt dies zum Anlaß, seinen Passagieren ein wenig über die hiesige Vogelwelt zu erzählen. Ich kann mir die vielen verschiedenen Arten, die er im Laufe seiner Ausführungen aufzählt, so schnell gar nicht alle merken. Allerdings bleibt mir zumindest eine im Gedächtnis, da wir das große Glück haben, einen ihrer Vertreter kurz darauf unmittelbar über unserem Schiff beobachten zu können: einen Seeadler. Und obwohl auch er in großer Höhe fliegt, bin ich von seinen mächtigen Flügeln, mit denen er mühelos eine Spannweite von mehr als zwei Metern erreicht, angemessen beeindruckt.
Kaum habe ich schließlich meinen Blick wieder vom Himmel ab- und der Erde um mich herum zugewandt, werden wir von unserem wachsamen Kapitän, der nicht nur den Strom und die Fahrrinne, sondern auch die Umgebung stets im Auge behält, um uns auf Interessantes hinweisen zu können, darauf aufmerksam gemacht, daß es sich lohne, einmal nach links auf die sich dort dehnenden Wiesen zu schauen. Ich folge seiner Aufforderung und – entdecke zunächst nichts. Angestrengt suche ich das Ufer ab, kann jedoch weiterhin nichts ausmachen, was der eingehenderen Beobachtung lohnt. Erst als ich mich erinnere, daß ich ja nicht auf den Rand des Stroms, sondern auf die dahinterliegenden Wiesen schauen sollte, werde ich gewahr, was es dort zu sehen gibt: einen Kranich! Seelenruhig und völlig unbeeindruckt von uns und unserem stampfenden Schiff stolziert er mit seinen langen, staksigen Beinen auf dem Feld herum. Sein Gefieder, dessen Färbung von tiefem Schwarz am Schwanz über dunkleres und helleres Grau am Körper bis zu strahlendem Weiß am Hals reicht, hebt sich in scharfem Kontrast von dem Grün-Braun der noch nicht so recht wieder zu neuem Leben erwachten Felder ab. Ein kleines Weilchen bewegt er sich in die gleiche Richtung wie wir. Ob es ihm schließlich zu bunt wird, von so vielen Leuten angestarrt zu werden, oder ob er voraus irgendetwas ihn Interessierendes entdeckt hat, ist für mich nicht recht erkennbar, als er plötzlich beginnt, in schnellem Tempo loszurennen, um sich kurz darauf, mit den Flügeln schlagend, in die Luft zu erheben und in niedriger Höhe über dem Feld davonzufliegen. Es dauert nicht lange, da ist er meinen Blicken entschwunden.
Der Prerower Strom, der seit seiner letzten Schleife ein ganzes Stück mehr oder weniger stur geradeaus geführt hat, legt sich nun in eine große S-Schleife, deren beide Bögen fast perfekte 180-Grad-Wenden vollführen. Mit dem Ende des ersten Bogens haben wir dabei das Mündungsgebiet des Stroms in den Bodstedter Bodden erreicht, das die Form eines Deltas mit mehreren kleinen Inseln angenommen hat, die als Schmidtbülten bezeichnet werden. Als die Verbindung zur Ostsee noch bestand, strömte bei starken, vom Meer zum Land wehenden Winden Wasser durch den Strom, das viele Sedimente mit sich führte, die hier abgelagert wurden und im Laufe der Zeiten die Inseln aufschütteten. Mit der Trennung des Prerower Stroms von der Ostsee ist dieser Prozeß allerdings vollständig zum Erliegen gekommen.
Die kleinen Inseln mit ihren reichhaltig mit Schilf bewachsenen Ufern bilden für die zahlreichen hier ansässigen Wasservögel den idealen Lebensraum, was ich sozusagen mit eigenen Augen wahrnehmen kann, denn nirgends sonst habe ich zuvor derart viele Schwäne, Enten, Möwen, Bleßhühner und andere Arten des gefiederten Volkes versammelt gesehen. Sie schwimmen munter in den verschiedenen Seitenarmen, die der Strom hier ausgebildet hat, herum, haben aber offenbar gelernt, den Hauptarm, in dem Schiffe wie unseres verkehren, zu meiden.
Vielfach scheinen die kleinen Inselchen kaum einen Zentimeter über die Wasseroberfläche hinauszuragen, was dort, wo das Schilf einzelne Abschnitte ihrer Ufer einmal freigibt, dazu führt, daß es so aussieht, als würden sie nahtlos ins Wasser übergehen. Auf keinem dieser Eilande findet sich auch nur ein einziger Baum oder Busch. Lediglich Gräser haben sich hier angesiedelt.
Als wir die Schmidtbülten schließlich passiert und den Prerower Strom damit hinter uns gelassen haben, setzen wir unsere Fahrt auf den Wassern des Bodstedter Boddens fort. Nun, da die Ufer weiter und weiter zurücktreten und wir uns auf der weiten Fläche des großen Gewässers befinden, zieht der Wind tüchtig an und zaust mich kräftig an den Haaren. Obwohl ich fest davon überzeugt bin, daß sich die Temperatur überhaupt nicht wesentlich verändert, fühlt es sich innerhalb weniger Augenblicke so an, als sei es plötzlich empfindlich kühler geworden. Zwar friere ich nicht, da meine Jacke warm genug ist, doch wird es mir angesichts des nun ununterbrochen um meine Ohren wehenden Windes hier auf dem Oberdeck zu ungemütlich, und so gebe ich den Platz an meinem Tisch auf, steige die Treppe zum tiefer liegenden Zwischendeck hinab und stelle mich dort an die Reling. So kann ich immer noch die Aussicht rings um das Schiff genießen und bewundern, bin den Luftströmungen aufgrund der Aufbauten des Schiffes aber nicht mehr so unmittelbar ausgesetzt wie zuvor.
Während ich versuche, dem Wind wenigstens etwas zu entgehen, sind die Möwen hier in ihrem Element. Begeistert schwingen sie sich in die Lüfte und stürzen sich in die Böen. Und da sie sehr daran interessiert sind, was wir wagemutigen Menschlein auf unserem kastenartigen Ungetüm hier in ihrem Revier wohl so treiben mögen, begleiten sie uns mit ausgebreiteten Schwingen ein Stück, was mir die Gelegenheit gibt, sie in ihrem Fluge zu beobachten. Hin und wieder stoßen sie ihre charakteristischen Schreie aus, als wollten sie sich gegenseitig auf irgendetwas Sehenswertes im Zusammenhang mit uns und unserem Schiff hinweisen. Oder sie haben im Wasser einen Fisch entdeckt, den zu verfolgen und zu fangen sich lohnen mag. Jedenfalls wenden sie sich, nachdem sie uns eine Weile gefolgt sind, wieder ab und anderen Dingen zu.
Ich schaue über die glitzernde Wasserfläche des Boddens, die mir etwas aufgewühlter als die des Stroms erscheint, auf der jedoch trotzdem keine wirklichen Wellen zu sehen sind. So stark ist der Wind dann doch nicht. So zieht auch das kleine Boot mit den roten Segeln, das in einiger Entfernung vorüberfährt, ruhig und gelassen seine Bahn.
Als sich mein Blick auf die im Süden gelegenen Ufer des Boddens richtet, bemerke ich etwas weiter östlich und ein ganzes Stück landeinwärts gelegen die Silhouette einer großen Kirche. Gerade, als ich mich frage, ob in dieser Richtung wohl Barth liegen mag, meldet sich unser Kapitän wieder über die Lautsprecheranlage zu Wort und gibt mir die Bestätigung. Ja, das was ich da vor mir sehe, ist der Umriß der Barther Sankt-Marien-Kirche. Etwa um 1250 herum hatte man mit ihrem Bau begonnen, der dann etwa zweihundert Jahre später mit der Fertigstellung des Turmes abgeschlossen war. Mit seiner beindruckenden Höhe von 86 Metern ist er, wie ich mich selbst überzeugen kann, derart weit in der Umgebung sichtbar, daß er einen idealen Orientierungspunkt sogar für die auf der Ostsee fahrenden Schiffe abgibt. So diente er denn lange Zeit auch als solcher. Und auch, wenn er heute angesichts moderner Navigationstechnik nicht mehr die Bedeutung von einst besitzt, gilt er doch bis zum heutigen Tag immer noch als Seezeichen.
Während ich die entfernte Kirche beziehungsweise ihre Silhouette bewundere, bemerke ich nicht sofort, daß sich das Schiff in eine weite Kurve gelegt hat und nun auf das östliche Ufer des Boddens zuhält. Interessiert, was es denn dort wohl zu sehen gibt oder ob wir einfach nur eine Wende vollführen, gehe ich ein Stück die Reling entlang nach vorn. Als ich die voraus gelegene Aussicht vor Augen habe, stelle ich fest, daß wir auf eine Fahrrinne zuhalten, die sich dort auftut und in das Land hineinführt. Weit kann ich allerdings nicht in sie hineinsehen, da mein Blick von einem großen, sie überspannenden metallenen Ungetüm aufgehalten wird. Und wieder meldet sich der Kapitän des Schiffes gerade rechtzeitig mit weiteren Erklärungen zurück.
Was ich dort vor mir sehe, erfahre ich aus seinem Vortrag, ist die Meiningenbrücke, die über die gleichnamige Meerenge führt. Über jene, das weiß ich bereits von der Informationstafel, die ich am Prerower Hafen studiert hatte, gelangt man vom Bodstedter Bodden in den Zingster Strom und den Barther Bodden hinüber. Unsere Fahrt, so erklärt der Kapitän zu meinem Bedauern, wird dort allerdings nicht hinführen, sondern wir werden hier umkehren und die Heimfahrt antreten. Doch zuvor gibt es noch einiges Interessantes zu erzählen, was unser Schiffsführer auch ausgiebig tut. So weiß ich nun, daß die Brücke die Halbinsel Zingst mit dem Festland verbindet. 1908 hat man mit ihrem Bau begonnen, da man für die zu dieser Zeit errichtete Darßbahn an dieser Stelle einen Übergang schaffen mußte. Bereits zwei Jahre später konnte man die Brücke einweihen, auch wenn man für die endgültige Fertigstellung noch zwei weitere Jahre brauchte. Von solchen Bauzeiten können wir trotz bedeutend weiterentwickelter Bautechnik merkwürdigerweise im heutigen Deutschland nur träumen, das für den Bau einer Brücke gerne auch einmal zehn Jahre benötigt[1]Zehn Jahre für den Bau einer Brücke! Was unglaublich klingt, ist leider Realität, wie die in diesem Jahr (2023) fertiggestellte Schiersteiner Straßenbrücke beweist.. Aufgrund des die Meerenge umgebenden flachen Landes war es allerdings nicht möglich, eine Brücke zu errichten, die hoch genug wäre, um Schiffe unter ihr passieren zu lassen. Da die Passage zwischen den verschiedenen Boddengewässern jedoch nicht blockiert werden durfte, hatte man sich dafür entschieden, einen Teil als Drehbrücke zu gestalten.
Mit dem Ende der Darßbahn kam schließlich auch das Ende der Meiningenbrücke als Eisenbahnüberführung. Sie wurde daher zur Straßenbrücke umfunktioniert. Da sie jedoch sehr schmal ist und wegen ihrer massiven Metallkonstruktion auch nicht verbreitert werden konnte, war es lediglich möglich, den Verkehr über sie in eine einzige Richtung fließen zu lassen, so daß sich die verschiedenen Fahrtrichtungen abwechseln mußten. Weil das aber mit der wieder zunehmenden Beliebtheit von Darß und Zingst als Urlaubsziel und dem damit verbundenen Anstieg des Verkehrs mehr und mehr zum Problem wurde, entschloß man sich im Jahre 1980, neben der Meiningenbrücke eine Behelfsbrücke zu errichten, die der anderen Fahrtrichtung diente. Lange Jahre bestand diese lediglich aus einer Pontonbrücke, die man ausschließlich im Sommer benutzen konnte, weil sie in jedem Winter außer Betrieb gesetzt wurde. An diesen schwimmenden Übergang kann ich mich noch sehr gut erinnern. Wenn wir in jedem Jahr mit unserem Auto – einem kleinen Trabant 601 S – nach Prerow in den Urlaub fuhren, gehörte ein Besuch im nicht allzu weit entfernten Barth eigentlich immer dazu. Die Fahrt dorthin und wieder zurück ist mir bis heute unvergeßlich. Auf der Hinfahrt ging es immer über die Pontonbrücke, was mir stets ein gewisses Ruseln im Bauch bescherte. Was, wenn die schwimmende Fahrbahn unter unserem Gewicht und dem der anderen Autos plötzlich im Wasser versank? Das regelmäßige Rumpeln, wenn wir über die Fugen der einzelnen Brückensegmente fuhren, machte die Sache nicht angenehmer. Und wenn wir Pech hatten und gerade an der Brücke ankamen, wenn ein Schiff passieren wollte, dann mußten wir eine ganze Weile warten, bis wir hinüberfahren konnten, denn da die Pontonbrücke die Meerenge komplett blockierte, mußte sie erst ausgeschwommen werden, damit das Schiff hindurchfahren konnte. Bis das geschehen und die Brücke dann wieder an Ort und Stelle war, konnte schon einige Zeit vergehen. So war ich stets froh, wenn wir auf der Rückfahrt den Weg über die Meiningenbrücke nehmen konnten. Diese machte nicht nur einen bedeutend stabileren Eindruck, sondern mit ihren metallen Fachwerkträgern, die zu beiden Seiten den Blick auf die umgebende Landschaft in viele kleine Einzelbilder zerlegten, die wie ein Film am Autofenster vorbeizuziehen schienen, die Fahrt über die Meerenge zu einem überaus interessanten Ereignis.
Dieser Zustand blieb bis 2011 erhalten. Ab 2012 konnte für den Straßenverkehr dann eine zweispurige Brücke genutzt werden, die die Meiningenbrücke endgültig vom Autoverkehr befreite. Die Schiffsdurchfahrt ermöglicht ein Klappmechanismus. Diese Brücke hatte ich auf meiner Fahrt von Barth nach Prerow am Tage meiner Ankunft passiert und dabei einen Moment der Enttäuschung erlebt, als ich feststellen mußte, daß mir das in meiner Jugend so spannende Erlebnis, die Landschaft als Film zu erleben, versagt bleiben würde. So ist auch die Drehbrücke heute nicht mehr in Betrieb. Aufgrund ihres Alters und weil die Meiningenbrücke nicht mehr für den Verkehr genutzt wird, läßt man sie heute ständig offen. Als wir mit unserem Schiff noch ein Stück in die Meerenge hinein- und auf die Brücke zu fahren, kann ich sie am linken Ufer sehen. In ihrer Mitte befindet sich an ihrem höchsten Punkt das aufgesetzte Häuschen für den einstigen Brückenwärter.
Heute will man, wie ich bereits weiß, die Darßbahn wiedererrichten, wodurch Prerow seinen Bahnanschluß zurückerhalten soll. Für die Meiningenbrücke hat man vorgesehen, sie als kombinierte Eisenbahn- und Straßenbrücke neu zu erbauen. Es bleibt allerdings zu hoffen, daß man die alte Brücke, die sich am rechten Ufer noch ein ganzes Stück ins Land hinein fortsetzt, um dort sich anschließende Sumpfgebiete zu überspannen, dennoch erhält. Zum einen dürfte sie durchaus einigen Wert als technisches Denkmal besitzen. Zum anderen, und das kann ich aus meinen eigenen Erinnerungen unmittelbar bestätigen, stellt sie für die hiesige Gegend durchaus ein Wahrzeichen dar, dessen Vernichtung sicher nicht nur ich als herben Verlust empfinden würde.
Der Kapitän hat mittlerweile nicht nur seine Ausführungen rund um die Meiningenbrücke beendet, sondern auch das Schiff gewendet, so daß wir nun zwischen den schilfbewachsenen Ufern wieder aus der Meerenge heraus- und zurück in den Bodden fahren. Wieder weht uns der Wind, der sich zuletzt eine kurze Pause gegönnt hatte, heftiger um die Ohren und ich ziehe mich wieder auf meinen Platz an der Reling in der Mitte des Schiffes zurück, wo die Aufbauten des Oberdecks ein wenig vor der Kraft des luftigen Gesellen schützen. Die Fahrt geht zurück zu der zwischen den Schmidtbülten gelegenen Mündung des Prerower Stroms. Als wir die ersten Ausläufer der kleinen Inselchen erreichen, erinnert uns der Kapitän freundlicherweise daran, den Blick auf den Schilfgürtel an Steuerbord, also zur rechten Seite unseres Schiffes, zu richten. Dort hatten wir, als wir zuvor in Richtung Bodden unterwegs gewesen waren, zwischen den dichten Halmen kurz eine Kegelrobbe gesichtet. Leider war sie erst recht spät zu entdecken gewesen, so daß wir schon fast an ihr vorbeigefahren waren, bevor wir sie richtig sehen konnten. Glücklicherweise ist unser Schiff groß und massiv genug, daß es nicht sofort kentert, als nun nahezu alle Passagiere zur Steuerbordseite stürzen, um zu schauen, ob die Robbe wohl noch im Schilf liegt. Da ich deren Vorhandensein im Schilf nicht vergessen und mich demzufolge bereits dort plaziert hatte, kann ich es nun ruhig angehen lassen und einfach nur nach dem Tier Ausschau halten, das dort entspannt am Ufer gelegen und es der Sonne erlaubt hatte, ihm den Pelz zu wärmen. Offenbar war dieser Platz derart gemütlich, daß es in der Zwischenzeit nicht in Erwägung gezogen hatte, ihn zu verlassen. So ist es uns vergönnt, es nun näher in Augenschein zu nehmen.
Still und ruhig liegt die Robbe im Schilf. Ob dort eine natürliche Lücke bestanden oder ob sie irgendwie die Halme niedergedrückt hatte, um sich den Liegeplatz zu schaffen, kann ich nicht so recht ausmachen. Ich bin aber sowieso mehr von ihrem niedlichen Gesicht fasziniert. Ruhig, doch interessiert blickt uns die Robbe mit ihren runden schwarzen Knopfaugen entgegen, regt jedoch keinen Muskel. Zu beiden Seiten ihrer Schnauze stehen ein paar Barthaare waagerecht ab und verleihen ihr irgendwie ein ehrwürdiges Aussehen. Der massive Körper ist von dichtem, braunem Pelz bedeckt. Ganz offensichtlich liegt das Tier auf der Seite, denn ich kann eine der Flossen erkennen, die es angewinkelt und am Körper angelegt hat. Das ausgewachsene Tier macht einen recht massiven Eindruck und ist so groß, daß sich das hintere Ende seines Leibs im Schilf verliert, so daß ich den Schwanz nicht sehen kann. Die ganze Zeit, die unsere Vorbeifahrt dauert, rührt es sich nicht und verzieht auch keine Miene. Wären nicht seine Augen, die uns unentwegt anschauen, ich fragte mich ernsthaft, ob es überhaupt noch am Leben sei. So aber habe ich keinerlei Veranlassung, daran zu zweifeln.
Kaum ist die Robbe aus unserem Blickfeld entschwunden, sind wir auch schon am Ende der kleinen Insel angekommen, deren Ufer ihr als Liegeplatz dient. Und hier an der Spitze des Eilands entdecke ich inmitten des Schilfs einen aus dessen Halmen aufgeschichteten kreisrunden Hügel, der allem Anschein nach auf dem Wasser zu schwimmen scheint. Vermutlich ruht er jedoch auf einem Fundament von abgeknickten Schilfhalmen, denn das schneeweiße Etwas, das auf ihm ruht und meine Aufmerksamkeit geweckt hatte, entpuppt sich beim Näherkommen als ausgewachsener Schwan, der es sich hier gemütlich gemacht, seinen Kopf zurückgelegt und auf das Gefieder seiner zusammengefalteten Flügel gebettet hat. Ich blicke direkt in das traute Heim eines Schwanenpaars, das sich hier, unzugänglich für jede Art von Landtier und damit insbesondere für räuberische Wesen, sein Nest gebaut hat, in dem es nun seine Jungen ausbrütet. Bald schon werden sie schlüpfen und von ihren Eltern liebevoll aufgezogen werden. Es wird eine ganze Zeit dauern, bis sie ihr anfänglich graues Gefieder gegen das strahlende Weiß erwachsener Schwäne werden tauschen können.
Bei dem Gedanken daran fällt mir unweigerlich Hans Christian Andersens Märchen vom häßlichen jungen Entlein ein, das als Außenseiter bei einer Schar Enten aufwächst, die es wegen seiner vermeintlichen Häßlichkeit verachten und hänseln, bis es vor ihnen in die Einsamkeit flieht. Nach einigen Abenteuern und dem Beinahe-Tod im eisigen Winter, den es nur durch die Hilfe eines Bauern übersteht, erkennt es sich eines Tages im Spiegel des Wassers als strahlend schöner Schwan. Ich habe die Geschichte schon als Kind gelesen und gemocht. Doch erst in späteren Jahren habe ich sie – auch durch eigene Erlebnisse – als Sinnbild auf die menschliche Gesellschaft begriffen, in der Außenseiter so oft von der Gemeinschaft verachtet und ausgeschlossen werden, einfach nur, weil sie auf die eine oder andere Weise anders sind. Und oft gibt es nur sehr wenige Menschen, die ihnen offen und unvoreingenommen begegnen und ihnen auf ihrem Weg helfen. Daran hat sich seit der Zeit, in der Andersen dieses Märchen schrieb, wie es scheint, nur wenig geändert.
Während ich noch meinen diesbezüglichen Gedanken nachhänge, dringt plötzlich lautes Geschnatter an mein Ohr, das, wie ich unschwer erkennen kann, nicht vom Schiff, sondern eindeutig von oben kommt. Ich hebe meinen Blick und entdecke ein Paar Graugänse, das in diesem Augenblick, die Hälse lang vorgereckt und die Flügel weit ausgebreitet und heftig schlagend, über das Schiff hinwegfliegt. Dabei stoßen die beiden Vögel unablässig schnatternde Geräusche aus – ein Verhalten, das ich in den vergangenen Tagen stets beobachtet habe, wenn ich die Gelegenheit hatte, Vögel wie diese an mir vorüberfliegen zu sehen. Und immer habe ich mich dabei gefragt, was diese Tiere wohl dazu veranlassen mag, ihre Flüge mit diesem ständigen Geschnatter zu begleiten. Ob sie sich wohl über die Richtung verständigten? War es ein Streit oder eine Unterhaltung? Wollten sie ihr Kommen ankündigen? Oder schnatterten sie einfach nur gerne? Ich weiß es nicht. Doch irgendwie mag ich diese kleinen Gesellen und finde sie witzig.
Die Fahrt zurück ist alles andere als langweilig. Normalerweise schätze ich es nicht sonderlich, wenn eine Wanderung, ein Ausflug oder gar eine Reise denselben Weg zurückführt, den ich gekommen bin. Es kommt mir dabei oftmals so vor, als würde ich Zeit verschwenden. Schließlich bin ich doch auf dem Weg, den ich dabei wiederholt nehmen muß, schon einmal unterwegs gewesen. Was soll denn daran interessant sein? Viel lieber möchte ich während der gesamten Unternehmung etwas Neues entdecken, mir Unbekanntes sehen. Jetzt jedoch, da ich den Weg, den wir nehmen, nun einmal nicht beeinflussen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dreinzufinden und das Beste daraus zu machen. Und das tue ich! Hatte ich auf der Hinfahrt meist den Erklärungen des Kapitäns gelauscht und war mit dem, worauf ich mein Augenmerk richtete, seinen Hinweisen gefolgt – warum auch hätte ich sie ignorieren sollen? -, so habe ich nun reichlich Gelegenheit, mir den jeweiligen Gegenstand meines Interesses selbst auszusuchen, denn da wir auf diesem Abschnitt des Prerower Stroms ja bereits unterwegs gewesen waren, beschränkt sich unser Schiffsführer nun im wesentlichen darauf, uns auf zu beobachtende Tiere hinzuweisen. Ich richte daher meine Aufmerksamkeit auf die zu beiden Seiten des Schiffes an uns vorüberziehende Landschaft. Und die erweist sich auf der Zingster, nun an Steuerbord gelegenen Seite oftmals als interessanter. Im Hintergrund der grüne, von Kiefern dominierte Wald, davor die noch nicht zu neuem Leben erwachten und daher vorwiegend braunen Felder, hier und da von kleinen und größeren Tümpeln durchzogen und im Vordergrund der mal mehr, mal weniger breite Schilfstreifen am Ufer – das ist gewissermaßen die Leinwand, auf der sich immer wieder wechselnde Bilder abzeichnen.
Das erste besteht in einem einzeln stehenden Baum, der sein Leben, wie es scheint, schon lange beendet hat. Übrig blieb davon nur das knorrige Gerippe toter Äste, die in alle Richtungen in die Gegend ragen. Anhand der sich bereits ablösenden weißen Rinde sind die Überreste unschwer als die einer Birke zu erkennen, deren Holz bereits Moos angesetzt hat. Einer der dickeren Hauptäste ist abgeknickt. Traurig hängt er zu Boden. Und obwohl klar ist, daß der Frühling noch nicht weit genug fortgeschritten ist, um die Birken bereits wieder ihr grünes Kleid überstreifen zu lassen, kann ich auf den ersten Blick erkennen, daß dieses Exemplar hier dieses nie wieder anziehen wird. Doch so ist der Kreislauf des Lebens. Und selbst im Tode noch erfüllt der alte Baum in der Natur seinen Zweck – als Lebensraum und Nahrung für die ihn zersetzenden Lebewesen, angefangen von dem auf ihm wachsenden Moos bis zu den sich meinen Blicken entziehenden Kleinstorganismen, die ganz sicher in seinem Holz Quartier bezogen haben.
Ein Stück weiter zeichnet die Natur, obwohl die Protagonisten dieselben sind, ein ganz anderes Bild. Wald, Feld, Schilf und Birken. Doch diesmal ist es nicht ein einzelner Baum, sondern es haben sich gleich mehrere am Ufer aufgereiht. Und obwohl auch sie keinerlei Blätter tragen, ist ihnen die innewohnende Lebenskraft schon von weitem anzusehen. Ihre weiße Rinde verleiht ihnen einen Schimmer, der aus der Ferne wirkt, als seien sie von Rauhreif überzogen. Es ist ein seltsamer Anblick, der mich mit seinem Kontrast beeindruckt. Das sich fröhliche wiegende Schilf mit dem sich sacht kräuselnden blauen Wasser davor, im Hintergrund das gelbbraune Feld mit dem sattgrünen Waldstreifen dahinter – und mittendrin diese wie vom Frost erstarrt wirkenden weißen Bäume, die aussehen, als hätte der Winter sie noch nicht freigeben wollen, wohl wissend, daß er es bald schon wird müssen. Die warmen Strahlen der Frühlingssonne lassen das mehr als deutlich spüren.
Kaum sind wir an den Birken vorüber und haben die nächste Biegung des Stroms hinter uns gelassen, malt die Natur auch schon das nächste Bild. Diesmal ist es jedoch kein Stilleben, das sich meinem Auge bietet, denn im Zentrum der Darstellung stehen drei niedliche Gesellen, die urplötzlich hinter dem dichten Schilfstreifen auftauchen, als unser Schiff sich ihnen nähert, und erschreckt in das sich anschließende Feld hineinlaufen. Doch so ganz entschieden, die Gegend am Strom zu verlassen, sind die drei Rehe, von denen die Rede ist, nicht, wie es scheint, denn schon nach wenigen Metern bleiben sie stehen, als seien sie unentschlossen, was sie nun tun sollen. Als ich genauer hinsehe, stelle ich fest, daß eines ein kleines Geweih auf dem Kopf trägt. Offensichtlich handelt es sich um einen Rehbock. Ob die drei vielleicht eine Familie sind? Oder Geschwister? Ich weiß es nicht, finde den Gedanken aber irgendwie sympathisch, so daß ich mir die drei fortan in eine solchen Beziehung zueinander vorstellen möchte.
Inzwischen hat auch unser Kapitän die drei Tiere am Ufer entdeckt und weist die Passagiere mit einer Durchsage darauf hin. Wieder stürmen alle unverzüglich auf die Steuerbordseite. Da die Rehe jedoch schnell hinter uns zurückbleiben und schließlich aus unserem Blickfeld verschwinden, verlieren die meisten Teilnehmer schon bald das Interesse an der Aussicht und zerstreuen sich wieder über das Deck. Ein Umstand, der mir sehr willkommen ist.
Ich verbringe die Zeit unserer weiteren Fahrt an der Reling, wobei ich hin und wieder einmal die Seiten wechsle, um auch einen Blick auf das andere Ufer und die dortige Landschaft werfen zu können. Ich beobachte weitere Schwäne, betrachte den Lauf des Stroms, wie er sowohl voraus als auch hinter uns liegt, schaue erneut über uns hinweg ziehenden Graugänsen hinterher und genieße einfach die Ruhe und Schönheit des Landes um mich herum. Schließlich durchmißt unser Schaufelraddampfer noch einmal den großen Bogen des Prerower Stroms, der ihn auf einhundert Meter an die hinter den Dünen liegende Ostsee heranbringt, die sich allerdings meinen Blicken entzieht. Und dann haben wir auch schon wieder den alten Bootshafen erreicht. Wir ziehen daran vorbei, der alte Bahnhof grüßt zu mir herüber, und kurze Zeit später legen wir auch schon am Kai des Prerower Hafens an. Langsam steige ich die Stufen der Treppe zum Unterdeck hinunter und begebe mich zum Ausgang, wo ich beobachten kann, wie die Leinen festgemacht werden und man den Landungssteg auslegt, über den ich, als der Weg vom Schiffspersonal schließlich freigegeben wird, das Schiff verlasse. Ein letzter Blick vom Kai zurück zum Schiff – mach’s gut, Baltic Star! – und das Land hat mich wieder.
Was nun? Der Tag ist noch relativ jung, zwei Uhr nachmittags ist noch nicht einmal erreicht. Nach der langen Zeit der Untätigkeit an Deck des Schiffes, in der ich nichts anderes zu tun hatte, als zu sitzen oder zu stehen und mir die an uns vorüberziehende Landschaft anzusehen, habe ich jetzt doch noch etwas Lust, mir ein wenig die Beine zu vertreten. Und bereits nach kurzem Überlegen habe ich auch eine Idee. Wenn ich schon einmal in dieser Gegend bin, dann kann ich mir doch die Hohe Düne und den Zingster Isthmus, also die Engstelle zwischen Prerower Strom und Ostsee, einmal aus der Nähe ansehen.
Gedacht, getan. Ich schlage den Weg entlang der Landstraße, die Prerow mit Zingst verbindet, ein und habe nach wenigen Minuten wieder den Alten Bahnhof erreicht, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet. Da ich ihn heute morgen bereits eingehend betrachtet habe und die Ankunft eines Zuges noch in weiter Ferne liegt, halte ich mich hier nicht weiter auf, sondern wandere weiter die Straße entlang. Gleich hinter dem Bahnhofsgebäude, an das sich ein kleiner Parkplatz anschließt, muß ich eine einmündende Straße überqueren, die die zweite Zufahrt zu dem mir bereits bekannten und als Kirchenort bezeichneten Teil Prerows bildet. Gleichzeitig läßt sich über sie aber auch die in Prerow ansässige Ostseeklinik erreichen, eine im Jahre 1998 hier eröffnete medizinische Rehabilitationseinrichtung, in der sowohl orthopädische als auch Atemwegs- und Hauterkrankungen behandelt werden. Ihr Haupteingang befindet sich unmittelbar am Beginn der abzweigenden Straße.
Mein Weg führt mich weiter die Landstraße entlang, verläuft hinter dem Abzweig jedoch erfreulicherweise ein Stück von dieser entfernt im Wald. Der Waldboden macht das Laufen angenehm. Auf der anderen Seite der Straße kann ich nun zwischen den Bäumen immer wieder das Glitzern einer Wasseroberfläche durchscheinen sehen. Dort hat sich der Prerower Strom bis auf wenige Meter der Straße angenähert. Der alte Bootshafen bleibt zurück, und kurz darauf mündet von links ein Weg, an dem einer der charakteristischen Prerower Wegweiser die Richtungen anzeigt. Da Prerow hier definitiv zu Ende ist, dürfte es der letzte seiner Art auf dieser Seite des Ortes sein. Bedauerlicherweise ist er nicht von einer bunten Schnitzerei gekrönt, wie sie andernorts in Prerow seine zahlreichen Geschwister zieren. Ob sie abhanden gekommen ist oder man ihm nie eine spendiert hat, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis. Aufgrund seiner etwas abgeschiedenen Lage scheint mir seine Aufgabe vordergründig darin zu bestehen, auf die benachbarten Orte Prerows hinzuweisen. Sowohl Zingst und Wieck als auch das weiter entfernt liegende Born finden sich auf seinen Richtungsanzeigern. Doch auch der nahegelegene Hafen und die Seemannskirche sind natürlich verzeichnet.
Um die Hohe Düne zu finden, brauche ich allerdings die Hilfe eines Wegweisers nicht. Ich folge einfach weiter dem Weg entlang der Straße. Und da dieser nun bereits mit einem kleinen Anstieg aufwartet, weiß ich, daß ich nicht fehlgehe. Ich bin bereits auf der Hohen Düne unterwegs. Den Ausführungen des Kapitäns während der Fahrt hatte ich entnehmen können, daß es hier einen Aussichtspunkt geben mußte, den zu suchen ich mir nun zum Ziel gesetzt habe. Das erweist sich als leichtes Unterfangen, denn ich habe gerade einmal fünfzig weitere Meter zurückgelegt – der Anstieg liegt inzwischen hinter mir -, da erreiche ich einen weiteren Abzweig, der nach links in den Wald und weiter auf den Hügel, an dem ich unterwegs bin, hinaufführt. Und richtig – kaum bin ich diesem Weg, dessen sandigen Untergrund man mit einer Art grobmaschigem Seilnetz befestigt hat, um die Düne davor zu schützen, förmlich zertreten zu werden, ein paar Meter gefolgt, da sehe ich ihn nach einer Biegung auch schon vor mir: den Aussichtspunkt. Es handelt sich um eine einfache, erhöhte, hölzerne Plattform, wie ich sie auch schon auf meiner Wanderung am Darßer Ort zu sehen bekommen hatte. Es führt eine steile Treppe hinauf, die zu beiden Seiten mit Geländern versehen ist, die den Aufstieg für jene erleichtern, die nicht mehr ganz so sicher und gut zu Fuß unterwegs sind.
Oben angekommen, blicke ich in die Runde. Wenn ich eine phänomenale Aussicht erwartet hatte, so werde ich etwas enttäuscht. Das liegt allerdings nicht an der falschen Wahl des Aussichtspunktes, denn dieser ist durchaus auf dem höchsten Punkt der Hohen Düne errichtet worden. Die Bäume des umliegenden Kiefernwaldes, die zwar alle keine Riesen sind, haben es jedoch mit der Zeit zu einer Höhe gebracht, die es schwer macht, über sie hinwegzublicken. Eigentlich gelingt das nur noch in zwei Richtungen. In der einen, der südöstlichen, kann ich die Windungen des Prerower Stroms erkennen, die dieser nach seinem Vorbeifluß am Zingster Isthmus in Richtung des Bodstedter Boddens vollführt und auf denen gerade wieder ein Schiff seine Bahn zieht. Es ist das modernere der beiden Ausflugsschiffe, das ich am Morgen hatte abfahren lassen, ohne an Bord zu gehen. Es ist offensichtlich zu seiner zweiten Tour an diesem Tag aufgebrochen. In der Ferne kann ich über einem dunklen Streifen, der den Horizont bedeckt, bei genauem Hinschauen wieder die Silhouette der Barther Sankt-Marien-Kirche erkennen. Sie ist wahrlich von weither zu sehen. Der ganz in der Nähe, sozusagen zu meinen Füßen gelegene große Bogen des Prerower Stroms entzieht sich hingegen aufgrund der Bäume rings um mich herum meinen Blicken. Wie so oft im Leben ist das Naheliegende wieder einmal nicht ohne weiteres zu sehen.
Die andere Richtung, die mir etwas offenbart, ist die nördliche. Dort kann ich über den Baumwipfeln die gerade Linie des Horizonts verfolgen, vor der das tiefblaue Meer seine leicht gekräuselten Fluten ausbreitet. In wenigen Jahren wird aber wohl auch das nicht mehr möglich sein, denn bereits jetzt verschwindet der Horizont hier und da hinter einzelnen, hoch aufragenden Wipfeln.
Nachdem ich mich ausgiebig umgeschaut habe, steige ich die Treppe schließlich wieder hinab und gehe den Weg, der lediglich bis hierher führt und dann endet, zurück zur Straße. Ich folge ihr noch ein Stück in Richtung Zingst. Der Weg, der immer noch ein wenig abseits durch den Wald verläuft, senkt sich bereits langsam wieder ab. Hin und wieder verbreitert er sich ein Stück bis zum Rand der der Straße zuwandten Seite der Düne. An diesen Stellen hat man ein hölzernes Geländer angebracht und ein paar Bänke aufgestellt, von denen aus man wie von einem zwischen den Bäumen gelegenen Balkon über den Strom und das dahinterliegende Land schauen kann. Hier ist von der näheren Umgebung sogar etwas mehr zu sehen als von der höhergelegenen Aussichtsplattform auf der Hohen Düne, da sich vor mir nur noch die Straße und ein zwei bis drei Meter breiter Streifen bis zum Strom befinden. Ich setze mich kurz auf eine der Bänke, halte es jedoch angesichts des beständigen Verkehrs auf der Straße nicht allzu lange hier aus.
So folge ich dem Weg weiter, bis ich schließlich die Landenge erreicht habe. Leider bin ich hier bereits wieder so weit von der Düne herabgestiegen, daß ich Strom und See nicht gleichzeitig sehen kann. Genau an dieser Stelle befindet sich jedoch ein Dünenübergang, der zum Strand führt. Dahinter setzt sich der Weg direkt auf einem Deich fort, welcher von hier aus die Straße nach Zingst begleitet.
In der Hoffnung, vielleicht vom Kamm der Düne beide den Isthmus begrenzenden Gewässer noch einmal gleichzeitig sehen zu können, wende ich mich nach links und stapfe durch den Sand. Ich werde nicht enttäuscht. Oben angekommen erblicke ich vor mir die Weite des Meeres, während ich hinter mir auf den großen Bogen des Prerower Stroms hinunterschaue, von dem sich mir allerdings nur ein kleiner Ausschnitt zeigt. Dennoch bin ich zufrieden und begebe mich, da ich nicht denselben Weg zurücklaufen möchte, nun hinunter auf den Strand.
Auf den ersten Blick unterscheidet er sich nicht sehr von jenem, den ich angetroffen habe, als ich am Hauptübergang zur Ostsee hinuntergegangen bin. Hinter mir die Düne, unter meinen Füßen der breite Sandstreifen und vor mir das sacht ans Ufer plätschernde Meer. Noch immer ist nur wenig Wind zu spüren, so daß es wie in den Tagen zuvor keine hohen Wellen gibt. Menschen laufen nahe am Wasser den Strand entlang, andere sitzen weiter oben im Sand und genießen die Sonne, die aus dem strahlend blauen Himmel auf uns herablächelt und durchaus schon angenehme Wärme verbreitet. Was hier allerdings fehlt, sind die Strandkörbe. Und natürlich gibt es hier auch keine Baustelle.
In den Meeresboden hineingerammte Pfosten sind allerdings auch hier zu sehen. Im Gegensatz zu denen der gerade im Bau befindlichen Seebrücke bestehen diese hier jedoch aus Holz und ragen nur wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche. Dafür stehen sie dicht an dicht und bilden eine lange Reihe, in der sie weit ins Meer hinausragen, wo sie dann allerdings abrupt enden. Als ich den Strand hinauf- und hinunterblicke, stelle ich fest, daß sich derartige Reihen hölzerner Pfosten in regelmäßigen Abständen wiederholen. Während es in westlicher Richtung vielleicht noch fünf dieser Reihen sind, hören sie gen Osten hingegen nicht auf, sondern verlieren sich in der Ferne, wo ein Ende nicht abzusehen ist. Ganz offensichtlich hielt man es für notwendig, den Strand zwischen Prerow und Zingst mit diesen Buhnen vor Erosion zu schützen. Als ich mich der direkt vor dem Strandzugang liegenden Buhne nähere, bemerke ich in einiger Entfernung vom Ufer eine Möwe, die sich dort auf einem der Holzpfähle niedergelassen hat. Sie rührt sich auch nicht, als ich mich nähere, sondern schaut mir nur interessiert entgegen. Vermutlich weiß sie aus Erfahrung, daß die meisten dieser Zweibeiner, die Tag für Tag den Strand aufsuchen, es nicht wagen, so wie sie auf den Pfosten entlang hinaus auf’s Meer zu laufen. Und wenn ich einer von denen sein sollte, die es wagemutig doch versuchen, dann bliebe ihr immer noch genug Zeit, um die Flügel auszubreiten und davonzufliegen. Das würde ich ihr auf keinen Fall nachmachen können.
Nun, das habe ich auch nicht vor. An der Wasserlinie angekommen, entledige ich mich kurzerhand meiner Schuhe und Strümpfe, um an diesem schönen warmen Frühlingstag wenigstens einmal mit den Füßen ins Wasser zu kommen. Zur Sicherheit kremple ich meine Hosenbeine ein Stück hoch. Die Socken stecke ich in die Schuhe, die ich in der Hand behalte. Tatsächlich ist das Wasser gar nicht mal so kalt, wie ich befürchtet hatte. Bereits nach wenigen Minuten ist es ganz angenehm, mit den nackten Füßen auf dem Sand zu laufen und sie hin und wieder von einer besonders kecken Welle umspülen zu lassen. Die Möwe schaut meinem Treiben eine Weile von weitem zu, verliert jedoch schließlich das Interesse und blickt in eine andere Richtung. Sie unterscheidet sich ein wenig von den Exemplaren, die mir bisher so begegnet waren. Besonders fällt mir ihr schwarzer Kopf auf, der sie stark von jenen anderen Möwenarten abhebt. Ich erweise ihr die Ehre, ein Foto von ihr zu machen, das ich ihr allerdings nicht zeigen kann, da sie nicht geruht, sich mir einmal zu nähern. Dafür gelingt es mir später anhand dieser Aufnahme, sie als Lachmöwe zu identifizieren.
Jede Buhne endet, wie ich bei genauerer Betrachtung sehen kann, mit einem letzten Holzpfosten, der ein wenig weiter aus dem Wasser ragt als die anderen. Als ich auf meinem Weg den Strand entlang zur nächsten Pfostenreihe gelange, bemerke ich eine schwarze Silhouette an deren Ende. Mit bloßem Auge kann ich lediglich erkennen, daß es sich um einen schwarz gefiederten Vogel handelt, der sich dort niedergelassen hat. Erst mit der Hilfe meines Teleobjektivs – es ersetzt mir bei solchen Gelegenheiten stets das Fernglas, das ich so nicht zusätzlich noch mit mir herumtragen muß – kann ich ihn schließlich als Kormoran identifizieren. Ich muß gestehen, daß mir diese Vogelart, bevor sie mir hier an der Ostsee nun bereits zum zweiten Male begegnete, gar nicht so bekannt war. Natürlich hatte ich den Namen bereits gelesen, nicht zuletzt in Geschichten und Romanen, in denen er erwähnt wurde, doch wo Kormorane eigentlich lebten, entzog sich bisher meinem Wissen. So finde ich durch eigenes Erleben wieder einmal die alte Erkenntnis bestätigt, daß Reisen, bei denen man sich aufmerksam und interessiert in der Welt umschaut, eben doch bildet – oftmals mehr und nachhaltiger, als es jede Schule könnte.
Ein Stück weiter westwärts – ich habe mich entschlossen, am Strand zurück in Richtung Prerow zu laufen – steigen die Dünen hinter dem Strand zu bedeutender Höhe an. Ich befinde mich jetzt etwa gleichauf mit der Hohen Düne. Und dort, am hinteren Ende des Strandes, entdecke ich etwas, das mein Interesse weckt. Und so wende ich mich für einen kurzen Abstecher vom Wasser ab und stapfe den Strand hinauf. Normalerweise geht dieser hier am Nordstrand an seinem hinteren Ende mit sanftem Anstieg langsam in die Düne über. Dünengras nimmt die Gelegenheit wahr, sich anzusiedeln, erst vereinzelt, dann dichter, bis der Strand schließlich in der grasbewachsenen Düne aufgegangen ist. Wenn der Wind sacht über die Halme streicht, beugen sich diese bereitwillig, richten sich dann aber wieder auf. Sie machen so die Luftbewegungen sichtbar, was, wenn man Gelegenheit hat, einen längeren Dünenabschnitt im Blick zu behalten, den Eindruck vermitteln kann, die Wellen des Meeres setzten sich auf der Düne fort. War ich diesen Anblick vom Prerower Nordstrand bereits von verschiedenen Stellen, an denen ich ihn aufgesucht hatte, gewohnt, bin ich nun einigermaßen überrascht, daß sich mir bei meinem Blick zur Düne ein völlig anderes Bild bietet. Hier, am östlichen Ende Prerows, nahe der Hohen Düne, bildet der Sand eine regelrechte Wand. Doch ist diese keineswegs glatt und lotrecht. Vielmehr bricht sie in mehreren Stufen ab, tritt hier hervor und dort zurück, bildet Vorsprünge, auf denen sich Muschelschalen abgelagert haben – wie sind die wohl dahin gekommen? – und zeigt eine Gliederung in feine und feinste Schichten, als bestünde die Düne aus unzähligen riesigen, doch hauchdünnen, übereinandergelegten Platten.
Man könnte sagen, diese Sandwand zeigt im Kleinen durch die Witterung hervorgerufene Gestaltungsformen, die denen ähneln, die man im Großen in Sandsteingebirgen beobachten kann. Doch während sie dort infolge der steinernen Verfestigung eine große Stabilität erreicht haben, sind diese hier äußerst fragil. Unwillkürlich bin ich versucht, mit dem Finger die Festigkeit der Wand zu prüfen, doch als ich gewahr werde, daß ich gewissermaßen dabei zusehen kann, wie sich die Wand stetig verändert, lasse ich es bleiben. Bereits ein sacht auffrischender Wind wirbelt nämlich an ihrer Oberfläche Sandkörner auf und bringt kleine Abschnitte erst in Unordnung und dann ins Rutschen. Eine Berührung auch nur mit meinem kleinen Finger würde dieses von der Natur geschaffene Sandkunstwerk augenblicklich schwer beschädigen.
Fasziniert von diesen Beobachtungen kehre ich schließlich wieder ans Wasser zurück, wo ich meinen Weg in Richtung Prerow fortsetze. Dabei genieße ich noch einmal die Berührung des Wassers sowie das angenehme Gefühl, wenn meine nackten Sohlen den feuchten Sand berühren. Sie hinterlassen darin Abdrücke, die von der nächsten Welle bereits wieder ausgelöscht werden, so als sei ich nie hier gewesen. Und ein bißchen ist das ja auch so, denn für die Natur spielt meine Anwesenheit schließlich keine Rolle. Doch auch wenn ich hier an diesem Strand heute keine immerwährenden Spuren hinterlasse, in meinem Geist, meiner Erinnerung bleibt dieser Nachmittag erhalten. Jedesmal, wenn ich an ihn denke, spüre ich wieder den Sand zwischen den Zehen, wie sie sich mit jedem Schritt ein Stück hineingraben, fühle ich das Naß, wie es sanft meine Füße umspült, und vermeine ich wieder die salzige Meeresluft zu atmen, die tief in meine Lungen strömt. Ich spüre wieder die warme Sonne und den sanften Wind auf meiner Haut und fühle mich allein durch diese Erinnerung angenehm berührt und erfrischt. Und irgendwie ist es, als sei ein Teil von mir an diesem Strand geblieben, denn ich sehe mich dort selbst, blicke mir versonnen nach, schaue zu, wie ich mich weiter und weiter entferne, bis ich schließlich nicht mehr zu erkennen bin. Dann richtet sich mein Blick auf’s Meer hinaus und ich schaue versonnen in die Ferne…
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Zehn Jahre für den Bau einer Brücke! Was unglaublich klingt, ist leider Realität, wie die in diesem Jahr (2023) fertiggestellte Schiersteiner Straßenbrücke beweist.
In der DDR Zeit [sic!] galt das Ostseebad Prerow als Mallorca der DDR.[1]Der Satz steht beispielsweise wortwörtlich in der Ankündigung eines Lichtbildervortrags über den Zeltplatz Prerow auf der Website des Ostseebades. Doch auch an anderer Stelle kann man ähnliches … [Weiterlesen]
Ach, was waren das für Zeiten damals in den alljährlichen heißen Sommern, in denen der Prerower Strand von Menschenmassen nur so überfüllt war. Gruppen junger Männer und vielleicht auch Frauen saßen vielerorts um mit Vipa[2]Vipa war in der DDR der Name eines weinhaltigen Kohlensäuregetränks, das zu achtzig Prozent aus Mineralwasser und zu zwanzig Prozent aus Weißwein bestand, der auch für den Alkoholgehalt von 1,8 … [Weiterlesen] gefüllte Eimer herum, aus denen sie das kohlensäurehaltige Weinmischgetränk mittels langer Strohhalme in großen Mengen zu sich nahmen, im steten Wettbewerb begriffen, wer aus der Gruppe wohl das meiste davon vertragen könne. Laute Musik dröhnte aus den Kofferradios, die die bereits am hellichten Tag stark angetrunkenen jungen Leute lauthals mitgrölten, wobei sie sich gegenseitig das Eis über den Kopf schütteten, mit dem sie in weiteren Eimern ihre mitgebrachten Bierflaschen kühlten. Wer von ihnen dann noch stehen konnte, zog des Abends in die zahlreichen Diskotheken und Bars des Ortes, wo bis tief in die Nacht Partys gefeiert wurden, bei denen der Alkohol in Strömen floß und abgehalfterte Schlagergrößen mit ihren frivolen und anzüglichen Partyschlagern Stimmung machten, bis vom Gejohle und Gegröle auch der letzte Gast heiser war.
Erinnert sich noch jemand an diese Zeiten? Nein? Ich auch nicht.
Und doch lese ich heutigentags, wenn ich auf der Suche nach Informationen zur Geschichte und zu den Sehenswürdigkeiten des Ostseebades Prerow ein wenig im Internet stöbere und dabei auf Webseiten, Zeitungsartikel und ähnliche Quellen für den Ort beschreibende Texte stoße, immer wieder Sätze wie den eingangs zitierten.
Prerow galt also damals als das Mallorca der DDR. Wer hätte es gedacht…
Nun, in Wahrheit natürlich niemand. Sehe ich einmal davon ab, daß derselbe Begriff vom Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) auch für den Balaton in Ungarn verwendet wird[3]Beispielsweise ist das in dem Beitrag Balaton: Mallorca der DDR-Bürger der Fall, der am 12. August 2022 erschien und auf der Website des MDR zu finden ist., was, wenn es denn stimmte, bedeuten würde, daß die DDR mindestens zwei Mallorcas und damit der BRD etwas voraus gehabt hätte – und das kann ja nun wirklich nicht sein! -, so wäre mir aus eigenem Erleben neu, daß damals Mallorca als das Paradies für Billigurlaube in der DDR weitläufig bekannt gewesen sein soll. Von Neid, der so weit gegangen wäre, daß wir DDR-Bürger nichts Besseres zu tun hatten, als uns ein eigenes Mallorca herbeizuphantasieren, gar nicht zu reden.
Und wo ich doch gerade den MDR angeführt habe – in einem anderen Beitrag bezeichnet auch er Prerow als das Mallorca der Ostsee[4]Es handelt sich um den Artikel Prerow – das „Mallorca der Ostsee“ vom 01. Juli 2009, der ebenfalls auf der Website des MDR zu finden ist.. Ich finde ja, die Jungs und Mädels beim Mitteldeutschen könnten sich mal entscheiden, wo sie das Mallorca der DDR denn nun verorten wollen! Immerhin, und das ist positiv hervorzuheben, verwenden sie den Begriff in beiden Fällen nur aus heutiger Sicht und als Gleichnis. Autoren anderer Texte jedoch behaupten steif und fest, er sei schon in der DDR für das kleine Ostseebad gebräuchlich gewesen.
Nun, ich für meinen Teil kann jedenfalls sagen, daß ich vom Mallorca der DDR bis zum heutigen Tage noch nie etwas gehört hatte; und damit also auch nicht zu Zeiten, in denen die DDR noch existierte und wir mehrere wundervolle Urlaube in dem Ort an der Ostsee verbrachten. Man mag nun einwenden, daß ich zu jener Zeit noch Kind beziehungsweise Jugendlicher war und es demnach ganz natürlich sei, daß dieser Begriff an mir vorüberging. Das stimmt zwar, doch kenne ich auch niemanden, dem dieser Begriff bereits zu Zeiten der DDR bekannt gewesen wäre. Und von den eingangs gezeichneten „Mallorca-Zuständen“ ist in meinen Erinnerungen auch keine Spur zu finden, weder den Strand vor dem Ort noch den am Zeltplatz betreffend.
Auch wenn wir DDR-Bürger nicht überallhin reisen konnten und sich daraus bei Manchem Sehnsüchte hinsichtlich gewisser Reiseziele entwickelt haben mochten, waren wir doch, denke ich, selbstbewußt genug, um unser Leben nicht allein anhand westlicher Maßstäbe zu definieren. Auch wenn sich das heute so mancher aus dem einst anderen Teil Deutschlands vielleicht nicht vorstellen kann und mag… Soweit ich das sagen und beurteilen kann, gab es weder ein Mallorca der DDR noch die Malediven des Ostens oder sonstigen Unsinn, den man heute in den Medien so über die DDR lesen kann.
Und so bin ich an meinem dritten Urlaubstag auch nicht darauf aus, Spuren irgendeiner ostdeutschen Partymeile zu finden, sondern habe mir stattdessen vorgenommen, ein wenig durch den Ort Prerow zu wandern, um ihn neu kennenzulernen. Denn daß er bei weitem nicht mehr so aussieht, wie ich ihn noch aus der Zeit von vor über dreißig Jahren in Erinnerung habe, das ist mir bei meinen Spaziergängen in den ersten beiden Tagen bereits klargeworden, auch wenn diese mich bisher nur einen kleinen Teil des Seebades haben sehen lassen.
Ich bin noch gar nicht losgegangen, sondern gerade erst auf dem Weg von meinem Zimmer zur Tür der Pension Linde, die mir für die Zeit meines Aufenthaltes in Prerow Quartier gewährt, da fällt mein Blick auf ein an der Wand im Flur aufgehängtes, gerahmtes Blatt Papier, dessen Überschrift meine Aufmerksamkeit weckt. Kapitän Johann Niemann lese ich und halte inne.
‚Den Namen habe ich doch schon irgendwo gelesen‘, geht es mir durch den Kopf, doch brauche ich einige Minuten, um zu überlegen, wo das denn gewesen war. Schließlich fällt mir der Waldweg am Prerower Strom wieder ein, in dessen Nähe ich am ersten Abend meines Aufenthaltes hier auf einer Bank am Prerower Strom ein wenig verweilt hatte. Ein Straßenschild war so freundlich gewesen, mir seinen Namen mitzuteilen: Johann-Niemann-Weg. An jenem Abend hatte ich dem nicht viel Beachtung geschenkt und einfach angenommen, daß es sich bei dem mir unbekannten Namensgeber wohl um irgendeine Persönlichkeit handeln mochte, die für die Prerower von einiger Bedeutung gewesen war. Daß ich damit richtig gelegen hatte, kann ich nun dem Text des gerahmten Blattes entnehmen, in den ich mich mittlerweile vertieft habe.
Es ist eine kurze Beschreibung des Lebens dieses Johann Niemann, der im Jahre 1866 geboren worden war und als Sechsjähriger die große Sturmflut von 1872 miterlebte, die den Ort Prerow nahezu vollständig überschwemmte. Seinen sehnlichen Wunsch, zur See zu fahren, verweigerte ihm der Vater zunächst, doch der Junge setzte schließlich seinen Willen durch. Er heuerte als Schiffsjunge bei einem Prerower Kapitän an, wurde später Matrose und schließlich Steuermann auf Handelsschiffen. Er brachte es bis zum Kapitän und fuhr als solcher mehr als zehn Jahre auf großen Segelschiffen um die Welt. Im Jahre 1906 kehrte er, seinen Abschied von der Seefahrt nehmend, nach Prerow zurück. Doch blieb er dem Meer verbunden und übernahm alsbald die Führung der Prerower Seenotrettungsstation.
An dieser Stelle muß ich kurz innehalten, denn mir kommt unwillkürlich das alte, rote Ziegelhaus mit dem spitzen Dach und den beiden an seiner westlichen Schmal- beziehungsweise Frontseite nebeneinanderliegenden großen Toren in den Sinn, an dem ich an jenem Abend vorübergekommen war, als ich, vom Johann-Niemann-Weg kommend, den Deich passiert hatte. Ein einzelne große Fichte hatte links neben dem Gebäude gestanden, und über den beiden Toren hatte ich die Aufschrift Seenotstation – Prerow lesen können. Während das rechte der beiden Tore geschlossen gewesen war, hatten die beiden Flügel des linken offengestanden. Allerdings boten sie dennoch keinen Zugang zu dem Gebäude, denn die gesamte Toröffnung war verglast gewesen wie ein riesiges Fenster, was mir etwas merkwürdig vorgekommen war. Ich hatte es mir zu diesem Zeitpunkt nur so erklären können, daß diese alte Seenotstation nicht mehr in Betrieb war und man aus ihr eine Art Museum gemacht hatte. Damit lag ich allerdings völlig falsch. Im Jahre 1884 für die sechzehn Jahre zuvor begründete Rettungsstation errichtet, wird das Gebäude heute wie damals von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger genutzt. In früheren Zeiten hatte sich hinter einem der beiden Doppeltore ein Ruderrettungsboot befunden, während hinter dem anderen der Leinen- und der Raketenwagen standen. Nachdem sie 2001 umfänglich saniert worden war, beherbergt man heute in der alten Station ein SAR-Mobilfahrzeug[5]Bei einem SAR-Mobilfahrzeug handelt es sich um einen allradgetriebenen Mannschaftstransportwagen., das zu rettungsdienstlichen Zwecken zum Einsatz kommt. Auf der anderen Seite befindet sich nun ein Schulungs- und Trainingsraum, für den man, um für ausreichend Licht zu sorgen, die rückwärtige Front dieser Seite entsprechend verglast hat[6]Diese Informationen zur Geschichte und heutigen Nutzung der alten Seenotstation stellte mir freundlicherweise Christian Stipeldey, der Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft zur Rettung … [Weiterlesen].
Sie näher in Augenschein zu nehmen, war mir allerdings nicht vergönnt gewesen, da ein Zaun das Grundstück, auf dem sie stand, umgrenzte, dessen Zugangstor man verschlossen hielt. So war ein vom Deich herab aufgenommenes Foto das, womit ich mich zu begnügen hatte.
Ich lese weiter. Mehr als siebzig Menschen verdankten Johann Niemann und seiner Truppe ihr Leben. Noch als Siebzigjähriger rettete er im Jahre 1936 zehn polnische und drei holländische Seeleute aus höchster Not, nur mit einem Ruderrettungsboot ausgestattet. Ehrungen hat er dafür nicht erwartet, doch blieben sie nicht aus. Dennoch lebte er zurückgezogen in der Prerower Waldstraße. Und an dieser Stelle des Textes wird mir auch klar, warum ich diesen hier in meiner Pension zu lesen bekomme. Denn das Haus, in dem Johann Niemann bis zu seinem Lebensende im Jahre 1963 lebte, ist heute die Pension Linde.
Ich finde es stets ausgesprochen interessant, mehr über die Orte zu erfahren, die ich besuche. Und es bereitet mir jedesmal Freude, wenn ich dabei Geschichten entdecke, die diese Orte miteinander verbinden; ob kleine oder große, spielt dabei eigentlich keine Rolle. Irgendwie habe ich dann immer das Gefühl, daß die Welt oder das Leben mir ein weiteres ihrer Geheimnisse offenbart haben und ich sie wieder ein bißchen besser kennenlernen konnte. Und so freut es mich auch hier besonders, nun die Geschichte erfahren zu haben, die einen Waldweg, einen alten Rettungsschuppen und die Pension Linde mit dem Menschen Johann Niemann verbindet.
Schräg über die Straße vor meiner Pension befinden sich zwei weitere der orangefarbenen Schilder, auf deren eines ich bereits an meinem ersten Abend in Prerow gestoßen war, und zwar vor der Bäckerei Koch. Tatsächlich gibt es davon in dem Seebad mindestens vierundvierzig! Gemeinsam bilden sie, jedes mit einer eigenen Nummer versehen, einen historischen Rundgang[7]Einen Überblick über die einzelnen Stationen des Rundgangs gibt es auf der Website www.fischland-darss-zingst.net. Dieser ist allerdings aus irgendeinem Grund nicht vollständig und verzeichnet … [Weiterlesen] und weisen Interessierte auf historische Gebäude, Plätze oder sonstige Sehenswürdigkeiten Prerows hin. An den ersten beiden Tagen hatte ich bereits einige von ihnen entdecken können. Diese befanden sich stets in der Nähe des jeweils von ihnen vorgestellten Ortes. Wenn ich aber angenommen hatte, daß dies immer der Fall wäre, muß ich, als ich nun die Straße überquere, um die beiden Tafeln näher in Augenschein zu nehmen, feststellen, daß dem keineswegs so ist. Vielmehr scheint es sich bei den Schildern lediglich um mit Erklärungen erweiterte Wegweiser zu handeln, die man an Straßenkreuzungen aufgestellt hat, damit sie auf Sehenswürdigkeiten hinweisen, die in diesen Straßen jeweils zu finden sind. Dabei kann, wie ich den Entfernungsangaben auf ihnen entnehmen kann, ein gutes Stück Wegs von diesen Wegweisern zu den Orten, die sie beschreiben, zurückzulegen sein. So ist beispielsweise dem Hinweis auf das Darß-Museum zufolge dieses von hier aus ganze 450 Meter in westlicher Richtung zu finden. Auch fällt mir auf, daß man auf dem Rundgang wohl eher die Orte numeriert hat und nicht die Tafeln. Die mir hier auf deren Vor- und teils auch Rückseite präsentierten Hinweise tragen nämlich die Nummern 10, 14 und 26. Das und das Fehlen jeglichen Hinweises auf die Richtung, in der die jeweils nächste Station des Rundgangs liegen könnte, macht es mir leider völlig unmöglich, diesem allein anhand dieser Tafeln zu folgen. Ich versuche es daher erst gar nicht und suche mir fortan meinen eigenen Weg durch den Ort, wobei ich die Tafeln nur noch als das verwende, was sie sind: Wegweiser.
Der Nummer 26 gelingt es als erste, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mir wird die Statue einer Jungfrau vorgestellt, die ein Berliner Fabrikant namens Eckert 1884 gestiftet hatte, um seine Verbundenheit mit Prerow auszudrücken. Auf dem alten Foto, das die Tafel zeigt, ist sie leider nur undeutlich zu erkennen, wirkt aber wie ein recht bedeutendes und auch schönes Denkmal. Was mich allerdings verwirrt, ist die Entfernungsangabe. Ganze fünf Meter soll die Statue entfernt sein. Nun, da müßte ich sie eigentlich von hier aus sehen können. Doch ganz offensichtlich ist das nicht der Fall. Ich schaue nach links, dann nach rechts. Nein, keine Statue. Ein erneuter Blick auf die Tafel verrät mir des Rätsels Lösung. Ich habe den letzten Satz des Textes übersehen: „Heute befindet sie sich im Garten des Darß-Museums.“ Nun gut, dann habe ich ja jetzt ein Ziel. Nummer 14. Und die ist 450 Meter entfernt.
Tatsächlich ist es weiter weg. Das liegt aber nicht daran, daß die Entfernungsangabe auf der mir den Weg weisenden Tafel ungenau wäre, sondern ist in meiner Entscheidung begründet, zunächst die näher liegende Nummer 10 aufzusuchen. Auf dem alten Foto ist ein langgestrecktes, zweistöckiges Haus mit schrägem Dach und einem Vorsprung in der Mitte zu sehen, vor dem sich einige Bäume reihen, was es etwas schwierig macht, sein Aussehen genau zu erkennen. Ein wenig erinnert es an ein Bahnhofsgebäude. Als ich die Waldstraße in der angegebenen Richtung entlangblicke, kann ich es, obwohl die Entfernung nur 140 Meter betragen soll, nicht entdecken. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als mich dorthin auf den Weg zu machen. Ich versuche, mir das Bild, so gut es geht, einzuprägen, merke mir aber zur Sicherheit auch noch den Namen des Gebäudes: Restaurant Maria Rosa. Nun, das sollte sich ja finden lassen.
Als ich kurz darauf vor dem Gebäude angekommen bin – es steht fast an der Ecke zur Bergstraße, jedoch etwas zurückgesetzt, so daß ich es nicht hatte sehen können -, erkenne ich es eigentlich nur an dem Namen des Restaurants und vage an seiner Form. Gegenüber der historischen Aufnahme auf der Tafel hat es sich doch gewaltig verändert. Die Baumreihe ist verschwunden und einem Vorplatz gewichen, den ein hölzerner Zaun und zusätzlich eine gläserne Wand zur Straße hin abgrenzen. In deren Mitte wird ein Durchgang von einem großen Schild überwölbt, das jedem, der es wissen will, in großen Lettern verkündet, daß sich hier das Ristorante Maria Rosa befindet. Zwei den Namenszug flankierende Darstellungen der italienischen Flagge weisen unmißverständlich auf die Art der hier angebotenen Küche hin. Hatte das Gebäude auf dem alten Foto noch eine hölzerne Fassade besessen, so ist diese heute einfachem Putz gewichen, der sich in knallroter Farbe dem Auge des Betrachters präsentiert. Die alten Fenster mit den markanten weißen Fensterkreuzen sind ebenfalls verschwunden und haben großen, modernen Scheiben Platz gemacht. Daß man hier ein historisches Gebäude vor sich hat, das mehr als einhundert Jahre alt ist, kann man beim besten Willen nicht erkennen. Nur eines wird beim Anblick unmißverständlich klar: ein Bahnhof ist es nicht.
So schön das Wegweiser-Konzept auch ist, zeigt mir diese Erfahrung doch, daß es für einen historischen Rundgang vielleicht doch nicht ganz so gut geeignet ist. Es bereitet einem Ortsunkundigen wie mir unter Umständen gewisse Schwierigkeiten, die gezeigten historischen Gebäude anhand der präsentierten alten fotografischen Aufnahmen aufzufinden, wenn sie sich in größerer Entfernung von der Hinweistafel befinden und ihr Aussehen mittlerweile stark verändert haben.
Das Gebäude, das auf dem historischen Rundgang die Nummer 10 darstellt, ist jedoch nicht wegen des darin untergebrachten italienischen Restaurants interessant, sondern wegen seiner Geschichte. Und die hat mit Gastronomie eigentlich überhaupt nichts zu tun, sondern vielmehr mit Bildung. Hier gründete nämlich im Jahre 1921 Fritz Klatt gemeinsam mit seiner damaligen Ehefrau Edith das erste Volkshochschulheim in Deutschland. Klatt, der später Professor wurde, war ein bedeutender Reformpädagoge. Seine Ehefrau, Edith Klatt, wurde in den 1930er Jahren Ärztin und betätigte sich auch als Schriftstellerin. Dabei wurde sie vor allem als Kinderbuchautorin bekannt. Bis 1971 wohnte sie im benachbarten Gebäude des einstigen Volkshochschulheims. Jenes mußte auf Druck der deutschen Faschisten 1934 in ein Freizeit- und Erholungsheim umgewandelt werden und wurde 1939 schließlich geschlossen.
Ich muß zugeben, daß ich diese Informationen mit einigem Erstaunen zur Kenntnis nehme. Prerow war, vorwiegend basierend auf meinen Kindheitserinnerungen, in meiner Vorstellung stets nur ein vergleichsweise kleiner Ort gewesen, den ich lediglich mit Urlaub und Tourismus in Verbindung gebracht habe. Hier auf Spuren bedeutender Persönlichkeiten und Ereignisse zu stoßen, läßt mein Herz als an Geschichte Interessierten nicht nur sogleich höher schlagen, sondern vermittelt mir wieder einmal die Lektion, niemals das Kleine und scheinbar Unscheinbare zu unterschätzen – ein Irrtum, dem Großstädter wie ich leider allzu oft erliegen.
Ich kehre zurück zu den Wegweisern und gehe, diese hinter mir lassend, nun die Waldstraße in der entgegengesetzten Richtung entlang. Es sind nur einige Minuten vergangen, da kann ich auf deren linker Seite einen einzelnen hohen, hölzernen Pfahl entdecken, auf dessen oberem Ende ein gezacktes, weißes Etwas zu sitzen scheint. Kann ich mir zunächst keinen Reim darauf machen, um was es sich dabei handeln könnte, werden die Einzelheiten immer klarer, je näher ich dem Pfahl komme, bis sich das fragwürdige Etwas schließlich in die Schnitzerei eines großen Schiffes mit zahlreichen weißen Segeln an drei Masten verwandelt hat. Darunter ist ein blauer Streifen zu sehen, auf dem in großen weißen Buchstaben zu lesen ist, worauf das Bildnis verweisen will: DARSS-MUSEUM PREROW.
So lang waren die vierhundertfünfzig Meter also letztlich gar nicht. Anstelle des angekündigten Museums kann ich allerdings zunächst nur einen Fußweg finden, der in rechtem Winkel von der Waldstraße nach Süden wegführt – in die Richtung, in die auch das Segelschiff auf dem Pfahl unterwegs zu sein scheint. Ich nehme das als Hinweis und biege von der Waldstraße ab, um dem Weg zu folgen.
Dabei muß ich gleich zu Beginn eine Reihe von hölzernen Pfählen passieren, die auf den ersten Blick so wirken, als stünden sie etwas wahllos in der Gegend herum. Noch vor dem vordersten hat man ein kleines weißes Schild aufgestellt, auf dem eine schwarzweiße Fotografie eine Gruppe Schirmmützen tragender Männer zeigt, die gemeinschaftlich bemüht sind, einen solchen Holzpfahl aufzustellen. Ein paar Zeilen unter dem Bild plazierten Texts erläutern, was ich vor mir sehe. Pfähle dieser Art, so heißt es da, rammt man in den Boden des Meeres – es kann auch ein See sein -, um dazwischen Netze zu spannen, sogenannte Reusen, mit denen man dann Fische fängt. Nun, Netze sind hier keine zu sehen, aber es gibt ja an dieser Stelle auch kein Gewässer. Ich denke aber, ich kann mir trotzdem einigermaßen vorstellen, wie eine solche Reuse wohl aussehen mag. Und auch ohne Netz gelingt es diesen Reusenpfählen sicherlich, interessierte Urlauber einzufangen, die dann anschließend das Darß-Museum besuchen.
Auch ich folge dem Weg dorthin, der mich nach wenigen Metern auf einen Hof führt, der an drei Seiten von Gebäuden umschlossen ist. Das Haus an seiner Nordseite, an dessen Giebelfront vorbei ich den Hof erreiche, besitzt eine hölzerne Fassade und ist vielleicht sogar in Gänze aus Holz errichtet. Bekrönt wird es von einem der charakteristischen Spitzdächer aus Reet, also Schilf, die man hier auf dem Darß so oft findet. Es ragt ein wenig über die Hauswand hinaus und überdeckt so einen vor dieser gelegenen schmalen Gang, der zur Tür des Hauses führt. An der mir zugewandten Hausecke steht eine mächtige Eiche, deren Stamm meiner Schätzung nach einen Umfang von wenigstens zwei Metern besitzt. Dementsprechend mächtig und weit ausladend sind die gewaltigen Äste des Baumes, die er in alle Richtungen streckt, so daß seine mächtige Krone das Haus und den Hof gleichermaßen überschattet. Dessen Westseite wird von einem weiteren Haus eingenommen, das, aus Stein errichtet, ein ebensolches Spitzdach besitzt wie das erste, nur daß dieses nicht aus Schilf, sondern aus braunen Dachziegeln besteht. Der Bau vermittelt den Eindruck eines ganz normalen Wohnhauses. Und doch wirkt er ebenso wie das erste Haus gegen das an der dritten, der Südseite des Hofes errichtete Gebäude vergleichsweise klein. Komplett aus Ziegeln erbaut und mit einem Schrägdach aus schiefergrauen Schindeln versehen, macht es auf mich einen außerordentlich massiven Eindruck. Schenke ich der Form dieses Hauses zunächst keine große Beachtung, stelle ich, nachdem ich an ihm vorbeigegangen bin und seine gegenüberliegende Seite in Augenschein nehmen kann, fest, daß es in seiner Grundfläche die Form des Buchstabens U besitzt, der hier jedoch recht breit ausfällt und mit zwei vergleichsweise kurzen Seitenflügeln ausgestattet ist. Ich vermute, daß dieses große Gebäude das eigentliche Museum beherbergt – eine Theorie, die ich leider nicht überprüfen kann, denn wie ich kurz darauf erfahren muß, ist das Darß-Museum wegen größerer Umbauarbeiten seit 2021 geschlossen; ein Zustand, der noch das ganze Jahr 2023 anhalten soll.
Na gut, dann eben nicht. Ich hatte ja sowieso einen Rundgang durch den Ort vorgehabt und keinen Museumsbesuch. Obwohl der vielleicht interessant gewesen wäre, denn das Darß-Museum ist eine durchaus bedeutende Einrichtung. Im Jahre 1953 gegründet, war es zunächst nicht viel mehr als ein Heimatmuseum, das sich mit dem Darß befaßte und vorwiegend aus persönlichen Erinnerungsstücken bestand, die aus dem Familienbesitz von Einwohnern stammten. Weil sich darunter jedoch einige bedeutende Seefahrerfamilien des 18. und 19. Jahrhunderts befanden, hatte die Sammlung bereits einige interessante und historische Stücke zu bieten. Die Gründung des Museums war daher auch nicht staatlich veranlaßt worden, sondern ging auf das Engagement der hier lebenden Bürger zurück. Mit der Zeit wuchs die Sammlung immer mehr an, so daß ihr schließlich an ihrem ersten Unterbringungsort der Platz ausging. So verlegte die Gemeinde im Jahr 1980 das Darß-Museum in das Gebäude, in dem es sich noch heute befindet. Sie erwarb das 1939 gebaute Haus von der Familie von Groß, die es einst als Privatpension hatte errichten lassen. Mit dem Umzug verband man schließlich auch offiziell die Erweiterung der Einrichtung zum Landschaftsmuseum, zu dem sie sich zuvor ohnehin schon stetig entwickelt hatte. Heute umfaßt sie Bereiche wie Geologie, eine Frischpflanzenschau, Vogelkunde, Fischereigeschichte, Segelschiffahrt und die spezifische Darßer Baukultur, für die sie mit einer sehenswerten Haustürensammlung aufwarten kann. All das zu sehen, ist mir nun angesichts der verschlossenen Museumspforten verwehrt, was ich ein wenig bedauere. So bleibt mir lediglich ein Rundgang über das Gelände.
Denn bevor ich weitergehe, möchte ich noch einen Blick auf die Jungfrau-Statue werfen, die sich, wie mir die Wegweiser-Tafel mit der Nummer 26 vorhin verraten hatte, irgendwo im Garten des Darß-Museums befinden soll. Um sie dort zu finden, sollte ich ja schließlich nicht in das Museum hineinmüssen. Tatsächlich entdecke ich sie schon nach wenigen Schritten direkt neben dem großen Gebäude. Fast wäre ich auf meiner Suche an ihr vorbeigelaufen, da ich, dem historischen Foto, das ich auf der Hinweistafel gesehen hatte, folgend, nach einer lebensgroßen Statue auf einem hohen Sockel suche. So bin ich dann doch einigermaßen überrascht, eine Skulptur vorzufinden, die mir samt dem Podest, auf dem sie steht, gerade einmal bis zur Brust reicht.
Es ist die ausgesprochen hübsche Figur einer jungen Frau, die sich, die Hände zusammengelegt und ein Bein vor das andere gestellt, gegen eine Stele lehnt, auf der sie sich mit einem Ellenbogen abstützt. Sinnend blickt sie in die Weite. Während mancherorts zu lesen ist, es handle sich um die Darstellung einer betenden Jungfrau[8]Siehe beispielsweise Bernd Goltings: Die gußeiserne Jungfrau von Prerow, Zeitschrift Der Darßer, Ausgabe vom Januar 2020, Seiten 37 ff., macht die dargestellte junge Frau auf mich eher den Eindruck, als erschaue sie gedankenverloren etwas, das nur ihrem Blicke sichtbar ist, vielleicht etwas, das in ihrer Erinnerung liegt und dem sie nachsinnt, das sie möglicherweise bedauert oder nach dem sie sich sehnt. Mit ihrem gewellten und hinter dem Kopf zu einem einfachen Knoten zusammengesteckten Haar, ihrer die linke Schulter frei lassenden Tunika und dem langen Rock sowie den einfachen Sandalen an den Füßen sieht sie aus wie geradewegs der Antike entstiegen. Nein, fromm-religiös wirkt sie auf mich keineswegs, eher lebensfroh und sinnlich.
Am Sockel der kleinen Statue entdecke ich zwei Inschriften. Die obere – ein Sinnspruch – besteht nur aus zwei Zeilen:
Gott durch seine Güte
Prerow stets behüte.
Die weißen Buchstaben sind auf ihrem schwarzen Grund klar und deutlich zu lesen, was auch für die darunter angebrachte zweite Tafel zutrifft:
Der Gemeinde
PREROW.
Gewidmet von
AD: ECKERT
aus Berlin. 1884.
Zwei Tafeln, doch keine verrät den Künstler, der die Skulptur einst schuf. Lediglich ihr Stifter wird genannt, doch sein Name bleibt unvollständig. Beide Tafeln wirken, als wären sie nagelneu. Dasselbe gilt für den Sockel, an dem sie angebracht sind und auf dem die kleine, etwa ein Meter große Statue steht. Ganz offensichtlich ist es nicht der originale, denn dieser hier ist lediglich ein aufrechtstehender schlichter Betonquader, der die Höhe der Statue keineswegs erreicht. Soweit ich die alte, etwas verschwommene Fotografie von dem mehr als 450 Meter entfernten Wegweiser noch in Erinnerung habe, war der dort abgebildete ursprüngliche Sockel bestimmt doppelt so hoch wie die auf ihm befindliche Figur und besaß mehrere Abstufungen, die ihn sich nach oben hin verjüngen ließen, so daß er den Blick gewissermaßen zur Statue hinaufführte. Das gelingt dem heutigen, um vieles niedrigeren Sockel beim besten Willen nicht.
Ich will mehr über den Stifter herausfinden, dem Prerow dieses künstlerische Kleinod verdankt, muß jedoch feststellen, daß die Informationen über ihn spärlich gesät sind. Ich erfahre lediglich, daß sein vollständiger Name Adolf Eckert lautete und er, der ein Fabrikant aus Berlin war, in den 1880er Jahren regelmäßiger Badegast in dem kleinen Darßer Fischerdorf gewesen ist, das Prerow damals war. Er muß sich hier stets sehr wohlgefühlt haben, denn er beschloß während seines vierten Aufenthaltes, dem Ort ein großzügiges Geschenk zu machen – eben jene gußeiserne Statue, die ich nun vor mir sehe. Da er sich den Standort selbst aussuchen durfte, entschied er sich für den von Stechpalmen eingefaßten kleinen Platz an der Waldstraße, an dem ich die Hinweistafel zu der Statue gefunden hatte. Dieser soll damals ein recht beliebter Ort in Prerow gewesen sein, was angesichts des etwas tristen Zustands, in dem er sich heute befindet, kaum noch vorstellbar erscheint. Bis zum Zweiten Weltkrieg hat die Statue an diesem Platz gestanden. Als sie dann einem im Ort umlaufenden Gerücht zufolge das Schicksal so vieler anderer Kunstwerke teilen sollte, für den Kriegs- und Rüstungswahn der deutschen Faschisten eingeschmolzen zu werden, gingen die Prerower lieber auf Nummer Sicher und versteckten die Figur. Erst in den 1950er Jahren tauchte sie wieder auf, als man sie – ohne ihren Sockel, der wohl inzwischen verlorengegangen war – am Eingang der Heimatausstellung aufstellte, die der Prerower Maler und Grafiker Theodor Schultze-Jasmer in seiner Darßer Kunsthütte am Hauptübergang veranstaltete. Warum man sie danach allerdings nicht wieder an ihrem alten Standort aufstellte, bleibt im Dunkel der Geschichte verborgen. Sie wurde stattdessen dem Darß-Museum übergeben, wo sie für lange Zeit den Blicken der Öffentlichkeit entschwand. Erst 1998 gelang es, sie restaurieren zu lassen – eine Arbeit, die der Metallbildhauer Achim Kühn[9]Achim Kühn ist der Sohn des bekannten Kunstschmieds Fritz Kühn, der beispielsweise den sogenannten Schwebenden Ring des Brunnens auf dem Berliner Strausberger Platz oder auch das bekannte A-Portal … [Weiterlesen] und der Kunstrestaurator Wolfram Vormelker übernahmen. Anschließend stellte man die Figur hier an ihrem jetzigen Standort auf dem Gelände des Darß-Museums auf.
Angesichts der Geschichte dieser Statue bleibt es für mich ein ungelöstes Rätsel, warum man die Statue auf der Tafel des Historischen Rundgangs als Altes Denkmal bezeichnet, denn dieses schöne Werk eines unbekannten Künstlers soll eigentlich an nichts erinnern – außer vielleicht an die Begeisterung und Dankbarkeit eines einstigen Besuchers des kleinen Ostseebades Prerow.
Ich verlasse das Gelände des Darß-Museums auf dessen anderer Seite und spaziere ein Stück die Hülsenstraße in westlicher Richtung entlang. Es ist interessant, daß diese in einer gewissen Beziehung zu der Jungfrauenstatue steht, die ich gerade so eingehend betrachtet habe, zweigt doch die Hülsenstraße an deren einstigem Standort, dem bereits erwähnten kleinen, von Stechpalmen eingefaßten Platz, von der Waldstraße ab. Und eben diese Einfassung des dadurch zum Dreieck gewordenen Platzes verhalf der Hülsenstraße einst zu ihrem Namen, denn als Hülsen bezeichnet man im hiesigen Volksmund die Stechpalme. So hat eben alles seine Bedeutung und vieles hängt miteinander zusammen.
Da es mich heute nicht in Richtung Darßwald zieht, nutze ich die nächstbeste Gelegenheit, um zurück zur Waldstraße zu gelangen. Diese bietet sich mir in Form eines schmalen Weges, der zwischen den Zäunen zweier Grundstücke entlangführt. Wieder an der Waldstraße angelangt, biege ich alsbald in den Bernsteinweg ein, den ich bereits von meiner Wanderung zum Weststrand am Tag zuvor kenne. Hier weist mich eine weitere Tafel des Historischen Rundgangs auf das nahegelegene Wieland-Haus hin, das ich etwa fünfzig Meter von ihr entfernt auf der rechten Straßenseite entdecken kann. Es ist ein ganz in Rot gehaltenes, im Darß-Stil errichtetes altes Holzhaus mit einem majestätischen Reetdach. Seinen Namen hat es von dem Unternehmen Wieland – Nordische Buch- und Kunsthandlung, das der Major a. D. Martin von Wedelstädt hier im Jahre 1920 gegründet hatte und das, noch immer im Besitz der Familie, bis zum heutigen Tage in dem Hause residiert. Ein gläserner Schaukasten direkt am Zugangsweg zeigt mir eine Auswahl des angebotenen Sortiments.
Nun, nach Einkaufsbummel ist mir gerade nicht zumute. Und so lasse ich den Besuch in der Buchhandlung aus und wandere weiter den Bernsteigweg entlang, bis ich schließlich die Villenstraße erreiche. An dieser Stelle bin ich gestern nach links in den Darßwald abgebogen, um zum Weststrand zu gelangen. Diesmal folge ich der Empfehlung des hier aufgestellten Wegweisers jedoch nicht, sondern halte mich an einen Hinweis, den ich gestern hier bereits bemerkt hatte und dessentwegen ich den Weg hierher eingeschlagen habe. An der Einmündung der Villenstraße in den Bernsteinweg war ich am Vortag nämlich auf eine weitere der orangenen Tafeln gestoßen, deren Inhalt mein Interesse geweckt hatte. Von weitem sieht es so aus, als lehne sie entspannt an einem Baum. Beim Näherkommen wird jedoch erkennbar, daß offenbar irgendwann einmal jemand ihrer Halterung einen heftigen Stoß versetzt haben mußte, wodurch diese aus ihrer eigentlich lotrechten Position geraten und gegen den Baum gedrückt worden war, der die Tafel dann vor dem doch recht unwürdigen Sturz auf den Boden freundlicherweise bewahrt hatte. Der Text dieser Tafel erzählt von einem alten Jagdschloß, daß Blockhaus genannt wird und sich etwa einhundertzwanzig Meter von hier entfernt in der Villenstraße befinden soll. Das will ich mir dann doch einmal ansehen.
Ich muß nicht lange suchen. Zwar hat man an dem Gebäude oder in seiner unmittelbaren Nähe auf jeden weiteren Hinweis verzichtet, doch ist der Bau aufgrund seiner Beschaffenheit wirklich außerordentlich leicht zu identifizieren. Es handelt sich tatsächlich um ein, wie mir zunächst scheint, zur Gänze aus Holz errichtetes Haus, das auf den ersten Blick als Blockhaus zu erkennen ist. Doch selbst auf den zweiten oder dritten Blick kann ich keine Merkmale identifizieren, die ich für gewöhnlich mit einem Schloß verbinde, so daß sich mir unwillkürlich der Gedanke aufdrängt, man habe auf der Hinweistafel die Bezeichnungen verwechselt und es handle sich in Wahrheit um ein Blockhaus, daß man als Altes Jagdschloß bezeichnet. Doch wie dem auch sei, es ist ein überaus beeindruckender Bau, umgeben von einem prachtvollen Grundstück. Vom Zaun, an dem ich stehe, führt ein geziegelter Weg über eine Rasenfläche, auf der mehrere hohe Kiefern stehen. Vier Stufen führen am Ende des Weges zu einem etwas erhöhten Areal hinauf, auf dem sich schließlich das Blockhaus erhebt, das mir eine seiner Längsseiten zuwendet. Es ist, bei genauerem Hinsehen, jedoch nicht völlig aus Holz erbaut worden, denn zumindest sein Sockel scheint mir aus massiverem Material zu bestehen. Welches das ist, kann ich hinter dem weißen Putz nicht erkennen. Darüber ragt die aus quer übereinanderliegenden Stämmen gebildete Fassade zweieinhalb Etagen in die Höhe und wird oben durch ein spitz zulaufendes Dach abgeschlossen, das jedoch mit schlichter Dachpappe gedeckt ist. Das Holz ist in einer so dunkelbraunen Farbe gehalten, daß die Fassade aus der Entfernung fast schwarz wirkt. Der linken Hälfte des Hauses ist im unteren Stockwerk eine Veranda vorgesetzt, die von der Mitte bis zur Ecke des Gebäudes und um diese herum reicht. Ihr schräges Dach stützt sich auf mehrere Holzpfeiler, denen umlaufende Einkerbungen Struktur verleihen, die durch weiße, blaue und rote Farbstreifen noch verstärkt wird. Aus den Pfeilern am oberen Ende austretende Schrägstützen helfen, das Gewicht des Daches der Veranda zu tragen. Ein hölzernes Geländer, dem dezente Durchbrüche den Anschein einer Balustrade verleihen, umschließt diese und läßt lediglich an der rechten Seite einen Zugang offen, zu dem eine kleine Holztreppe hinaufführt.
Und auch wenn sich nach meinem Empfinden die Bezeichnung „Schloß“ zumindest durch die äußere Erscheinung des Hauses nicht rechtfertigen läßt, muß ich doch zugeben, daß mir dieses ausnehmend gut gefällt. Der Tafel am Anfang der Villenstraße habe ich entnommen, daß das im nordischen Stil gehaltene Blockhaus einst dem Sohn Kaiser Wilhelms II., Prinz Eitel Friedrich, gehört hatte, der es als Jagdschloß nutzte. Damals hatte es allerdings nicht hier im Ort gestanden, sondern hatte sich am nahe am Weststrand gelegenen Esperort im Darßwald befunden, wo es 1905 auf Veranlassung des Prinzen errichtet worden war. Nachdem die deutsche Novemberrevolution am Ende des Ersten Weltkrieges die deutsche Monarchie endgültig zum Teufel gejagt hatte, war es allerdings für den Prinzen mit den Jagdausflügen an die Ostsee vorbei, so daß das Haus in den frühen 1920er Jahren schließlich verkauft wurde. Dem neuen Besitzer war sein Standort allerdings wohl zu weit abgelegen. Er ließ es kurzerhand abtragen und an seinem heutigen Platz wiedererrichten. Wem es heute gehört und welchem Zweck es dient, verrät die Tafel allerdings nicht. So darf ich wohl annehmen, daß es sich in privatem Besitz befindet.
Ein Stück weiter macht die Villenstraße eine Biegung nach rechts. Genau an dieser Stelle beginnt der Prerower Deich, der von hier aus zunächst in südöstlicher und nach einer nicht weit entfernten Biegung in östlicher Richtung verläuft und den Ort vom Prerower Strom trennt. Daß er von hier aus nicht weiter in die entgegengesetzte Richtung führt, hat seinen Grund darin, daß das hinter dem Deich liegende Gewässer hier zu Ende ist. Das war allerdings nicht immer so, denn einst war der Prerower Strom ein Seegatt. Damit bezeichnet man im allgemeinen eine Strömungsrinne, die Landmassen wie Inseln oder Halbinseln voneinander oder vom Festland trennt und in der das Wasser ständig hin- und herfließt, ein Umstand, der meist von den Gezeiten verursacht wird. Derartige Strömungsrinnen sind meist eher schmal, können jedoch durchaus eine Tiefe von bis zu dreißig Metern erreichen. Auch der Prerower Strom war einst eine solche Rinne, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein den Bodstedter Bodden mit der Ostsee verband und so die Halbinsel Fischland-Darß vom Zingst, der damals noch eine Insel war, auf einer Länge von etwa zehn Kilometern trennte. Als es, wie ich bereits aus der Geschichte um den Kapitän Johann Niemann weiß, im November des Jahres 1872 an der Ostsee zu einer großen Sturmflut kam, wurde eine riesige Menge Wasser vom Meer in den Strom gedrückt, der umgehend über die Ufer trat. In der Folge dieses bis heute schwersten Ostseesturmhochwassers, das die gesamte Küste von Dänemark bis Pommern heimsuchte, wurde Prerow nahezu vollständig überflutet. Fünfzehn Menschen kamen dabei zu Tode.
Für die Einwohner des Ortes war dieses Ereignis natürlich ein Schock. Damit sich derartiges nicht wiederholen sollte, entschloß man sich, den Ort besser zu schützen. Insbesondere war den hier ansässigen Menschen die Verbindung des Prerower Stromes mit der Ostsee ein Dorn im Auge. Die Sturmflut hatte hier zwar zu einer Versandung geführt, doch gedachte man, dem Wasser gänzlich die Möglichkeit zu nehmen, den Ort auf diesem Wege noch einmal zu erreichen. Also nutzte man die bereits vorhandenen Sandmassen und schüttete den nördlichen Teil des Stromes vollständig zu, der damit seine Verbindung zum Meer verlor. Das wiederum schloß den Zingst mit dem Darß zusammen und formte die große, zerklüftete Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Genaugenommen erhielt damit Prerow erst jetzt seinen Strand, denn dieser hatte sich bis dahin ja auf der Insel Zingst befunden. Zusätzlich errichtete man neue Deiche zu beiden Seiten des Gewässers, deren südlicher gerade hier, wo ich nun stehe, beginnt. Er dürfte jedem, der von irgendwo im Zentrum des Ortes zum Strand gelangen möchte, ins Auge fallen, ist er doch sehr markant. Völlig baum- und strauchlos, lediglich von Rasen bewachsen und auf seiner Kammlinie mit einem Fußweg ausgestattet, kann man ihn eigentlich nicht übersehen, zumal der Anstieg, den man hinter sich bringen muß, um ihn zu überqueren, durchaus merkbar ist. Demgegenüber wird der viel niedrigere Deich, der den Strom inmitten des Dünenwalds auf dessen nördlicher Seite begleitet, meist übersehen.
Wo der Deich beginnt, verlasse ich die Villenstraße und biege nach links auf eine anscheinend namenlose Straße ein. Jedenfalls ist nirgendwo ein Schild zu sehen, das ihren Namen verraten würde. Nach wenigen Metern erreiche ich den Johann-Niemann-Weg, auf dem ich einen kurzen Abstecher zum Strom mache in der Hoffnung, vielleicht ein paar Wasservögel beobachten zu können. Und tatsächlich habe ich Glück, denn bereits nach wenigen Metern höre ich lautes Geschnatter. Aus dem Schilfgürtel am jenseitigen Ufer kommt eine Schar Graugänse geschwommen. Aufgeregt schwimmen sie hin und her und schnattern lautstark aufeinander ein. Offenbar können sie sich über irgendetwas nicht einigen. Ich muß unwillkürlich schmunzeln, als ich versuche, mir vorzustellen, um was es in diesem „Streitgespräch“ wohl gehen mag. Vielleicht um die Frage, welches der vielversprechendste Futterplatz ist? Ganz offensichtlich kommt keine Einigung zustande, denn vier der sechs Gänse entschließen sich nach einiger Zeit, ihrer Wege zu ziehen und die anderen beiden zurückzulassen. Diese schauen ihren davonschwimmenden Gefährten noch eine Weile hinterher, bevor auch sie sich schließlich in Bewegung setzen, um sich auf ihre eigene Suche zu begeben.
Ich kehre schließlich zu der namenlosen Straße zurück, der ich weiter folge. Eigentlich ist das Ende des Prerower Stroms mein Ziel, doch muß ich alsbald einsehen, daß dieses zu erreichen ein Ding der Unmöglichkeit ist, denn es führt kein Weg dorthin. Ich überlege kurz, ob ich einfach auf’s Geratewohl in den Dünenwald hineinstapfen soll, nehme aber Abstand von dieser Idee, als ich mir das Gelände genauer besehe und feststelle, daß es rings um das Ufer am Ende des Stroms recht sumpfig zu sein scheint. Mir nasse Füße zu holen, darauf lege ich beim besten Willen keinen gesteigerten Wert. So folge ich der Straße, um zu sehen, wohin sie mich wohl führt.
Nun, das ist schnell herausgefunden. Zu einem Zeltplatz. Davon scheinen sie hier in Prerow ja ausreichend zu haben. Den Namen Sonnencamp, den man dem eingezäunten Areal gegeben hat, empfinde ich angesichts seiner Lage mitten im Dünenwald allerdings als ziemlich irreführend, wird es doch nahezu vollständig von den Kronen hoher Kiefern beschattet. Ich wandere daran vorüber, bis ich die hohe Sanddüne vor dem Strand erreicht habe, vor der ich nach rechts auf einen Waldweg einbiege, der zwischen der Düne und dem Zaun des Zeltplatzes entlangführt. Habe ich anfangs noch die stille Hoffnung, recht bald wieder zurück zum Prerower Strom gelangen zu können, muß ich angesichts der Ausdehnung des Zeltplatzareals alsbald einsehen, daß daraus nichts werden wird, denn der Weg wird länger und länger. Als ich zu guter Letzt endlich das jenseitige Ende des Zeltplatzes erreicht habe, bin ich bereits soweit gelaufen, daß ich keine Lust mehr habe, weiter nach einem Weg zum Nordende des Prerower Strom zu suchen. Wahrscheinlich gibt es sowieso keinen.
Mein Weg mündet auf einen weiteren, der links auf die Düne und über diese hinweg zum Strand führt. Und weil ich dort oben eine Bank erkennen kann, entschließe ich mich, hinaufzusteigen und eine kleine Rast einzulegen. Dort angekommen, setze ich mich, hole einen Apfel aus meinem Rucksack und schaue, während ich diesen esse, entspannt auf’s Meer, dessen Oberfläche sich in der lauen Brise nur ganz leicht kräuselt.
BUMM!
Ich schrecke hoch. Was war das?
BUMM!
Ich lausche.
BUMM!
Wer, verflixt nochmal, macht denn hier solchen Lärm?
BUMM!
Wieder und wieder ertönen die wummernden Schläge, die sich anhören, als ginge irgendwo eine Dampframme zu Werke.
BUMM!
Ich schaue mich um. Als ich meinen Blick in Richtung Osten wende, dorthin, wo der Prerower Hauptübergang zum Strand gelegen ist, entdecke ich etwas, das gestern noch nicht da gewesen ist, daß ich aber dennoch bereits gesehen habe. Dort, wo die Reihe der Pfeiler der neuen Seebrücke, die bereits ein Stück ins Meer hineinreicht, aufhört, liegt jetzt eines der beiden großen Bauschiffe vor Anker, die ich gestern noch im Nothafen am Darßer Ort gesehen hatte. Und auch das andere kann ich kurz darauf entdecken. Es hat etwas weiter draußen Position bezogen, wo sich der steinerne Wall befindet, auf den ich mir bei meinem ersten Besuch am Strand am Nachmittag meiner Ankunft hier in Prerow keinen Reim hatte machen können. Auch jetzt bin ich nicht viel schlauer.
BUMM!
Der Knall richtet meine Aufmerksamkeit wieder auf das erste Schiff, denn wie mir scheint, kommt das Geräusch von dort. Ich schaue genauer hin. Das Schiff liegt längs vor der Pfeilerreihe, die genau an seinem Heck aufhört. Dort ragt nun ein riesiger Kran in die Höhe, der ein rundes Etwas auf den letzten Pfeiler der Reihe abgesenkt hat, das genau auf diesem aufsitzt.
BUMM!
Kein Zweifel! Der Knall kommt von diesem runden Etwas. Jetzt fällt mir auch auf, daß der Pfeiler unter diesem viel weiter aus dem Wasser ragt als die anderen, die vor ihm zum Ufer hin stehen.
BUMM!
Wieder und wieder, in streng regelmäßigen Abständen, tönen die Schläge zu mir herüber. Ganz offensichtlich ist man dort gerade dabei, einen weiteren Pfeiler in den sandigen Meeresboden zu rammen. Wenn das stimmt, lag ich mit meiner Assoziation einer Dampframme doch gar nicht so falsch…
Daß diese Annahme richtig ist, erweist sich nach vielen weiteren Schlägen, die mit steter Regelmäßigkeit viele Minuten lang ausgeführt werden. Zwar kann ich nicht erkennen, was genau das runde Etwas über dem Pfeiler ist, wie es angetrieben wird und was genau in seinem Inneren auf den Pfeiler einschlägt – von außen ist keine Bewegung zu sehen -, doch nachdem ich überaus geduldig gute zehn Minuten dort hinübergestarrt habe, meine ich zu erkennen, daß der Pfeiler nun schon ein bedeutendes Stück weniger über die Wasseroberfläche hinausragt als zu dem Zeitpunkt, an dem die Schläge begonnen haben.
BUMM!
Und dann: Ruhe. Nichts. Kein Schlag mehr. Nanu? Sollte es das gewesen sein? So richtig vorstellen kann ich mir das nicht, ragt doch der Pfeiler immer noch deutlich über die anderen hinaus. Merkwürdig. Vielleicht muß etwas nachjustiert werden? Ich sehe Arbeiter, die von hier aus klein wie Ameisen wirken, sich zum Heck des Schiffes hinbewegen. Sie scheinen etwas zu überprüfen. Dann gehen sie wieder zurück. Sie sind offenbar zufrieden mit dem Ergebnis, denn kurz darauf setzen die Schläge mit neuem Elan wieder ein.
BUMM!
BUMM!
BUMM!
Nun, das dauert offenbar noch länger. So interessant die Wiederaufnahme der Bauarbeiten an der neuen Seebrücke an diesem ersten Arbeitstag nach Ostern auch sein mag, ist es auf die Dauer doch ein bißchen eintönig, den unsichtbaren Schlägen auf den zukünftigen Seebrückenpfeiler, der nur quälend langsam im sandigen Meeresboden versinkt, von hier aus zuzusehen. So hänge ich mir meinen Rucksack schließlich wieder um die Schultern und wandere die Düne hinab zwischen die Bäume.
Der Weg führt ein Stück hinein in den Dünenwald, wobei ihn anfangs noch der Zaun des Zeltplatzes begleitet, von dem er sich jedoch nach einigen Metern mittels eines Schwenks nach links abwendet, um ihn nun endgültig hinter sich zu lassen. Parallel zur Düne wandere ich zwischen den Kiefern dahin, die mir mit ihren großen Kronen die Sonne weitestgehend vom Leib halten. Dennoch haben sie genügend ihrer Nadeln zu Boden fallen lassen, um diesen damit großzügig zu bedecken. Auch hier hat man links und rechts des Weges zwischen niedrigen Pfosten Drähte gespannt, um jeden Spaziergänger auf selbigem zu halten. Ich bin noch nicht lange gegangen, da erreiche ich einen weiteren Strand und Ort verbindenden Pfad, dessen gelb-orange-rote Ziegel mir bereits bestens bekannt sind. Ich bin wieder in vertrauten Gefilden.
Da ich mit meinem Ausflug zum Dünenwald doch ein gutes Stück von meinem eigentlichen Vorhaben, Prerow zu erkunden, abgekommen bin, beschließe ich, nun wieder landeinwärts zu streben, um ins Zentrum des Ortes zurückzukehren. Bald habe ich die Bäume hinter mir gelassen und den Prerower Strom sowie den ihn begleitenden Deich überquert. Zwischen den ersten Häusern hindurch spaziere ich zurück ins Zentrum des Ortes. Mein Ziel ist nun die Bergstraße, die dort, wo der Hauptübergang auf die Waldstraße trifft, diesen in gerader Richtung nach Süden fortsetzt. Als ich sie schließlich erreicht habe, staune ich ein weiteres Mal darüber, wie sehr sich hier alles gegenüber damals, als wir in Prerow unsere Sommerurlaube verbracht haben, verändert hat. Anstelle der einfachen Kaufhalle mit dem Parkplatz davor steht heute hier ein schmuckes Haus mit roter Holzfassade im Obergeschoß und Läden darunter. Entfernt erinnert es an das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite, in dem sich das Ristorante Maria Rosa befindet. Eine Kaufhalle gibt es hier nach wie vor, die heute allerdings niemand mehr so nennt. Heute heißt das entsprechende Geschäft natürlich viel bedeutender „Supermarkt“ und wird von der Edeka-Kette betrieben. An der Frontseite des Gebäudes befindet sich allerdings lediglich ein Eingang, die eigentliche große Halle des Supermarkts liegt dahinter und ist von der Straße aus nicht zu sehen, ebenso wie der angeschlossene Parkplatz, den es ebenfalls noch gibt. So ist hier für ein ansprechendes Ortsambiente gesorgt.
Natürlich darf an diesem wichtigen, zentralen Platz einer der markanten Prerower Wegweiser nicht fehlen. Er unterstreicht seine und die Wichtigkeit des Ortes dadurch, daß er mit seinen Armen in alle vier Haupthimmelsrichtungen gleichzeitig deutet. Im Osten sind die Kurverwaltung, die Bushaltestelle, der Hafen, die Post und ein Arzt zu finden, nach Westen geht es zum Leuchtturm, zum Weststrand, zum Darß-Museum und zum Campingplatz. Wer sich nach Norden wendet, gelangt zur Ladenstraße und zum Strand, findet die Seebrücke und einen Tennisplatz. Und im Süden liegt offenbar die Sparkasse. Hier bleibt niemand uninformiert. Und weil es ja ein typisch Prerower Wegweiser ist, thront über all diesen Hinweisen natürlich auch eine ortsbezogene Holzschnitzerei, die hier ein paar Möwen zeigt, die auf dem gelben Sandstrand der Ostsee sitzen.
Ich wandere die Bergstraße hinauf, vorbei an einem Bekleidungsgeschäft, einem Tabakladen und einem Blumengeschäft. Gegenüber befindet sich das Darßer Brauhaus. Auf den ersten Blick ist es lediglich ein Restaurant, doch wie der Name bereits verrät, wird hier auch Bier gebraut. Und wie sonst sollte es wohl heißen als Darßer. Dabei hat die Qual, wer die Wahl hat. Neben den allseits beliebten Biersorten Pils, Weizen und Dunkel sind auch ausgefallenere im Angebot: India Pale Ale, Bock und Himbeerweizen. Ein wenig bedauere ich, daß ich nicht jeden Abend hier einkehren und alle probieren kann. Doch die Küche ist, wenn auch ausgesprochen gut, so doch sehr deftig. Will ich also nach der einen Woche Urlaub nicht kugelrund und zehn Kilogramm schwerer wieder nach Hause kommen, sollte ich mich zurückhalten und des Abends auch nach anderen Speisenangeboten Ausschau halten.
Die Bergstraße hat sich hier, wo sie im Zentrum des Ortes verläuft, zu einer kleinen Geschäftsstraße gewandelt. Als wir damals in den 1980ern alljährlich hierher kamen, gab es auf der linken Straßenseite nur eine wildbelassene Wiese mit reichlich Schilf an einem Fließ, während auf der rechten Seite zwar Häuser standen, doch meine Erinnerung mit diesen keine Geschäfte oder Restaurants verbindet. Heute laufe ich links an einer Drogerie und einem Fahrradverleih vorüber, während rechts ein italienisches Restaurant auf Kunden wartet. Ein Stück weiter die Straße hoch, schräg gegenüber der Bäckerei Koch, in der wir stets Quartier bezogen, hatte es früher eine Art Kinderferienlager gegeben. Ich erinnere mich noch sehr gut an unseren Urlaub im Jahr 1987, als wir jeden Morgen pünktlich um sieben Uhr förmlich aus unseren Betten fielen, weil uns von der anderen Straßenseite Jürgen von der Lippe lautstark sein Guten Morgen, liebe Sorgen entgegenschmetterte – natürlich nur in konservierter Form und nicht live. Warum auch immer der Frühsport in den Ferien um sieben Uhr morgens stattfinden mußte – der dafür verantwortliche Betreuer hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, die Kinder zum Frühsport zu motivieren, indem der Morgen für Morgen dieses Lied in ohrenbetäubender Lautstärke erklingen ließ, so daß der ganze Ort etwas davon hatte. Am Ende des Urlaubs konnte ich den Text auswendig. Er gehört zu den nutzlosen Dingen, die ich nie wieder aus dem Kopf bekommen werde, so lange ich lebe.
Nun, das Kinderferienlager gibt es nicht mehr und auch nicht dessen Hof oder Vorplatz, der von der Bergstraße durch einen Zaun abgetrennt war. Als ich auf der rechten Straßenseite das italienische Restaurant passiert und das kleine Fließ überquert habe, das noch genau wie damals von jeder Menge Entengrütze bedeckt und an den Rändern mit Schilf bestanden ist, finde ich anstelle des Platzes, auf dem die Kinder einst ihren Frühsport absolvierten, lediglich ein bis an die Straße vorgerücktes Haus. Und auch gegenüber steht ein Neubau, in dem die Sparkasse residiert. Immerhin hat man an der Ecke zur Grünen Straße einen kleinen Platz belassen, den man mit einer Art Kunstwerk geschmückt hat. Auf einem niedrigen, mit großen Feldsteinen gepflasterten Hügelchen steht eine runde, schräge Metallplatte, aus der mehrere hohe Stangen aus demselben Material ragen, von denen jede an ihrem oberen Ende eine kleine runde Kugel trägt. Knapp unter der halben Höhe sind diese Stangen durch eine kreisrunde, schräg eingesetzte Metallscheibe miteinander verbunden, die in der Mitte ein Loch besitzt. Auf der den beiden hier aufeinandertreffenden Straßen abgewandten Seiten des kleinen Hügels stehen Bänke, die wohl dazu einladen sollen, ein wenig zu verweilen und das Kunstwerk zu studieren. Nachdem ich es eine Weile betrachtet habe, ohne mir einen Reim darauf machen zu können, was es wohl darstellen soll, suche ich nach einer Tafel oder Plakette in der Hoffnung, eine Erklärung zu erhalten. Als ich keine finden kann, gebe ich es auf und setze meinen Weg fort, der mich als nächstes nach Westen in die Grüne Straße hineinführt.
Auch wenn ich mich nun also vom östlichen Teil der Grünen Straße abgewandt habe, ist mir nicht entgangen, daß sie dort heute ein fein säuberlich verlegtes Straßenpflaster besitzt. Das war zu den Zeiten, als wir hier früher Urlaub machten, noch völlig anders. Wenn wir aus dem Fenster unseres Zimmers im ersten Stock der Bäckerei Koch schauten, hatten wir die Grüne Straße genau unter uns. Und es war nicht zu übersehen, daß ihr Name im Vergleich zu ihrer Beschaffenheit auf dieser Seite nicht weiter von der Realität hätte entfernt sein können, war sie hier doch eigentlich nicht viel mehr als ein überaus staubiger Sandweg. Einigermaßen bequem darauf gehen konnte man eigentlich nur nach einem satten Regenguß, wenn der Sand feucht und damit fest war. Das war wohl auch der Grund, daß nur selten einmal ein Auto hier entlangfuhr, und wenn das doch geschah, wunderte man sich eigentlich stets, daß es nicht im Sand steckenblieb. In der Zeit seit damals hat man das natürlich radikal geändert. Wie gerade frisch verlegt wirken die vielen einzelnen Pflastersteine, die mit ihren schnurgeraden Kanten so ideal aneinanderpassen, daß sich keine nennenswerte Lücke zwischen ihnen auftut. Hier tanzt keiner aus der Reihe, keiner ragt über die anderen hinaus. Gemeinsam bilden sie eine völlig plane Oberfläche. Hier herrscht nun strikte Ordnung anstelle des sandigen Chaos‘.
Auch in westlicher Richtung, in der ich nun unterwegs bin, ist die Straße heute in einem viel besseren Zustand als damals. Ich muß gar nicht weit gehen, da habe ich auf der linken Straßenseite mein Ziel schon erreicht. Umgeben von einem, soweit ich es von der Straße aus sehen kann, nicht allzu großen Grundstück, das vorwiegend aus grünem Rasen besteht, auf dem sich ein paar niedrige Büsche tummeln, sehe ich eine alte, typische Darßer Fischerkate vor mir. Mit ihrer nahezu quadratischen Grundfläche wäre es eigentlich nicht so recht möglich zu sagen, welche ihrer Seiten die Front- und welche die Längsseiten bilden, wäre da nicht das spitze Reetdach, dessen First parallel zur Straße verläuft und von dem sich die Dachflächen weit hinunter bis kurz über das Erdgeschoß ziehen, dessen Fenster sich unter ihnen förmlich zu ducken scheinen. Da ihre Fensterläden weit geöffnet sind, so daß sie die Hauswand in Teilen verdecken, und sich in der mir zugewandten Seite des Hauses neben den Fenstern auch noch die Eingangstür befindet, kommt die tiefe weinrote Farbe der hölzernen Wände hier gar nicht so unmittelbar zur Geltung. Dafür fällt sie um so mehr an den Giebelseiten des Hauses ins Auge. Hier gibt es zwar ebenfalls Fenster, doch hat sich das Dach hier soweit zurückgezogen, daß es auch dem zweiten Stockwerk erlaubt, sich mittels Fenstern in der Außenwand zu zeigen. Überhaupt sind die beiden Giebelseiten eine recht interessante Merkwürdigkeit, ermöglichen sie es doch so gar nicht, von ihrem Erscheinungsbild auf die Beschaffenheit der Räume im Inneren des Hauses zu schließen. Die hier sichtbaren Fenster weigern sich beharrlich, auch nur die geringste Form von Regelmäßigkeit an den Tag zu legen, und das in jeglicher Hinsicht. Sie besitzen weder die gleiche Größe noch die gleiche Form. Sind einige quadratisch, so bilden andere Rechtecke, von denen manche hochkant stehen und andere quer liegen. Eines besitzt Läden, die anderen nicht. Selbst die Anzahl der Scheiben variiert von Fenster zu Fenster. Da verwundert es eigentlich auch schon nicht mehr, daß auch die Anordnung der Fenster jegliches System vermissen läßt. Manche liegen nah beieinander, andere sind weit voneinander entfernt. Und die, die sich zumindest im selben Stockwerk befinden, sind noch nicht einmal auf gleicher Höhe plaziert worden. Fast sieht es so aus, als habe man sie einfach rein zufällig über die Giebelwände verteilt. Daß diese natürlich auch kein einheitliches Erscheinungsbild haben, ist fast schon müßig zu erwähnen. Hier hat man, wie es aussieht, eher nach Zweck gebaut und nicht nach Aussehen. Möglicherweise hat sich dieses auch im Laufe der vielen Jahre, die das Haus hier schon steht, nach und nach verändert, weil man ein neues Fenster einfach dort eingebaut hat, wo es erforderlich wurde. Im Jahre 1779 erbaut, ist die Fischerkate eines der ältesten erhaltenen Wohnhäuser in Prerow. Und das sieht man ihr auch durchaus an. Auf dem Reetdach hat sich Moos angesiedelt, das die Schilfhalme von oben bis unten bedeckt und dem Gebäude ein ehrwürdiges Aussehen verleiht. Nicht ganz in der Mitte der der Straße zugewandten Seite des Hauses befindet sich der Eingang, der durch eine der typischen Darßer Türen verschlossen ist. Diese ist ein besonders schönes Exemplar. Ganz in einem matten, dunklen Blau gehalten, ist sie in drei Felder unterteilt, die die alten Darßer Motive zeigen und deren größtes sich in der Mitte befindet. Es präsentiert einen Tulpenstrauß in einer Vase, dessen rote Blüten zwischen dunkelgrünen Blättern hervorleuchten. Darüber erstrahlt im oberen Feld eine hinter dem Horizont bereits halb aufgestiegene gelbe Sonne, während sich im unteren eine gelb-rote Blüte öffnet, die sich ihr entgegenreckt. Eingefaßt wird diese Tür von einem im gleichen Blauton gehaltenen Gewände, dessen seitliche Pfosten an ihren Sockeln je ein kleines Mosaik zeigen, das sich aus fünf übereinanderliegenden Reihen mit je zwei Quadraten zusammensetzt und in denen die Farben Gelb, Grün und Rot einander abwechseln. Der ebenfalls blaue Türsturz ist mit einem angedeuteten Giebeldreieck versehen, in dem sich in der Mitte ein weit geöffneter roter Fächer befindet. Türschloß und Klinke heben sich mit ihrer tiefschwarzen Farbe deutlich ab. Sie scheinen, soweit ich das von der Straße aus erkennen kann, aus Schmiedeeisen zu bestehen, dem gleichen Material, das man auch für den rechts neben der Tür angebrachten Klingelzug verwendet hat, der überdies sehr kunstvoll als Blattranke gestaltet ist. Links hängt eine Laterne mit schwarzem Metallrahmen und milchweißem Glaskolben. Darunter ist auf einer schwarzen, quadratischen Holzplakette in Orange die Hausnummer zu sehen: 8. Als ich genauer hinsehe, kann ich neben dieser noch zwei weitere hölzerne Schilder entdecken, die ebenso gestaltet sind. Das obere ist aus der Entfernung noch recht gut zu lesen: Eschenhaus steht dort. Und darunter: erbaut 1779. Das untere ist schon schwerer zu entziffern, da die Schrift viel kleiner ist. Doch glücklicherweise sind meine Augen immer recht gut gewesen, und so kann ich schließlich lesen: Th. Schultze-Jasmer. Maler u. Graphiker.
Theodor Schultze-Jasmer. Auf diesen Namen bin ich heute schon einmal gestoßen. Er war derjenige, durch dessen Heimatausstellung die Prerower Jungfrau-Statue in den 1950er Jahren erstmals nach ihrem Verschwinden in den Kriegsjahren wieder in der Öffentlichkeit auftauchte. In diesem altehrwürdigen Fischerhaus hat er also gelebt. Doch wer war er? Ein Schaukasten, der am Zaun an der Straße aufgestellt ist und dessen hölzerner Rahmen in ebensolchem Rot leuchtet wie die Kate, verrät mir hier an Ort und Stelle bereits das eine und andere, weiteres finde ich später heraus. Geboren wurde er im Jahre 1888 in Oschatz. Ein Sachse also. Nun, das sind tolle Leute, wie ich aus eigener familiärer Erfahrung weiß. Er studierte an der Königlichen Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe zu Leipzig, woraufhin er als freischaffender Gebrauchsgrafiker in eben jener Stadt zu arbeiten begann. Die kurze Zeit darauf in Einzelausgaben erschienenen Werke Theodor Storms verdankten ihm die Gestaltung ihrer Einbände. Den Ersten Weltkrieg erlebte er hautnah mit und überstand unter anderem die Hölle von Verdun. Danach kehrte er in seinen Beruf zurück. 1921 kaufte er das Haus, vor dem ich stehe, und zog hierher auf den Darß. Kurz darauf gründete er gemeinsam mit dem Maler Erich Theodor Holtz die Darßer Kunsthütte. Auch den Zweiten Weltkrieg war er gezwungen, aus erster Hand mitzuerleben, als er 1945 doch noch eingezogen wurde. Er überlebte und kehrte schließlich aus Holland zu Fuß nach Prerow zurück. Wieder daheim, nahm er seine früheren Tätigkeiten als Maler und Grafiker sowie Betreiber der Darßer Kunsthütte wieder auf – und machte sich alsbald als der Maler des Darß einen Namen. In dem Schaukasten sind einige seiner Werke zu sehen, wenn auch nur in kleinen Reproduktionen. Und doch vermitteln sie einen Eindruck von seinem Werk, in dem der Maler die Urwüchsigkeit und Rauhheit, aber auch die Schönheit und Idylle der Natur, der Landschaft und der Dörfer des Darß einfing, oftmals viel einprägsamer und realer, als manche Fotografie es könnte. Insbesondere die von den Seewinden gepeitschten Bäume am Ufer des Weststrands hatten es ihm angetan, für die er den heute allseits bekannten Begriff des Windflüchters geprägt haben soll. Als er 1975 starb, führte man seine Darßer Kunsthütte in Prerow weiter. Mit dem Ende der Deutschen Demokratischen Republik war dann allerdings auch ihre Zeit abgelaufen. 1989 hörte sie genau wie das Land auf zu existieren. Und auch das Atelier des Malers, das er sich neben seinem Wohnhaus eingerichtet hatte, gibt es heute nicht mehr. Man hat es 2014 abgerissen. Immerhin erinnern der Schaukasten und die kleine Tafel neben der Eingangstür des Eschenhauses noch heute an den Maler des Darß. Woher das Haus seinen Namen hat, ist, wenn man davorsteht, nicht schwer zu erraten. Die große Esche, die rechts neben dem mit Steinplatten ausgelegten, vom Zaun zu der bunt bemalten Eingangstür führenden Weg steht, gibt darauf einen überaus deutlichen Hinweis.
An das Eschenhaus erinnere ich mich noch aus der Zeit unserer Urlaube in Prerow. Auch daß es mit Theodor Schultze-Jasmer in Verbindung gestanden hatte, ist mir zuvor schon bekannt gewesen. Ich muß allerdings gestehen, daß ich mich damals nicht sonderlich für Malerei und andere bildende Kunst interessierte, so daß ich viel mehr bisher tatsächlich nicht wußte. Von dem Haus hatte ich eigentlich nur auf unseren Ausflügen zum Weststrand, zu dem die Grüne Straße einen bewährten Zugang bildet, Notiz genommen, und daß auch nur deshalb, weil es in einem so markanten Weinrot leuchtete, was man schließlich nicht alle Tage zu sehen bekommt, und mir sein damals schon bemoostes Schilfdach und die bunt bemalte Eingangstür als Kind überaus gut gefielen. Da sich meine Eltern im Gegensatz zu mir allerdings für den Maler und sein Werk interessierten, hatte sich mir zumindest sein Name eingeprägt. Nun endlich, mehr als dreißig Jahre später und nach Prerow zurückgekehrt, kann ich dieses Interesse teilen.
Mein Weg führt mich nun wieder zurück zur Bergstraße, die mich, an der einstigen Bäckerei Koch vorüber, weiter in den südlich gelegenen Teil Prerows bringen soll. An der Straßenecke steht ein weiterer der typischen Prerower Wegweiser. Auch dieser deutet in alle vier Richtungen auf sehenswerte oder zumindest wichtige Ziele, doch muß ich leicht enttäuscht zur Kenntnis nehmen, daß das Eschenhaus seiner Ansicht nach offenbar nicht dazugehört; und das, wo er doch in seiner ihn bekrönenden Schnitzerei zwei typische Darßer Fischerhäuser zeigt. Na, macht nichts. Ich habe die historische Kate ja auch ohne seine Hilfe gefunden.
Zu dem Gebäude der alten Bäckerei gehört noch ein Grundstück, das sich die Bergstraße entlang daran anschließt und von dieser durch einen Zaun getrennt ist. Dahinter wälzt ein weiteres der unzähligen kleinen Fließe seine trägen Wasser durch die Wiesen. Diese Wasseradern, die auch Priele genannt werden, durchziehen den gesamten Darß und sind teils natürlichen Ursprungs, wenn sie infolge von Überschwemmungen durch Bodden- oder Ostseewasser entstanden sind, teils aber auch im Laufe der Zeiten künstlich angelegt worden. Begegnet man ihnen heute, kann man als unbedarfter Wanderer in der Regel die einen nicht von den anderen unterscheiden.
An das Fließ schloß sich auf der linken Straßenseite meiner Erinnerung zufolge früher eine Wiese an, die, wie ich angesichts der übrigen Veränderungen im Ort etwas überrascht feststelle, auch heute noch vorhanden ist. Ich gehe daran entlang, bis ich die dahinter befindlichen Häuser erreiche. Ein Straßenschild an der nächsten Querstraße weist mich darauf hin, daß sie den etwas eigenartigen Namen Am Zentral trägt. Eigenartig ist er deshalb, weil weit und breit nichts zu sehen ist, was als Zentral bezeichnet werden und an dem die Straße gelegen sein könnte. Dem Ortsunkundigen gibt das möglicherweise Rätsel auf, mir hilft wieder einmal meine Erinnerung weiter.
Denn das Zentral war dasjenige der damals hier im Ort ansässigen FDGB-Heime, das man uns Urlaubern, die privat in einem der von der Bäckerei Koch vermieteten Zimmer untergekommen waren, für den Mittagstisch zugewiesen hatte[10]Auf diese Praxis bin ich bereits im vorangegangenen Artikel dieser Serie eingegangen.. Zumeist jedenfalls, denn ich erinnere mich, daß wir in einem Jahr – oder waren es zwei? – auch einmal ein anderes zugeteilt bekamen. Doch egal, in welches der FDGB-Heime wir zu gehen hatten, wir waren stets froh, auf diese Weise zeitsparend zu einem geregelten Mittagessen zu kommen. Wie das Zentral genau aussah, kann ich heute nicht mehr genau sagen. Ich weiß nur noch, daß es ein größerer Bau im Stile einer Villa war, die allerdings eher schmucklos daherkam. Vielleicht gab es auch noch einige Nebengebäude. Wenn ich versuche, mir das Heim wieder vorzustellen, fällt mir lediglich ein großer Speisesaal mit einer Theke ein, von der wir unsere Getränke bekamen. Als ich daran denke, taucht unvermittelt ein großes Glas Club-Cola vor meinem inneren Auge auf. Ich muß wohl bereits als Kind etwas für dieses Getränk übrig gehabt haben. Zu dem Speisesaal gehörte auch eine Veranda, die allerdings vollständig verglast war. So saß man dort zwar nicht im Freien, doch hatte man zumindest Tageslicht, was vielleicht der Grund war, daß ich stets lieber dort einen Tisch ergattern wollte. Nach oben hin abgeschlossen war diese Veranda durch ein Dach, von dem ich noch weiß, daß es erstens schräg und zweitens im Inneren mit etwas verkleidet war, das an ein Flechtwerk erinnerte. Dieses war an einigen Stellen bereits brüchig, und witzigerweise steckten hier und dort Sektkorken aus Plastik darin, die man nach einer Feier offenbar nicht mehr herunterbekommen hatte. Das Kind, das ich damals war, muß wohl von dieser Skurrilität recht beeindruckt gewesen sein…
Bevor das Gebäude ein unter dem Namen Zentral firmierendes FDGB-Heim wurde, hatte es bereits eine längere Geschichte hinter sich. 1882 erbaut, diente es von Beginn an als Etablissement des Gastgewerbes. Sein erster Besitzer Karl Mildahn benannte es der Einfachheit halber nach sich selbst und gab ihm den Namen Hotel Mildahn. Vermutlich nach einem Wechsel des Eigentümers wurde dieser in Harders Hotel geändert. Als es dann im Jahre 1910 von Leopold Grosser erworben wurde, ließ dieser ihm den Namen zuteilwerden, unter dem auch wir es kannten: Central-Hotel, damals noch mit einem C. Das Ende seiner Zeit als Hotel kam dann in der DDR. Wie viele andere private Pensionen und Hotels auch, übernahm der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund das Haus und wandelte es in eben jenes FDGB-Heim Zentral um, das wir dann während unserer Aufenthalte in Prerow nahezu tagtäglich aufsuchten. Nach dem Untergang der DDR und der Übernahme der sogenannten fünf neuen Bundesländer durch die Bundesrepublik Deutschland waren die Tage des Zentral gezählt. Es wurde geschlossen und irgendwann abgerissen. Heute finde ich an seiner Stelle lediglich noch einige mehr oder minder charakterlose Häuser vor, nichts, was sonderlich auffällig wäre und in Erinnerung bliebe.
Die Geschichte des einstigen Hotels erfahre ich von einer weiteren der orangefarbenen Tafeln des historischen Rundgangs, die man allerdings merkwürdigerweise nicht hier an der Einmündung der Straße Am Zentral aufgestellt hat, was naheliegend wäre. Stattdessen wurde sie nochmal eine Querstraße weiter plaziert, versehen mit dem Hinweis, daß man nun einhundert Meter von dem beschriebenen Ort entfernt sei. Fremde dürften so jedoch arge Schwierigkeiten damit haben, ihn aufzufinden. Schließlich existiert das Gebäude, das auf der Tafel noch als Harders Hotel abgebildet ist, heute nicht mehr. Wenigstens gibt der Straßenname Am Zentral noch einen kleinen Hinweis. Zu allem Überfluß hat man allerdings die Tafel, die mit ihrer Vorder- und Rückseite auf zwei verschiedene Orte hinweist, auch noch so plaziert, daß sie derart nah am Zaun eines Grundstücks steht, daß man als interessierter Leser lediglich einen Blick von der Seite auf die Beschreibung der Historie des nicht mehr vorhandenen Etablissements werfen kann, was einige Schwierigkeiten bereitet, sie sich zu Gemüte zu führen. Mir jedenfalls tut bereits nach kurzer Zeit davon der Hals weh, so muß ich ihn seitwärts recken, um den Text lesen zu können.
Ich wandere weiter die Bergstraße entlang und gelange nun in Gefilde des Ortes, die wir damals eher selten aufgesucht haben. Jedenfalls weiß meine Erinnerung mir zu dieser Gegend kaum mehr zu sagen als den Umstand, daß wir den Weg, auf dem ich gerade unterwegs bin, auch einmal gegangen sind. Um so interessierter schaue ich mich um. Während mich nun linkerhand Häuser begleiten, dehnt sich auf der rechten Straßenseite eine große Freifläche in Form einer Weide, die von einem weiteren der Fließe durchzogen wird. Doch bald schon folgen auch dort wieder Häuser. Bei diesen handelt es sich sämtlich um einzeln stehende Wohnhäuser auf mehr oder minder großen Grundstücken, die von Zäunen oder Hecken eingefaßt werden, hinter denen die Besitzer Vorgärten angelegt haben. Hierher verirren sich von den Touristen, die bereits in dieser Vorsaison das Zentrum des Ortes hinreichend dicht bevölkern, wohl nur noch jene, die sich für die Geschichte des Ortes interessieren und sie sich auf dem historischen Rundgang nahebringen lassen wollen, was ihnen jedoch – ich sagte es schon – bedauerlicherweise nicht eben einfach gemacht wird.
An der nächsten, links einmündenden Straße weist mich eine weitere Tafel des Rundgangs auf die Alte Schule hin. Zweihundert Meter soll ich, um jene aufzusuchen, diese, die passenderweise als Schulstraße bezeichnet wird, entlanggehen. Schon überlege ich, mir die Schule einmal anzusehen, da entnehme ich der Tafel gerade noch rechtzeitig, daß sie heute nicht mehr existiert. Nun, dann kann ich mir den Weg sicher sparen. Ihren ehemaligen Standort werde ich ohne einen weiteren Hinweis, was sich heute dort befindet, sowieso nicht finden.
Ich folge der Bergstraße über ein weiteres Fließ und erreiche schließlich dort, wo sie auf die Lange Straße trifft, ihr südliches Ende. Hier finde ich erneut eine Rundgangstafel vor, die mir von der alten Schmiede erzählt. Da es derartige Handwerksbetriebe heute praktisch nicht mehr gibt und sie bestenfalls noch als übriggebliebene Zeugnisse der Vergangenheit existieren, möchte ich sie mir gerne einmal ansehen. Ein historisches Bild hat man von ihr offenbar nicht gefunden, denn die Tafel zeigt lediglich eine etwas unscharfe Aufnahme einer Straße, auf der sich einige Personen in der Nähe der Schmiede befinden sollen, die jedoch nicht zu erkennen ist. Nun, denke ich, wenn sie sich wie angegeben an der Hohen Straße befinden soll, werde ich sie wohl trotzdem finden können, und laufe die Lange Straße entlang in Richtung Westen, der Hohen Straße entgegen. Etwa einhundert Meter Fußweg später muß ich an der entsprechenden Kreuzung jedoch erkennen, daß ich nun, da mir meine eigenen Erfahrungen nicht mehr weiterhelfen können, selbst dem bereits beschriebenen, mit dem Wegweiser-Konzept des historischen Rundgangs verbundenen Problem zum Opfer gefallen bin, denn ich kann die Schmiede beim besten Willen nicht finden. Hier, hundert Meter von dem historischen Foto entfernt, kann ich die heutige Straße nicht mit diesem in Einklang bringen und weiß somit nicht genau, wo ich suchen muß. Ja, mehr noch, eigentlich ist mir sogar völlig unbekannt, ob die Schmiede überhaupt noch existiert.
Da ich auch jetzt nicht zum westlichen Ortsrand oder gar bis zum Weststrand gelangen möchte, kehre ich denn schließlich unverrichteterdinge wieder um und gehe die Lange Straße in die entgegengesetzte Richtung weiter, nach Osten. Wieder ziehen links und rechts einzeln stehende Wohnhäuser an mir vorüber, zu deren jeweiliger Eingangstür der Weg durch einen mal kleineren, mal größeren Vorgarten führt. Einige dieser Häuser sind durchaus einen eingehenderen Blick wert, finden sich doch darunter einige historische Schätze, Wohnhäuser im Stile der typischen Darßer Fischerkaten. Hier steht eines mit Reetdach, dort prunkt ein anderes mit seiner farbenfrohen Darßer Tür, da hinten kombiniert ein drittes beides miteinander. Wer sichergehen will, es wirklich mit einem historisch wertvollen Gebäude zu tun zu haben, orientiert sich einfach am Zeichen des Denkmalschutzes, das dafür ein deutlicher Hinweis ist.
Die Lange Straße trägt ihren Namen keinesfalls zu Unrecht, denn lang ist sie tatsächlich. Stolze 1,2 Kilometer sind es von ihrem Beginn im Nordosten, wo sie von der Hafenstraße abzweigt, bis zu ihrem Ende im Westen, wo sie wieder auf die Hafenstraße zurückführt, der sie bis dahin weitgehend parallel gefolgt ist. In einem vergleichsweise kleinen Ort wie Prerow ist das eine stolze Länge. Der Anteil meines Weges auf ihr beträgt, den kleinen Ausflug nach Westen nicht mitgerechnet, knapp die Hälfte. Als ich diese Entfernung schließlich zurückgelegt habe, erreiche ich einen kleinen, links abzweigenden und zur Hafenstraße hinüberführenden, namenlosen Verkehrsweg, in dem sich eine Bushaltestelle befindet, bestehend aus einer kleinen hölzernen Bude, die ein Schild mit weißen Lettern auf blauem Grund als WC kennzeichnet, und einem nicht viel größeren Wartehäuschen, dessen blaue Holzpfosten und dunkelgrauen Fenster sich beim Näherkommen als aufgemalt erweisen, dessen Schrägdach jedoch an zwei Seiten weit über den eigentlichen Bau hinausragt, wo es von echten hölzernen Pfosten gestützt wird und unter dem sich drei metallene Sitze aneinanderreihen. Ein kleines, unscheinbares weißes Schild hängt an der Vorderkante des Daches, dessen schwarze Buchstaben den ankommenden Busreisenden nüchtern verkünden, daß sie das Ostseebad Prerow erreicht haben. Diese Haltestelle ist Prerows einziger direkter Anschluß an das Fernverkehrsnetz, wie ich einem aushängenden Fahrplan entnehmen kann, der mir mitteilt, daß sich hier des Sommers der Endpunkt einer Fernbusverbindung der Firma Flixbus befindet, der Prerow direkt mit der deutschen Bundeshauptstadt verbindet.
Ein Stück weiter erreicht die Lange Straße die Strandstraße, von der ich noch von früher weiß, daß sie weiter im Zentrum des Ortes direkt in die Waldstraße übergeht, die ich zuvor hinter mir gelassen hatte, als ich der Bergstraße nach Süden gefolgt war. Als Kind hatte mich meiner Erinnerung nach eine Weile die Merkwürdigkeit fasziniert, daß man im Zentrum des Ortes die Waldstraße über die Bergstraße verließ, dieser schnurgerade nach Süden folgte, bis man links in die Lange Straße einbog, auf der es, wiederum weitestgehend schnurgerade, nach Osten ging, wo man dann auf genau jene Straße traf, von der man zuvor gekommen war. Fehlte da nicht etwas? Man hätte dafür doch wenigstens noch einmal links abbiegen müssen, oder nicht? Es hatte eine Weile gedauert, bis ich auf den Gedanken kam, daß die Straßen in diesem Ort wohl in keinem so durchgehend rechtwinkligen Raster angelegt waren, wie ich es aus den Großstädten Berlin und Budapest, in denen ich bis dahin vorwiegend gelebt hatte, zum überwiegenden Teil kannte. Und tatsächlich besitzt die Strand- beziehungsweise Waldstraße einen sehr weiten bogenförmigen Verlauf, der es ihr erlaubt, die Berg- und die Lange Straße, die rechtwinklig zueinander verlaufen, direkt miteinander zu verbinden. Ich bin also gewissermaßen gerade an den Rändern eines riesigen Viertelstücks einer Torte unterwegs. Dieser Gedanke bringt mich nicht nur unwillkürlich zum Schmunzeln, sondern macht mir auch unmittelbar Appetit auf eine schöne Tasse Kaffee und eine ebensolches Stück süßen Gebäcks. Ich beschließe daher, um baldmöglichst in die Mitte des Ortes zurückzugelangen, die Strandstraße für den Rest meines Rundgangs zu meinem Begleiter zu machen.
Doch zunächst hat sie mir gar nicht so sonderlich viel zu bieten. Ausgehend von der Hafenstraße, dehnt sich linkerhand ein großer Parkplatz, der wie eine zerfahrene Wiese aussieht, rechts befindet sich in einem Gebäude, das sich hochtrabend Darss-Passage nennt – warum man das Eszett hier durch ein doppeltes S ersetzt hat, kann wahrscheinlich auch niemand sachlich begründen – ein Supermarkt, vor dem ebenfalls Autos abgestellt sind. Ich mache, daß ich möglichst schnell weiterkomme, und erreiche alsbald wieder einige Häuser, in denen sich links eine Apotheke und rechts irgendein Laden, der sich mir nicht weiter eingeprägt hat, befinden. An der nächsten Straße angekommen, stelle ich fest, daß es wieder die Schulstraße ist. An ihrer Ecke zur Strandstraße befindet sich auf einem großen, von hohen Bäumen bestandenen Grundstück ein großes Gebäude mit einer weißen, leicht vergilbt wirkenden Fassade. Es kommt mir entfernt bekannt vor, und so trete ich neugierig näher. Das Haus vermittelt den Eindruck einer großen Villa. Über einem Souterrain erheben sich zwei Stockwerke und ein kleines Dachgeschoß, über dem, wie mir scheint, ein einfaches Flachdach das Gebäude nach oben hin abschließt. An der Seite zur Schulstraße hin ragt ein nur das Dachgeschoß ausnehmender Erker vor, vor dem sich nahe der Hausecke der Eingang befindet. Zu dem Podest vor seiner Tür führen zwei das Souterrain überwindende Treppen hinauf, eine in Richtung der Schulstraße, die andere zur Strandstraße hin. Überdacht wird dieses Podest von einem kleinen Balkon, der sich vor einem über dem Eingang gelegenen Fenster im oberen Stockwerk befindet und auf zwei weißen Metallstützen ruht, die auf dem Podest fußen. Balkon und Treppengeländer sind ebenfalls aus Metall und in weißer Farbe gestrichen. Sie wirken fast zierlich. Zwischen den beiden Hauptgeschossen des Hauses sind an jeder Seite der mir zugewandten Ecke des Gebäudes Schilder angebracht, deren jedes in roten Buchstaben dessen Namen verkündet: Seestern. Und klein daneben: Villa Luise. Ergänzt werden die Schriftzüge durch jeweils eine in Rot gehaltene Darstellung des namensgebenden Meereslebewesens.
Seestern. Fast fühle ich so etwas wie Freude in mir aufkommen, bin aber gleichzeitig auch ein wenig verwirrt. Natürlich erinnere ich mich an das Haus Seestern. Es war zu der Zeit, als wir in Prerow Urlaub machten, eines der FDGB-Heime gewesen. Und auch für dieses hatten wir – ein- oder zweimal – eine Zuteilung zum Mittagessen erhalten. Ich meine, es war in unseren ersten Urlauben gewesen, noch bevor wir in späteren Jahren dem Zentral zugeordnet wurden, das näher an unserem Quartier in der Bäckerei Koch lag. Allerdings hatte ich geglaubt, der Seestern sei heute, genau wie das Zentral, ebenfalls nicht mehr vorhanden. Denn tags zuvor war ich auf meinem abendlichen Spaziergang am Gemeindeplatz in der Ortsmitte gewesen. Gegenüber diesem befindet sich eine Grünanlage mit einem kleinen Spielplatz in der Mitte, und irgendwie war ich der Meinung gewesen, daß sich das Haus Seestern doch neben dieser befunden hatte. Und da ich es dort gestern nicht mehr hatte entdecken können, war ich natürlich davon ausgegangen, daß man es ebenfalls längst abgerissen hatte. Und nun finde ich es hier. Irgendwie stimmt mich das auf unerklärliche Weise froh. Fast als hätte ich jemand Verlorengeglaubten ganz unvermittelt wiedergefunden. Und doch, ich sagte es bereits, bin ich auch ein wenig verwirrt. War das Gebäude nicht früher rot gewesen? Und wieso steht es jetzt hier? Hatte man es versetzt?
Nun, daß es damals eine andere Farbe hatte, konnte gut sein. Genauso war es aber auch möglich, daß mir meine Erinnerung hier einen Streich spielte und die rote Farbe des Seesterns auf das gesamte Gebäude übertragen hatte. Was die Versetzung anbelangt, komme ich nach reiflicher Überlegung zu dem Schluß, daß ich mich hinsichtlich der Position des Hauses nach all den Jahren einfach geirrt hatte. Wie wahrscheinlich war es wohl, daß man ein derart ehrwürdiges Gebäude in der Zwischenzeit einige hundert Meter versetzt hatte? Und warum um alles in der Welt hätte man das überhaupt tun sollen? Auch sahen die Bäume auf dem Grundstück nicht danach aus, als seien sie erst vor einigen Jahren gepflanzt worden. Nein, hier war ich definitiv einem Irrtum aufgesessen und hatte am Vortag einfach am falschen Ort nach dem Seestern gesucht. Um so froher bin ich nun, daß ich ihn doch noch wiedergefunden habe. Hallo, Seestern!
Direkt an der Straßenecke entdecke ich eine weitere der orangenen Tafeln des Historischen Rundgangs. Und diese erzählt mir sogar etwas zu dem Gebäude, vor dem ich stehe. Allerdings nicht viel. Sie erwähnt, daß ein Badearzt namens Dr. Hans Beu im Jahre 1905 das Gebäude habe errichten lassen, in dem er ein Jugendsanatorium namens Ostsee-Hospiz einrichtete, das Kindern und Jugendlichen als Erholungsort diente, die an den Folgen von Atemwegserkrankungen litten. Das ist auch schon alles. Von der späteren Verwendung des Gebäudes als FDGB-Heim erfährt der Leser dieser Tafel nichts. Das beigefügte Schwarzweiß-Foto zeigt das Haus – offensichtlich schon damals in Weiß gehalten – umgeben von Bäumen, die jedoch noch recht klein sind. Über ihnen ragen im Hintergrund die Flügel einer Windmühle auf. Davon hatte es in Prerow um das Jahr 1900 drei gegeben. Diese hier war bereits im Jahre 1802 im holländischen Stil errichtet worden und bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in Betrieb gewesen. 1954 riß man sie ab. Heute erinnert nur noch der Name der Straße, in der sie einst stand, an sie: Mühlenstraße.
Doch zurück zum Seestern. Dr. Hans Beu starb im Jahre 1947. Ob sein Sanatorium, das zehn Jahre zuvor noch in Betrieb gewesen war[11]Ein paar weiterführende Informationen zu Dr. Hans Beu und seinem Sanatorium sind im Blog von Ulrich Kasparick zu finden., zu diesem Zeitpunkt noch existierte oder ob er es schon vorher aufgrund seines Alters – er wurde 82 Jahre alt – selbst geschlossen hatte, ist mir nicht bekannt. Tatsache ist, daß das Haus zu Zeiten der DDR unter der Verwaltung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes stand, der es als FDBG-Heim nutzte, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Doch damit war mit dem Ende der DDR natürlich Schluß. Der Allgemeinheit steht das Gebäude heute nur noch insofern zur Verfügung, als ihr die Möglichkeit gegeben ist, eine der nun darin untergebrachten Ferienwohnungen zu mieten.
Mein Weg führt mich weiter die Strandstraße entlang, doch bevor ich dieser weiter folge, genehmige ich mir einen kurzen Abstecher in eine Seitenstraße, die gegenüber der Schulstraße in nördlicher Richtung von der Strandstraße abzweigt. Dort an der Ecke habe ich eine weitere Tafel des Historischen Rundgangs entdeckt, die mich auf ein interessantes Gebäude hinweist, das den Namen Vogels Warte trägt und rund achtzig Meter entfernt ist. Diese muß ich auf der Lentzallee genannten Seitenstraße zurücklegen, die allerdings ihrem Namen nicht ganz gerecht wird, und das nicht nur, weil sie eigentlich nur ein unbefestigter breiter Weg ist, sondern auch, weil die sie säumenden Bäume nur auf der linken Wegseite stehen. Unter einer Allee stelle ich mir eigentlich etwas anderes vor.
Die achtzig Meter sind schnell zurückgelegt, und so kann ich bereits nach wenigen Minuten das fragliche Gebäude auf der linken Straßenseite erkennen. Es ist in der Tat kaum zu übersehen, denn auf den ersten Blick wirkt es wie aus der Zeit gefallen. Vollständig aus hellen Ziegeln errichtet, läßt es deutlich die Absicht seines Erbauers erkennen, ihm das Erscheinungsbild einer mittelalterlichen Burg zu geben. Und auch wenn es sich im Gegensatz zu einer solchen nur um ein einzelnes Gebäude handelt, kann man als Betrachter nicht umhin, dies zu bemerken. Dafür sorgen die großen Bogenfenster im Erdgeschoß und die kleineren im ersten Stock ebenso wie die an Zinnen erinnernden Abstufungen des der Straße zugewandten Treppengiebels. Und dann ist da natürlich der trutzige, wenn auch nicht sehr hohe Turm mit seinem quadratischen Grundriß, der nach oben hin tatsächlich durch Zinnen abgeschlossen wird, die vermutlich eine Turmplattform umschließen. Fast bin ich versucht, dort eine Kanone zu vermuten – oder, vielleicht etwas zeitgemäßer, ein Katapult. Da er auf der der Straße abgewandten Seite des Hauses steht, kann ich nur das obere Ende des Turms wahrnehmen. Zu seinen Füßen entdecke ich jedoch einen steil aufwärts führenden Aufgang, vermutlich eine Treppe, die zwischen zwei größeren Ziegelpfosten beginnt und in den ersten Stock hinaufführt. Gestaltet ist dieser Aufgang wie eine Bogenbrücke. Vermutlich soll er an den Übergang über einen nicht vorhandenen Wassergraben erinnern, wie ihn so manche mittelalterliche Burg einst aufzuweisen hatte.
Der Name des Hauses geht auf seinen Erbauer zurück, einen Berliner Gerichtsadministrator namens Vogel, der es in den Jahren 1900 bis 1910 als Sommerresidenz errichten ließ. Außerhalb der Ferien nutzte er es als Fremdenpension, was ihm sicherlich einen einträglichen Nebenverdienst bescherte. Der Turm war dabei nicht nur schmückendes Element, sondern diente auch einem ganz praktischen Zweck, handelte es sich doch um einen Wasserturm. Viel mehr ist über die Geschichte des Hauses nicht herauszufinden. In der Neuzeit stand es lange leer, ein Umstand, der sich dem Erscheinungsbild des dem Gebäude vorgelegenen Gartens nach zu urteilen bis heute nicht geändert hat. Und auch am Hause selbst sind hier und da deutliche Schäden zu erkennen. Die große, an den Treppengiebel gemalte Aufschrift mit dem Namen des Hauses, die ich auf dem der Rundgangstafel beigegebenen historischen Foto erkennen konnte, ist längst verschwunden. Das Gleiche gilt für den hohen Fahnenmast, der sich einst auf dem Turm befunden hatte. Alles in allem ist der Eindruck, den Haus und Garten vermitteln, ein wenig trostlos, was ausgesprochen schade ist. Zwar soll es zwischendurch immer wieder einmal Planungen gegeben haben, das Haus einer wie auch immer gearteten Nutzung zuzuführen, doch scheint daraus bisher nicht allzuviel geworden zu sein. Es dürfte wohl, wie so oft in solchen Fällen, am Geld liegen – oder vielmehr an dessen Abwesenheit.
Zurück auf der Strandstraße, spaziere ich diese weiter entlang und nehme dabei zur Kenntnis, daß sie eindeutig den Eindruck vermittelt, die Hauptstraße des Ortes zu sein. Hatte ich in Berg- und Langer Straße zuletzt ausschließlich Wohnhäuser auf beiden Seiten bewundern können, sind hier in den Bauten alle Arten von Einrichtungen geschäftlichen Lebens untergebracht. Die Apotheke des Ortes hatte ich bereits vor dem Seestern passiert. Nun komme ich an einer Zimmerbörse vorüber, entdecke das Büro eines Immobilienmaklers, ein Fischrestaurant und einen Fahrradverleih sowie einen Friseursalon, der sich hochtrabend Haarstudio nennt, in dem man am Ende aber doch nur die Mähne geschnitten bekommt. Vielleicht wird davon dort aber auch ein Film gedreht, den man am Ende mit nach Hause nehmen kann, wer weiß.
Links zweigt die Mühlenstraße ab, gegenüber die Heinestraße. Ob sie nach dem Dichter des Wintermärchens benannt ist, kann ich nicht feststellen, nehme es aber an – oder hoffe es vielmehr. Menschen wie ihn, die in ihrer Dichtkunst kein Blatt vor den Mund nehmen, bräuchten wir auch heute wieder ganz besonders in diesem Deutschland, das sich für das beste aller Zeiten hält und doch so weit davon entfernt ist.
Die Strandstraße legt sich nun in eine weite Linkskurve. Zumindest könnte man dies denken, wenn man nicht auf die Straßenschilder achtet. In der Tat geht die Hauptfahrbahn in diese Kurve über. Die Strandstraße führt jedoch als kleine Nebenstraße stur geradeaus weiter, was es nötig macht, daß die Hauptstraße den Namen ändert. Und so beginnt an dieser Stelle die Waldstraße. Rechterhand schaue ich auf das weitläufige Gelände einer Schule, die im Hintergrund erkennbar ist und sich als zweckmäßiger, doch wenig schöner Betonbau erweist, der wohl noch aus den Zeiten der DDR stammen dürfte. Doch auch wenn dieser kleine deutsche Staat nicht die allerschönsten Schulen gebaut haben mag, sein Bildungssystem war dem des besten Deutschlands um Längen voraus. Zumindest kann ich mich nicht erinnern, daß wir in meiner Schulzeit unter Lehrermangel gelitten hätten, daß man das Abitur unter Ausschluß wichtiger Grundlagenfächer erhalten konnte oder ich als Schüler Sorge haben mußte, ob meine in der Schule erworbenen Fähigkeiten denn auch für das Erlernen eines Berufs ausreichend sein würden.
Als ich der geradeaus weiterführenden Strandstraße gewahr werde und bemerke, daß sie geradewegs auf den parallel zum Prerower Strom verlaufenden Deich zuführt, rückt ein kleines, bisher fehlendes Puzzleteil der Erinnerung in meinem Kopf an seinen rechten Platz. Diese Straße waren wir damals, in unserem ersten Urlaub in Prerow – und möglicherweise auch im zweiten -, auf unserem Weg vom Strand stets entlanggekommen, wenn wir zum Mittagessen in das FDGB-Heim Seestern gingen. Es befand sich also heute noch genau dort, wo es damals bereits gestanden hatte…
Passend dazu erreiche ich hinter der Kurve, nun in der Waldstraße unterwegs, die Grünanlage mit dem kleinen Spielplatz, an deren Rand ich den Seestern gestern fälschlicherweise verortet hatte. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, zieht der Gemeindeplatz mit dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs vorüber. Ich halte mich hier nicht weiter auf, ist mir der Ort doch bereits gut bekannt.
Ein Stück weiter steht rechts das Kino des Ortes, das heute natürlich einen viel gewichtigeren Namen tragen muß, auch wenn man darin wie eh und je nur Filme zeigt. Prerow Cinema lese ich an gleich zwei großen Werbeschildern, von denen sich eines am Giebel des Kinosaals befindet, während das andere sozusagen darunter an dem kleinen Vorbau prangt, der als Eingangs- und Verkaufshalle dient. Er wurde ganz offensichtlich erst viel später an den Saalbau angefügt, denn dieser beherbergte einst eigentlich gar kein Kino, sondern war als Tanzsaal für das Kaffee Wirtz errichtet worden. Hier gab es in den 1920er Jahren täglich Konzerte, mit denen die Urlauber in das Lokal gelockt werden sollten, was offenbar gut gelang, denn das Café hielt sich beharrlich. Im Jahre 1932 benannte man es in Kaffee Wien um. Als man dann Mitte der 1950er Jahre einen Ort für ein neues Kino suchte, fiel die Wahl auf den Tanzsaal. 1956 öffnete das Filmtheater seine Pforten. Das Café blieb bestehen und bewirtet auch heute noch Gäste. Allerdings ist es inzwischen zum Restaurant avanciert, das aus mir etwas unverständlichen Gründen den Namen Darßer Leuchtturm trägt, denn dieser ist, wie ich nun aus eigener Erfahrung weiß, meilenweit von hier entfernt.
Ich bin nun wieder im Zentrum des Ortes angekommen, denn schräg gegenüber bemerke ich nun die Bushaltestelle, an der mich bei meiner Ankunft vorgestern der Bus abgeladen hatte und die der Einfachheit halber Prerow Mitte heißt. Nun ist es nur noch ein kleines Stück Wegs bis zur Bergstraße, von der aus ich meine Pension in wenigen Minuten erreiche.
Das Stück Kuchen und den Kaffee muß ich für heute leider von der Liste meiner Wünsche streichen, denn als ich an dem großen Café Strandeck, das sich direkt am Abzweig des Hauptübergangs von der Waldstraße befindet, vorüberkomme, muß ich feststellen, daß die Vorsaison doch auch den einen oder anderen Nachteil haben kann. Weil man offenbar noch nicht mit genügend Gästen rechnet, haben die Inhaber beschlossen, das Café in der ersten Wochenhälfte einfach gar nicht erst zu öffnen. Nun ja, dann eben nicht.
Nachdem ich mich ein bißchen akklimatisiert und von meinem ausgedehnten Rundgang durch den Ort erholt habe, beschließe ich angesichts des schönen Wetters, diesen doch noch ein wenig fortzusetzen, und mache mich wieder auf den Weg. Neugierig darauf, wie die Arbeiten an der Seebrücke vorangekommen sind, lasse ich mich vom Hauptübergang zurück zum Strand führen. Vielleicht kann ich ja doch noch ein bißchen mehr darüber in Erfahrung bringen, was man denn nun hier eigentlich baut und wozu der steinerne Wall, den ich weiter draußen bemerkt hatte, dienen soll.
An der Düne angekommen, fällt mir als erstes die große Tafel auf, die über die hier im Gange befindlichen Bauarbeiten informiert. Angesichts ihrer Ausmaße frage ich mich nun, warum sie an den Tagen zuvor meiner Aufmerksamkeit wohl entgangen war. Vermutlich war ich an anderen Dingen interessiert als an den Bauarbeiten für die Seebrücke. An der Ostsee beispielsweise. Oder an den Veränderungen, die es in all den Jahren seit meinem letzten Besuch hier gegeben hatte.
Nun aber gilt mein Interesse dem, was sie mir zu berichten weiß. Und so erfahre ich, daß man hier weit mehr als nur eine Seebrücke zu errichten gedenkt. Vielmehr soll hier, inmitten der Gewässer vor dem Prerower Nordstrand, der sogenannte Inselhafen Prerow gebaut werden, umgeben von einer ovalen Mole, an deren Innenseite sich die etwa 45 Liegeplätze für die Boote befinden werden und zu der die neue, dann 720 Meter lange und 4,2 Meter breite Seebrücke den Zugang vom Land aus bilden soll. Dazu kommen ausgedehnte Wellenschutzwerke, Steganlagen und Gebäude, die dem Betrieb des Hafens dienen. Auch einen Anleger für Fahrgastschiffe soll es dereinst geben, wenn der neue Hafen fertiggestellt ist. Und natürlich sollen auch die Seenotretter hier ihre neue Station bekommen. Mit dem ungehinderten Blick vom wunderschönen Prerower Sandstrand hinaus auf’s Meer und den weiten Himmel wird es dann allerdings ein für allemal vorbeisein. Obwohl – das ist es ja eigentlich heute schon, denn schließlich verunziert der Offshore-Windpark namens Baltic 1 bereits den Prerower Meereshorizont. Mit dem neuen Inselhafen wird das allerdings ganz gewiß nicht besser werden. Doch dafür, so heißt es, schließe man nach der Fertigstellung des Inselhafens den alten Nothafen am Darßer Ort. Und auch der Ottosee soll dann renaturiert werden. Na, dann hoffen wir dafür mal das Beste.
Der Kran auf dem Strand scheint sich nicht darum zu kümmern, daß heute ein Werktag und kein Feiertag mehr ist. Er steht jedenfalls noch genauso untätig herum wie am Abend meiner Ankunft. Nun könnte man einwenden, daß es doch jetzt schon ein paar wenige Minuten nach siebzehn Uhr ist und somit Feierabend, doch auf dem voraus liegenden Bauschiff herrscht immer noch rege Betriebsamkeit, auch wenn jetzt gerade keine Schläge der großen Ramme zu vernehmen sind. Wofür ich durchaus dankbar bin.
Noch einmal betrete ich die Aussichtsplattform auf der Düne und schaue in die Ferne. In nordöstlicher Richtung entdecke ich in der Ferne einen dunklen Schatten, der sich dort über den Horizont zu erheben scheint. Neugierig hole ich mein Teleobjektiv hervor, schraube es auf die Kamera und schaue durch deren Sucher. Fast möchte ich ausrufen: „Land in Sicht“, doch das würde mir sicher einige skeptische, ein deutliches „Was ist denn mit dem los?“ zum Ausdruck bringende Blicke der paar Urlauber einbringen, die mit mir auf der Aussichtsplattform stehen. So studiere ich lieber schweigsam das Bild, das sich mir im Sucher meiner Kamera präsentiert. Es scheint ein Hügel oder Berg zu sein, der dort über den Horizont lugt. Und wenn ich ganz genau hinsehe, kann ich nahe seiner höchsten Erhebung etwas Weißes erkennen, das dort in die Höhe ragt. So etwas wie ein Turm, überlege ich. Was mag das sein? Ich rufe mir die Karte der Ostseeküste vor mein inneres Auge und versuche, mich zu erinnern, was in dieser Richtung liegt. Etwas mit einer Erhebung, auf der ein Turm steht. Moment, ein Turm? Das kann doch eigentlich nur ein Leuchtturm sein! Und auf einmal weiß ich, was das da vor mir ist. Vor einiger Zeit – es war zu Pfingsten des Jahres 2000 – bin ich dort schon einmal gewesen, auf eben jenem Hügel an eben diesem Leuchtturm, der den Namen Dornbusch trägt, auf dem etwa siebzig Meter hohen Schluckswiek steht und nach dem Hügelland benannt ist, in dem er sich befindet – im Nordteil der Insel Hiddensee.
Es kommt mir zunächst ein wenig merkwürdig vor, daß ich über keine Erinnerung an diesen Ausblick auf Hiddensee verfüge. Ich erkläre mir das jedoch damit, daß wir damals zwar diesen dunklen Schatten am Horizont bemerkt haben mögen, jedoch nicht wie ich heute über ein Teleobjektiv oder Fernglas verfügten, mit dem wir diesen hätten genauer in Augenschein nehmen können. Und ohne diese technische Hilfe wäre auch mir heute die Erkenntnis, daß ich von hier aus bis Hiddensee blicken kann, versagt geblieben.
Schließlich mache ich mich wieder auf den Weg und spaziere den Hauptübergang entlang zurück in Richtung des Ortes. Ich habe mir als Abschluß für diesen Tag noch ein ganz besonderes Ziel gesetzt, zu dem es noch ein kleines Stück Wegs zurückzulegen gilt. Ich komme jedoch zunächst nur bis kurz hinter die Düne, als mein Blick auf das große, beigefarbene und ganz aus Holz errichtete Haus fällt, an dem auf einem blau-grauen Schild Fischrestaurant Seeblick zu lesen ist. Eine nebenan aufgestellte Tafel setzt mich davon in Kenntnis, daß dieses beachtliche Gebäude mit seinen zwei Stockwerken bereits im Jahre 1895 errichtet worden ist und daß sich darin dereinst eine Warmbadeanstalt befunden hat. In elf sogenannten Zellen konnten Besucher in eigens erwärmtem Ostseewasser nach Herzenslust herumplantschen und es gab einen Massage- und einen Ruheraum. 1929 wurde die Anstalt allerdings einem völlig neuen Zweck zugeführt, als der Maler und Grafiker Theodor Schultze-Jasmer mit seiner Darßer Kunsthütte hier einzog. Diese befand sich noch in den 1950er Jahren in dem Gebäude, so daß hier auch der Ort gewesen sein dürfte, an dem die Prerower Jungfrau-Statue nach ihrem Verschwinden in den Jahren des Zweiten Weltkriegs erstmals wieder in der Öffentlichkeit auftauchte. Ich finde es außerordentlich interessant, wie an diesem Ort so viele verschiedene Stränge der Geschichte Prerows, mit denen ich auf meiner heutigen Wanderung durch den Ort in Berührung gekommen bin, zusammenlaufen.
Neben dem Seeblick steht ein bedeutend kleineres, ebenfalls aus Holz errichtetes Haus, das im Gegensatz zu seinem größeren Nachbarn, mit dem es sich die Farbe teilt, allerdings über eines der charakteristischen Reetdächer verfügt. Seine bunt bemalte Darßer Tür bildet eine gewisse Ausnahme zu ihren Schwestern, die ich im Laufe des Tages überall im Ort zu sehen bekommen habe, denn sie verfügt im oberen Teil anstelle einer weiteren bildlichen Darstellung über ein quadratisches Fenster. Dem neben der Tür angebrachten Schild kann ich entnehmen, daß sich in dem kleinen Gebäude die Lütt Hafengalerie befindet, die jetzt gerade allerdings geschlossen ist.
Zu Zeiten, als wir in Prerow unsere Urlaube verbrachten, war mir dieses kleine Haus sehr vertraut. Mindestens zwei- bis dreimal pro Woche suchte ich es auf, denn damals war darin noch keine Galerie, sondern ein kleiner Buchladen untergebracht, der über eine für mich besonders interessante Besonderheit verfügte: ein Regal für antiquarische Bücher. Schnell hatte ich, der als Jugendlicher alle Arten von spannender Literatur, gleichgültig, ob Abenteuer-, Reise-, Science-Fiction- oder Kriminalroman, regelrecht verschlang, heraus, daß dieses Regal zwei- bis dreimal pro Woche mit neu eingetroffenen Büchern aufgefüllt wurde, so daß es sich lohnte, einmal vorbeizuschauen und zu sehen, was es Neues gab. Da ich überdies bereits damals eine gewisse Leidenschaft für das Sammeln von Büchern und Romanheften entwickelt hatte, war ich natürlich stets gespannt, ob ich meine bereits recht beträchtliche Sammlung nicht um wenigstens ein neues Stück erweitern konnte. Und was habe ich da nicht alles gesammelt… Besonders hoch im Kurs stand bei mir die Buchreihe Spannend erzählt, die im Verlag Neues Leben Berlin herausgegeben wurde – eine Reihe, die sich vorwiegend an Jugendliche wie mich richtete und in der Romane erschienen, die im weitesten Sinne eben spannend erzählt waren. Diese deckten nicht nur jede Art von Genre ab, so daß darunter Science-Fiction- und historische ebenso wie Abenteuer- und Kriminal- oder Spionageromane vertreten waren, sondern versammelte überdies auch überaus hochwertige Literatur von Autoren wie Friedrich Gerstäcker, Walter Scott, James Fenimore Cooper oder Henryk Sienkiewicz. Doch auch gute Autoren der DDR waren vertreten, darunter Eduard Klein oder Science-Fiction-Schriftsteller wie Alexander Kröger und Klaus Frühauf. Neben Büchern schlug mein Herz jedoch auch für Romanhefte, die sich ganz besonders gut für einen Tag am Strand eigneten, konnte man doch so ein Heft ohne größere Schwierigkeiten an einem Vor- oder Nachmittag durchlesen. Nun waren das allerdings nicht solche Nullachtfünfzehn-Groschen- und Schundromane, wie man sie heute für gewöhnlich in Romanheften vorfindet, ob es nun um Geisterjäger, Weltraumhelden, Ärzte oder liebestolle Adlige geht. Nein, in der DDR legte man auch in den Romanheften Wert auf Qualität und Anspruch. Die Kriminalgeschichten der Heftreihe Blaulicht las ich ganz besonders gerne, warteten sie doch stets mit spannenden Geschichten auf, deren Auflösung sich in den allermeisten Fällen durchaus unvorhersehbar gestaltete. Das neue Abenteuer war eine Heftreihe, die – ihrem Namen gerecht werdend – mit spannenden Abenteuererzählungen aus aller Welt aufwartete. Unter den Autoren waren Namen wie Maxim Gorki, Edgar Allen Poe, Lew Nikolajewitsch Tolstoi, Jack London, aber auch wieder Autoren der DDR, darunter Wolfgang Schreyer, Ludwig Turek, Herbert Ziergiebel und viele andere mehr. Und es gab noch einige weitere Reihen, von denen mir die Erzählerreihe oder Meridian in den Sinn kommen. Natürlich war ich nicht der Einzige, der daran Interesse oder eine Sammelleidenschaft entwickelt hatte. So war es durchaus wichtig, genau zu wissen, wann der kleine Laden neue Ware hereinbekam. An diesen Tagen galt es dann, zur Ladenöffnungszeit möglichst der Erste an der Tür zu sein, damit man, sobald sich die Tür öffnete, auf kürzestem Wege zu besagtem Regal stürzen und die hoffentlich dort ausliegenden begehrten neuen Stücke in Augenschein nehmen und aussuchen konnte, bevor sie einem ein Anderer vor der Nase wegschnappte. Bei Preisen von wenigen Pfennigen für die antiquarischen Hefte oder ein bis zwei Mark für ein gebrauchtes Buch konnte ich mir von meinem für den Urlaub zusammengesparten Taschengeld, das ich in den Schulferien oft durch Schülerjobs erheblich aufgebessert hatte, eine ganze Menge dieser Literatur leisten – wenn ich denn der Erste an der Tür war. Glücklicherweise wurde die neu eingetroffene Ware oftmals erst nach der Mittagspause ausgelegt, so daß wir wenigstens nicht noch extra früh aufstehen mußten, um sie zu ergattern. Noch heute denke ich gerne an diese Zeiten zurück und würde so manches dieser Hefte oder Bücher wieder einmal lesen, wenn ich es denn noch hätte. Doch nach all den Jahren und einer Vielzahl weiterer erworbener Bücher mußte ich mich allein schon aus Platzgründen von dem einen oder anderen Stück trennen. Und so leben insbesondere die Geschichten und Erzählungen der verschiedenen Heftreihen heute nur noch in meiner Erinnerung…
Was sich darin jedoch nicht mehr so ohne weiteres finden läßt, ist der Belag des breiten Hauptweges, auf dem ich nun unterwegs bin. Obwohl ich ihn in den vergangenen Tagen bereits mehrfach entlanggegangen bin, hatte ich nie so recht darauf geachtet. Nun jedoch, als ich den von der Düne her leicht abschüssigen Weg wieder vor mir habe und die Zahl der Menschen, die darauf unterwegs sind, aufgrund des sich dem Abend entgegenneigenden Tages bereits stark reduziert ist, fällt mir auf, daß man sich hier, im Bereich der Ladenstraße, mit der Pflasterung alle Mühe gegeben hat. Der breite Weg ist nicht einfach so mit Steinen ausgelegt worden, man hat vielmehr eine Vielzahl quadratischer Areale geschaffen, in deren jedem die Steine anders angeordnet sind. Während um die Areale herum in schönster Regelmäßigkeit klare Reihen schmaler und breiter Steine den Weg pflastern, finden sich in ihnen diagonale Anordnungen ebenso wie solche, in denen man bestenfalls ein buntes Durcheinander konstatieren kann, das jegliche Regelmäßigkeit vermissen läßt. In einem Areal hat man schwarze Steine mit welligen Rändern verlegt, ein anderes weist inmitten der es ausfüllenden grauen Steine einen schwarzen Streifen auf. Und ein drittes ist zur Gänze mit roten und gelben Ziegeln angefüllt und erinnert so an die historische Ziegelpflasterung, die es einst in Prerow auf nahezu allen Wegen gegeben hat, die aber, sieht man einmal von einigen wenigen Wegen im Dünenwald ab, heute weitestgehend verschwunden ist. Und nun, da ich dieses kleine Ziegelfeld vor Augen habe, meine ich mich plötzlich wieder zu erinnern, daß damals der ganze Hauptweg so ausgesehen hat. Oder zumindest große Teile davon.
Doch nun will ich mich endlich dem letzten Ziel für den heutigen Tag zuwenden und mache mich schnellen Schrittes auf den Weg. Den Hauptübergang entlang strebe ich dem Prerower Strom und dem dahinterliegenden Deich entgegen, auf den ich nach links in östlicher Richtung einbiege. Im Schein der hinter mir dem Horizont entgegenwandernden Sonne folge ich ihm ein ganzes Stück, bis er schließlich in einem weiten Bogen auf den Strom zu und über diesen hinwegführt. An dieser Stelle hat man bei den Maßnahmen zum Schutz des Ortes nach der großen Sturmflut des Jahres 1872 den Strom ein weiteres Mal unterbrochen, indem man ihn mit dem Deich verschloß. Als ich ihn überquert habe und mich damit wieder auf dem Zingst befinde, gewahre ich nach wenigen Metern rechts von mir ein kleines Haus. Manche würden es vielleicht auch Hütte nennen, so klein ist es. Mit seiner dunkelbraunen Fassade ganz aus Holz und der kleinen Tür, zu der eine schmale Stiege mit vier Stufen hinaufführt, sieht es wirklich nicht so aus, als könne es seinem Bewohner viel Platz gewähren. Allerdings scheint dieser auch gar nicht zu Hause zu sein, denn sowohl die Tür als auch alle drei Fenster auf der mir zugewandten Seite des Hauses – zwei im Erdgeschoß und eines in der vom Spitzdach gebildeten oberen Etage – sind mit schweren Rollos dicht verschlossen. Was das kleine Häuschen jedoch für den Betrachter interessant macht, sind die blau-weißen Fensterläden. Entsprechend dem in eben diesen Farben gehaltenen Schriftzug, der die beiden Etagen voneinander zu trennen scheint und in großen weißen Lettern verkündet, daß man hier das Märchenhaus vor sich sehe, zeigen die bemalten Läden Szenen aus bekannten deutschen Märchen. Im Erdgeschoß kann ich anhand des kleinen Mädchens mit dem Reh am linken Fenster unzweifelhaft das Märchen Brüderchen und Schwesterchen identifizieren. Und der rechte Laden, der einen Wolf mit einem weiteren Mädchen zeigt, das eine Haube trägt, ist unschwer als Sinnbild für das Märchen Rotkäppchen und der Wolf zu erkennen. Während die unteren beiden Fenster jeweils einen Laden besitzen, der genauso breit ist wie sie, ist dem Fenster im oberen Stockwerk der Luxus zweier Fensterläden gestattet worden – ganz offenbar aufgrund der ihm zugedachten beiden zueinander gehörenden Figuren. Dem kundigen Kenner der deutschen Literatur wird es nicht schwer fallen, sie zu identifizieren, auch wenn er dabei nicht umhinkommt zu konstatieren, daß man es nicht sonderlich genau genommen hat bei der Umsetzung des Vorhabens, bekannte Märchen des deutschen Volksguts darzustellen. Denn bei den beiden hier gezeigten Knaben handelt es sich ganz eindeutig um Max und Moritz und damit nicht um Gestalten aus einem Märchen, sind sie doch einer Bildgeschichte des Zeichners und Dichters Wilhelm Busch entsprungen. Doch seien wir nicht allzu pingelig – die Darstellungen auf den Fensterläden, allesamt weiß auf dunkelblauem Grund, sind wahrlich allerliebst.
Ein kleines Stück hinter dem Märchenhaus führt ein Weg nach rechts den Deich hinab und zwischen die Häuser des als Kirchenort bezeichneten Ortsteils Prerows hinein. Der Name kommt nicht von ungefähr, denn hier in diesem Viertel befindet sich das Ziel meiner abendlichen Wanderung: Prerows älteste Kirche, die Seemannskirche. Mein Weg nähert sich dem vom Friedhof des Ortes umgebenen Gotteshaus gewissermaßen von hinten, so daß ich an dem gesamten Areal erst einmal vorbeilaufen muß, um zum Eingang zu gelangen. Dort angekommen, finde ich mich vor einem zweiflügeligen, schmiedeeisernen Tor wieder, das sich zwischen zwei geziegelten Pfosten befindet, deren jeder mit einem kleinen Spitzdach aus Schindeln versehen ist. In etwa einem halben Meter Höhe entdecke ich am rechten von ihnen eine kleine gußeiserne Tafel, die in der Mitte eine waagerechte Markierung trägt, über und unter der zu lesen ist:
Sturmflut
13. Nov. 1872
Bis hierher an die Friedhofsmauer reichte die Flut damals also. Nur knapp blieben die Kirche und das Pfarrhaus von ihr verschont. Ein etwas vor dem Torpfosten an einem hölzernen Pfahl angebrachtes Schild tut mir kund, daß der die Kirche umgebende Begräbnisplatz der älteste Friedhof auf dem Darß ist. Hier sind noch Grabsteine aus dem 18. und 19. Jahrhundert zu finden, und der älteste soll sogar aus dem Jahr 1690 stammen. Doch auch die Kirche selbst kann mit einem solchen Superlativ aufwarten, ist sie doch eines der ältesten Gebäude der Halbinsel. Bereits im Jahre 1296 wurde der Grundstein für die erste Kirche in Prerow gelegt, die damals noch aus Holz bestand. Ihr Standort in der Nähe des Prerower Stroms kam nicht von ungefähr. Er war vielmehr mit Bedacht gewählt wurden, sollten mit ihm doch gemäß dem Motto ora et labora – bete und arbeite – Glaube und Arbeit verbunden werden. Schließlich war der damals noch offene Prerower Strom als Verbindung zwischen Bodden und Ostsee für Fischerei und Seefahrt von immenser Bedeutung. Als die alte Holzkirche schließlich dem Lauf der Zeit nicht mehr viel entgegensetzen konnte, wurde sie in den Jahren 1726 bis 1728 durch einen Fachwerkbau ersetzt, dem man einen hölzernen Glockenturm beigab. Doch auch dieser Neubau wurde in der Folgezeit immer wieder verändert, so daß aus der einstigen Fachwerkkirche schließlich der heutige Backsteinbau hervorging. Nur der Turm, das ist für jeden auf den ersten Blick zu erkennen, besteht noch heute aus Holz.
Die gestalterische Schlichtheit der Kirche läßt mich vermuten, daß es sich um ein evangelisches Gotteshaus handelt – und tatsächlich ist das der Fall. Vorsichtig öffne ich das Tor, das mit einem leichten Quietschen meinem Druck nachgibt, und trete hindurch. Mit einem Mal ist mir, als umfange mich eine große Stille, obwohl mich nur die nicht allzu hohe Friedhofsmauer und das schmiedeeiserne Tor von dem Platz, auf dem ich eben noch gestanden hatte, trennen. Ist es nicht faszinierend, wie Stimmung und Wahrnehmung durch solch einen Ort, wie dieser Friedhof, der die ehrwürdige Kirche umgibt, einer ist, beeinflußt werden, so daß sie sich unwillkürlich ändern? Obwohl die Sonne nach wie vor auf mich herniederlächelt und sich der Himmel immer noch in tiefem Blau über mir wölbt, ist es mir, als sei ich plötzlich in einer anderen Welt. Einer Welt der Ruhe, der Andacht, der Erinnerung.
Langsam gehe ich den mit gelben Ziegeln ausgelegten Hauptweg entlang auf die Kirche zu. An ihrem Hauptportal angekommen, das sich, in der Mitte ihrer Seitenwand befindlich, lediglich als vergleichsweise schlichte Tür erweist, zu der drei Stufen hinaufführen, muß ich feststellen, daß es versperrt ist. Jetzt, in der Vorsaison, schließt man die Kirche offenbar schon recht früh. Ich werde wohl an einem anderen Tag noch einmal wiederkommen müssen, wenn ich ihr Inneres in Augenschein nehmen will. Doch da ich nun schon einmal hier bin, kann ich mir doch wenigstens den Friedhof ansehen.
So gehe ich denn rechts um die Kirche herum auf einem Weg, der zunächst ebenfalls noch geziegelt ist, jedoch nach und nach in einen unbefestigten Pfad übergeht, je weiter er um das Schiff des Gotteshauses herumführt. Gleich neben dem Eingang stehen entlang der Kirchenwand fünf hohe Grabsteine, deren hohes Alter sich im weit fortgeschrittenen Grad ihrer Verwitterung offenbart. Das erschwert es zusätzlich, die verschnörkelten altertümlichen Inschriften zu entziffern. Mir gelingt es kaum. Zwischen den Grabsteinen wachsen hohe, in eine kegelförmige, oben abgerundete Form gezwungene Büsche, die sich derart breit machen, daß die Grabsteine zwischen ihnen fast zu verschwinden scheinen.
Auf der hinteren Seite der Kirche angekommen, stelle ich fest, daß hier der größere Teil des diese umgebenden Friedhofs liegt. Ich wandere im Schatten hoher Bäume zwischen den Grabsteinen entlang, von denen einige neueren Datums, andere jedoch bereits sehr alt zu sein scheinen. Es ist eine bunte Mischung. In den sich des häufigeren wiederholenden Familiennamen auf den Grabsteinen drückt sich der eher dörfliche Charakter des Friedhofs und des Ortes, zu dem er gehört, aus, der geprägt ist von einer überschaubaren Anzahl von Familien, die seit Generationen hier leben. Diese lassen sich beim Wandeln durch die regelmäßigen Reihen der Gräber gut nachvollziehen. Ich begegne hier Namen, die mir bereits während meines Bummels durch den Ort aufgefallen waren – auf Ladenschildern, Werbetafeln oder den Inhaberangaben der Restaurants. So stoße ich beispielsweise auf den Familiennamen der Inhaber des Cafés Strandeck am Hauptübergang oder auch auf den einer großen Fischgaststätte nahe dem Gemeindeplatz im Zentrum Prerows. Auf diese Weise lassen Friedhöfe für den, der sich für Geschichte interessiert, diese lebendig werden. Denn wer offenen Auges einen Friedhof betritt, erkennt hier, daß Geschichte nicht einfach nur aus einer zeitlichen Aneinanderreihung von Ereignissen, Fakten, Daten und Namen entsteht, sondern durch das Handeln der Menschen, die in ihrer jeweiligen Zeit gelebt, geliebt und gewirkt haben. Hier erfährt man hautnah, daß es diese Menschen wirklich gab, daß sie real waren. Und daß sie in den Erinnerungen der Zurückgebliebenen weiterleben…
Dieser Erfahrung komme ich selbst plötzlich ausgesprochen nahe, als ich ein Stück von der Kirche entfernt einen schmalen Pfad zwischen zwei Gräberreihen entlanggehe und dabei unvermittelt auf ein Grab stoße, das von einer niedrigen Hecke eingefaßt wird. Sie umgibt einen rechteckigen Bereich weitgehend nackter Erde, auf dem lediglich ein paar kleine Farne sowie eine runde Schale stehen, in der blaue und gelb-schwarze Stiefmütterchen wachsen. Auf dem Stein stehen drei Namen, deren Beziehung zueinander der uneingeweihte Betrachter nicht erfährt. Auch mir bleibt sie unbekannt, obgleich ich den ersten Namen auf dem Stein bereits kenne: Johann Niemann. Und sollte ich noch zweifeln, ob es sich tatsächlich um eben jenen Kapitän handelt, auf dessen Geschichte ich am heutigen Morgen gestoßen war und dessen Name mit gleich mehreren von mir besuchten Orten in Prerow verknüpft ist, so gibt mir eine an den Grabstein angelehnte Tafel Gewißheit.
Der Wille ist die Seele der Tat.
steht dort zu lesen. Es ist der Satz, der auf der Prinz-Heinrich-Medaille eingraviert war, die die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger bis in die 1930er Jahre jährlich vergab, um die jeweils schwerste Rettungsfahrt zu würdigen. Johann Niemann hatte sie 1936 erhalten – für seine bereits erwähnte Rettungstat in diesem Jahr. Nun ziert dieser Satz seine Gedenktafel an seinem Grab, auf der auch das Kreuz der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und natürlich der Name des Geehrten zu sehen sind. Später finde ich dann doch noch heraus, was es mit den beiden anderen Namen auf dem Grabstein auf sich hat: Maria und Eva Kreuzer. Es sind die Lebensgefährtin Niemanns und ihre Schwester, die hier neben ihm bestattet sind.
Unmittelbar an der Mauer des Kirchengebäudes auf dessen rückwärtiger Seite stehen weitere ausgesprochen alte Grabsteine aus der Zeit der 1840er bis 1860er Jahre. Es handelt sich um hohe, schlanke Denkmale, die dem alten Seemannsfriedhof alle Ehre machen, erinnern sie doch sämtlich an einstige Gemeindemitglieder, die auf die eine oder andere Weise mit dem Meer verbunden waren. Die meisten fuhren zur See. Die Male tragen dabei – hier ausgesprochen gut lesbar – nicht einfach nur Namen und Lebensdaten der an dieser Stelle Bestatteten, sondern weisen auch teils wunderschöne Verzierungen auf. So zeigt der an gotische Formen erinnernde Stein für den Schiffer Peter Prohn und seine Ehefrau Catharine Elisabeth am oberen, spitz zulaufenden Ende eine Palmette und in der Spitze die eingravierte Darstellung eines Schmetterlings. Dazu passend finden sich am Sockel zwei Blumenreliefs.
Das Grabmal des Johann Jacob Rohde und seiner Ehefrau Catharina Maria besitzt eine Bekrönung, die wie ein Spitzdach aussieht. Darunter sind die Reliefs einer Pflanze zu sehen, bei der es sich um eine Rose handeln könnte, sowie eines Ankers und eines Kreuzes, die sich an einen Pfahl lehnen und von einem Strahlenkranz umgeben sind. Der Stein für den Schiffer Steffen Gustav Käding und seine Ehefrau Maria stammt aus dem Jahre 1861. Er ist in seiner Form ähnlich dem des Johann Jacob Rohde und präsentiert ebenso wie dieser das Relief eines Kreuzes und eines Ankers, über denen hier jedoch das Allsehende Auge wacht. Darunter ist die Darstellung eines Zweimaster-Segelschiffs zu sehen.
Die teils sehr alten Grabmale bewundernd, wandere ich weiter über den alten Friedhof. Im Licht der sich langsam dem Horizont nähernden Abendsonne wirkt er ausgesprochen still und friedlich. Die länger werdenden Schatten verleihen ihm eine Atmosphäre, die mich an einen verwunschenen Ort denken lassen. An der östlichen Seite stoße ich auf vier sehr alte schmiedeeiserne Grabkreuze, die alle völlig gleich gestaltet sind und jeweils den Namen einer Frau tragen. Sie stammen aus der Zeit zwischen 1875 und 1893. Was es wohl mit ihnen auf sich hat? Ich weiß es nicht. Und leider soll es mir auch später nicht gelingen, mehr darüber zu erfahren…
Immer noch darüber sinnierend, lenke ich schließlich meine Schritte langsam wieder dem Ausgang entgegen. Doch bevor ich diesen erreiche, führt mich mein Weg noch an einer weiteren Grabstelle vorüber, die ganz ähnlich der des Johann Niemann gestaltet ist, nur daß hier das Innere des von einer niedrigen Hecke umgebenen Areals mit Blumen bepflanzt ist. Doch auch hier fehlt die runde Schale mit den farbenfrohen Stiefmütterchen nicht. Es ist dies das Grab des als Maler des Darß bekannten Theodor Schultze-Jasmer. So stoße ich an diesem Abend auch auf die zweite Geschichte, die mich heute den ganzen Tag über auf meiner Wanderung durch Prerow begleitet hat. Und mir gefällt der Gedanke, daß ich hier, auf diesem Friedhof, für beide Geschichten gewissermaßen den jeweiligen Schlußpunkt gefunden habe. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Zufrieden verlasse ich nun den Begräbnisplatz, doch nicht ohne noch einen letzten Blick auf die ehrwürdige kleine Kirche zu werfen. Ganz sicher werde ich in den nächsten Tagen noch einmal hierherkommen, um sie mir anzusehen. Für heute bin ich jedoch trotz ihrer verschlossenen Pforte vollauf zufrieden mit dem Erlebten und Gesehenen. Und doch soll es damit offenbar noch nicht genug sein, denn als ich das Friedhofsgelände verlassen, den Prerower Strom auf der von Zingst kommenden Landstraße überquert und die Einmündung der Hafenstraße erreicht habe, fällt mir ein zweistöckiges weißes, blau abgesetztes Holzgebäude auf, das mir seine Längsseite zuwendet, deren Fassade im Erdgeschoß, mit den großen Fenstern und der Eingangstür samt angedeutetem Spitzdach, den Eindruck einer Sommerveranda vermittelt. An der Schmalseite kann ich in großen blauen Buchstaben Seegasthof & Hotel Am Hafen lesen. Gerade will ich mir im Geiste eine Notiz machen, daß sich das Vorbeischauen an einem der folgenden Abende hier noch einmal lohnen könnte, um ein schmackhaftes, dem Meere angemessenes Abendmahl einzunehmen, da fällt mir auf, daß das Gebäude merkwürdig still und leblos dort vor mir steht. Trotz seiner Lage weit außerhalb des Prerower Zentrums und der Periode der Vorsaison erscheint mir das angesichts des nahen Prerower Hafens etwas merkwürdig. Sollte hier nicht doch etwas mehr los sein? Wenigstens ein paar Gäste dürften sich doch auch jetzt schon hierher verirren, oder nicht?
Immerhin, so erfahre ich von einer der orangefarbenen Tafeln des Historischen Rundgangs – es soll die letzte sein, die ich am heutigen Tage studiere -, handelt es sich um das älteste noch existierende Hotel Prerows. Um das Jahr 1830 wurde es gegenüber dem Prerower Hafen als einfacher Gasthof errichtet und entwickelte sich später zum sogenannten Fähr-Hotel, was es insbesondere seiner verkehrsgünstigen Lage verdankte. Im 19. Jahrhundert war der im Prerower Strom gelegene Prerower Hafen von weitaus größerer Bedeutung als heute, denn damals gab es eigentlich nur eine passable Möglichkeit, Prerow zu erreichen: mit dem Schiff. So reisten zu jener Zeit viele Badegäste mit den über den Bodden kommenden Dampfern an. Als später die Eisenbahn Prerow erreichte, lag auch der Bahnhof nur wenige Meter von hier entfernt, so daß der Besucherstrom für das Hotel auch dann nicht abriß.
Nun, diese Zeiten sind lange vorüber. Heute reisen die meisten Besucher ganz privat mit ihrem eigenen Auto an. Und doch erklärt das nicht, warum dieses Hotel ganz offensichtlich geschlossen ist. Keine Menschenseele rührt sich hier, weder im noch um das Haus. Kann ich mir jetzt auch keinen Reim darauf machen, so finde ich die Erklärung bei einer späteren Recherche schließlich heraus. 2017 ist es im Seegasthof & Hotel Am Hafen zu einem Brand gekommen, der seine vorübergehende Schließung erforderlich machte. Vermutlich bedingt durch die von der Politiker-Kaste dieses Landes mit ihren Maßnahmen gegen die sogenannte Corona-Pandemie verursachte ausgesprochen schwierige Situation – nicht nur, doch insbesondere auch für alle Gewerbetreibenden – hat sich daran bis heute offenbar nichts geändert. So bleibt nur zu hoffen, daß dies nicht zu schlechter Letzt das Ende für dieses älteste Hotel Prerows bedeuten wird.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Hafenstraße, wo ein kleiner Deich abzweigt, der dem Prerower Strom folgt, bis er sich mit dem großen Deich vereinigt, bemerke ich eine aus Bronze geformte Skulpturengruppe, die mein Interesse weckt, denn einerseits habe ich zwar den Eindruck, daß es sich um ein Kunstwerk der Neuzeit handelt, doch andererseits wirken die beiden Figuren – ganz im Gegensatz zu vielen anderen modernen Kunstwerken – sehr lebensecht. Es bedarf keinerlei Verrenkungen der Fantasie, um in ihnen eine sitzende Frau und einen hinter ihr aufrecht stehenden Mann zu erkennen. Barfuß und offenbar in einfache Kleidung gehüllt, blicken beide mit freundlichen, doch durchaus ernsten Gesichtern dem Betrachter entgegen. Ein kleines Schild zu Füßen der Frau verrät mir den Urheber des Werkes. Es ist der Mecklenburger Bildhauer Jo Jastram, der diese Abschied genannte Skulptur im Jahre 2003 schuf.
Auch wenn mir ihr Standort hier, nahe dem Ortsende Prerows am Hafen, durchaus passend erscheint, ist mir heute, am dritten Tag meines Aufenthaltes hier, noch nicht nach Abschied zumute. Und doch finde ich es irgendwie angemessen, daß ich gerade jetzt auf dieses Kunstwerk stoße, denn für mich ist nun der Zeitpunkt gekommen, zumindest von diesem Tag und dem großen Rundgang durch den Ort einerseits und meine Erinnerungen andererseits Abschied zu nehmen. Und so wende ich meine Schritte wieder der Ortsmitte zu, gehe durch die Hafenstraße der Strandstraße entgegen, der ich dann noch einmal folge, bis ich schließlich müde, doch angesichts des Erlebten und Gesehenen dennoch froh und zufrieden, ein zweites Mal an diesem Tag meine Pension erreiche.
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Der Satz steht beispielsweise wortwörtlich in der Ankündigung eines Lichtbildervortrags über den Zeltplatz Prerow auf der Website des Ostseebades. Doch auch an anderer Stelle kann man ähnliches lesen, wie beispielsweise in einem Text von Florian Russi über das Ostseebad Prerow auf der Website www.meck-pomm-lese.de oder einem anderen von Christoph Häusler über Prerow – Ein Geheimtipp für Grüß-Gottler in der Passauer Neuen Presse. Und auch Wikipedia kann in seinem Artikel über das Ostseebad (Artikelversion vom 20. März 2023, 12:58 Uhr) natürlich nicht darauf verzichten. Aber das verwundert dann schon wieder nicht mehr so recht, wenn man sich ein wenig mit der Qualität dieses sogenannten Lexikons beschäftigt.
Vipa war in der DDR der Name eines weinhaltigen Kohlensäuregetränks, das zu achtzig Prozent aus Mineralwasser und zu zwanzig Prozent aus Weißwein bestand, der auch für den Alkoholgehalt von 1,8 Prozent sorgte. Dazu kamen Zucker, Essenzen aus acht Kräutern und Tee-Extrakt.
Beispielsweise ist das in dem Beitrag Balaton: Mallorca der DDR-Bürger der Fall, der am 12. August 2022 erschien und auf der Website des MDR zu finden ist.
Diese Informationen zur Geschichte und heutigen Nutzung der alten Seenotstation stellte mir freundlicherweise Christian Stipeldey, der Pressesprecher der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS), zur Verfügung, der mich, nachdem ich in der ersten Version dieses Blogbeitrags vom 12. August 2023 lediglich darauf verwiesen hatte, daß ich die alte Station heute für ein Museum hielt, freundlicherweise kontaktierte, um diese Vermutung zu korrigieren und mir die fehlenden Informationen zur Verfügung zu stellen. Dafür bedanke ich mich recht herzlich und bin der Bitte um Richtigstellung beziehungsweise Ergänzung gerne nachgekommen.
Einen Überblick über die einzelnen Stationen des Rundgangs gibt es auf der Website www.fischland-darss-zingst.net. Dieser ist allerdings aus irgendeinem Grund nicht vollständig und verzeichnet nicht alle Stationen, wie ich aus eigenem Erleben bestätigen kann. Daher kann ich auch nicht genau sagen, wieviele Stationen der Rundgang tatsächlich hat.
Achim Kühn ist der Sohn des bekannten Kunstschmieds Fritz Kühn, der beispielsweise den sogenannten Schwebenden Ring des Brunnens auf dem Berliner Strausberger Platz oder auch das bekannte A-Portal der Berliner Stadtbibliothek schuf. Doch auch Achim Kühn hat einige bekannte Werke vorzuweisen, so beispielsweise das Portal der Berliner Marienkirche oder auch die Festivalblume im Berliner Treptower Park.
Rauh weht der Wind, von Westen über das Meer kommend, über die Dünen, auf denen die Halme des Strandhafers seinem Druck nachzugeben gezwungen sind und sich tief hinunterbeugen, so tief, daß sie mit ihren Spitzen fast den Sand berühren, auf dem sie stehen. Dicke graue Wolken jagen, vom Wind getrieben, über den Himmel und auf das Land zu, wo sie dem Wald, der hinter den Dünen starrsinnig dem Druck der Lüfte trotzt, eine düstere Aura verleihen. Doch auch den Kiefern mit ihren harten Stämmen bleibt angesichts der auf sie wirkenden Kräfte nichts anderes übrig, als diesen nachzugeben. Gemeinschaftlich wenden sie sich vom Meere ab, so als wollten sie sich tiefer ins Innere des windgepeitschten Landes zurückziehen, wo es vielleicht ein wenig ruhiger zugehen mag als hier an der rauhen Küste. Doch vergebens, sie kommen ja nicht vom Fleck. Einige ihrer ganz mutigen Vertreter haben sich ein wenig vor den Rand des Waldes gewagt und den dem Meer abgewandten Hang der Dünen erobert – ein Unterfangen, für dessen Verwegenheit sie nun bitter zu bezahlen haben, sind sie doch recht einsam und allein dem Ansturm des Windes ausgesetzt, der sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften schüttelt und zaust. Ihre Äste in Richtung des nahen Meeres auszustrecken, ist ihnen nicht gelungen, und so stehen sie nun da, mit stark landeinwärts gebogenen Stämmen, die Äste ausschließlich in die gleiche Richtung gestreckt, und wirken so, als wollten sie von dem Platz, den sie sich so mühsam erobert, doch lieber wieder flüchten, um dem Winde endlich zu entkommen. Doch sie müssen verharren und für ihren kecken Vorstoß auf die Dünen Zeit ihres weiteren Lebens Widerstand leisten, wollen sie es nicht vorzeitig beendet wissen.
Und das Meer? Es ist in Aufruhr. Ob seine Wut, mit der es an den Strand brandet, sich gegen den Wind richtet, der seine Wasser so unerbittlich dem Ufer entgegenpeitscht, oder ob es mit diesem gemeinsame Sache macht, um auf das unbeweglich-gleichmütige, düstere Land einzuschlagen, ist schwer zu entscheiden. Unermüdlich rollen seine hohen, schaumbekrönten Wellen dem Strand entgegen, wo sie sich, sobald sie ihm zu nahe kommen, überschlagen und brechen, ein wütendes Rauschen ausstoßend, das, sich mit dem Stöhnen des Windes verbindend, die Luft erfüllt. Der so heftig heimgesuchte sandige Strand ist über und über mit rundgeschliffenen Steinen bedeckt, viele klein wie Kiesel, andere so groß wie eine Faust und einige wenige von größerem Umfang. Doch alle rollen sie, von der unbändigen Kraft des Wassers getrieben, unablässig hin und her, sobald eine Welle sie trifft und überspült. Diejenigen, die erst in jüngerer Vergangenheit die Oberfläche des Strandes erreicht haben, ob vom Meere angeschwemmt oder aus dem Sand herausgespült, sind meist noch unregelmäßig geformt, mit eigenwilligen Ecken und Dellen, mittels derer sie der Kraft des Wassers zu widerstehen scheinen. Doch wie die Windflüchter auf den Dünen, die dem Winde trotzen wollten, müssen auch sie für ihre Widerborstigkeit bezahlen. Jede Welle prügelt auf sie ein, immer wieder werden sie aneinandergeschlagen, bis Teile von ihnen abplatzen oder sie zerbrechen. Andere Steine aber, die es schon vor langer Zeit hierher verschlagen hat, sind im Laufe der Jahre auf diese Weise rundgeschliffen worden, haben ihre Ecken und Kanten nahezu vollständig verloren und lassen sich bereitwillig hierhin und dorthin tragen, wohin auch immer das anbrandende Wasser sie schubst. Ihr Widerstand ist ihnen längst ausgetrieben worden.
Ein solches Bild habe ich in etwa vor Augen, als ich mich am Morgen meines zweiten Urlaubstages in Prerow – des ersten nach meiner gestrigen Ankunft – auf den Weg mache, um, wieder auf den Spuren meiner Erinnerung wandelnd, dem Weststrand entgegenzuwandern. Daß meine damit entsprechend verknüpften Erwartungen sich eventuell nicht gänzlich erfüllen werden, dafür gibt es angesichts des strahlend blauen Himmels und der freundlich vom Himmel lachenden Sonne bereits gewisse Anzeichen, doch denke ich zu diesem Zeitpunkt nicht darüber nach. Und so kann ich jetzt auch noch nicht wissen, daß mir dieser Tag gänzlich andere Erlebnisse bescheren wird, als ich mir, ausgehend von meinen Erinnerungen an unsere einstigen Besuche am Darßer Weststrand in den 1980er Jahren, momentan noch vorstelle.
Da ich mir denke, daß Weststrand wohl Weststrand, sprich es gleichgültig ist, an welcher Stelle ich ihn erreiche, habe ich beschlossen, eine Wanderung zum Darßer Ort zu unternehmen, wo es einen Leuchtturm geben soll. Der Darßer Ort ist der nördlichste Ausläufer der Darß genannten Halbinsel. Zu Zeiten meiner Kindheit war es schlichtweg unmöglich, dorthin zu gelangen, denn man hatte das gesamte Areal zum Sperrgebiet erklärt. Ohne es jemals weiter hinterfragt zu haben, hatte ich stets angenommen, das sei des Grenzschutzes wegen geschehen und daß sich dort wohl eine Basis der Grenztruppen der DDR befunden hätte. So bin ich doch einigermaßen überrascht zu erfahren, daß es die NVA, die Nationale Volksarmee des kleinen sozialistischen Landes, gewesen war, die hier einen Manöverhafen für die Volksmarine betrieben und daher das diesen umgebende Gelände weiträumig abgesperrt hatte. Mit dem Ende der DDR war der dann überflüssig und das Gelände somit freigegeben worden, so daß es heute zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gehört. Doch wie dem auch sei – für uns waren damals die Auswirkungen dieselben. Wir hatten nicht dorthin gekonnt. Für mich ist das Grund genug, die Reise in meine Erinnerungen mit der Entdeckung des für mich Unbekannten zu verbinden und als Ziel meiner Wanderung eben diesen Darßer Ort mit seinem Leuchtturm auszuwählen.
Der Weg, das weiß ich noch von früher her, würde mich hinter dem Ort in den Darßwald und auf der gesamten Strecke durch diesen hindurch führen. Ich freue mich also auf eine schöne Wanderung im Schatten des Waldes und mache mich auf den Weg. Nun ist, wenn man sich in Prerow befindet, der Darßwald nicht sonderlich schwer zu finden. Man geht einfach eine der nach Westen führenden Straßen des Ortes entlang, und zwar solange, bis man die letzten Häuser erreicht hat. Genau dort beginnt der Wald. Also ganz einfach.
Für mich ist es sogar noch bedeutend einfacher, denn man hat in Prerow jede Menge Wegweiser aufgestellt, die alle ganz einheitlich gestaltet und nicht zu übersehen sind. Und auf nahezu jedem ist der Leuchtturm am Darßer Ort verzeichnet. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es diese Wegweiser damals in den Achtzigern noch nicht gegeben hat, würde mich darauf aber auch nicht festlegen wollen. Man hat sie meist an Weg- oder Straßenkreuzungen aufgestellt, wo ihre Arme die in den jeweiligen Richtungen liegenden Ziele anzeigen. Liegen diese an einem Gewässer oder haben mittelbar mit einem zu tun, leuchten die Richtungsanzeiger in tiefem Blau, andernfalls sind sie in Gelb gehalten. Für weiter entfernt liegende Orte hat man in der Regel eine Entfernungsangabe hinzugefügt. Ein jeder dieser Wegweiser ist mit einer Holzschnitzerei gekrönt, deren jeweilige Darstellung entweder auf seinen Standort Bezug nimmt oder aber etwas zeigt, das man im allgemeinen mit dem Meer oder im besonderen der Ostsee assoziiert. Der Wegweiser, den ich an der durch den Ort führenden Waldstraße dort antreffe, wo der Darßwald beginnt, zeigt in seiner Schnitzerei zwei sich vom Meer abwendende Windflüchter auf sandigem Untergrund. Ich bin untrüglich auf dem Weg zum Weststrand!
Ich muß, so bedeutet mir der freundliche Richtungsanzeiger, dem Bernsteinweg folgend noch ein wenig am Waldrand entlanggehen, bis ich ein Stück weiter auf seinen Gesellen treffe, der mich unmißverständlich in den Wald hineinbeordert. Ich folge bereitwillig dem gewiesenen Weg.
Bereits nach wenigen Schritten bin ich auf allen Seiten von Bäumen umgeben. Der Waldweg führt schnurgerade zwischen ihnen hindurch, was mich jedoch nicht verwundert, denn an diese Eigenart der hiesigen Waldwege erinnere ich mich noch gut von früher her. Es ist früher Vormittag und ich bin praktisch allein im Wald. Zumindest, was die Menschen betrifft. Von den Rothirschen und Rehen, die es hier geben soll, ist zwar auch weit und breit nichts zu sehen, dafür veranstalten die Vögel dieses Waldes ein lautstarkes Konzert. Eine Weile finde ich Gefallen an dem Gedanken, daß sie das allein für mich tun. Hier und da erhasche ich auch einen Blick auf einen der flinken Gesellen, die um mich herum zwischen den Ästen umherflattern, doch verharren sie kaum einmal lang genug irgendwo, daß es sich lohnte zu versuchen, sie auf ein Foto zu bannen. Das stört mich jedoch nicht, denn noch bin ich sowieso damit beschäftigt, die wunderbare Ruhe des Waldes zu genießen, in die sich das Konzert der Vogelstimmen ganz wundersam einfügt, ohne sie auch nur im mindesten zu stören. Rings um mich herum malt die Sonne bunte Lichtflecken auf das satte Grün des Waldbodens, der über und über mit niedrigen Sträuchern bestanden ist. In vollkommener botanischer Ahnungslosigkeit und nur auf meine Erinnerungen aus der Kindheit bezugnehmend, identifiziere ich sie kurzerhand als Blau- und Preiselbeersträucher, ohne genau zu wissen, ob das auch stimmt. Dort, wo keine von ihnen stehen, ist der Boden über und über mit Nadeln bedeckt, die die Kiefern, die hier im Wald recht reichlich vertreten sind, fallengelassen haben. An einigen der Bäume entdecke ich die markanten Einschnitte, mit denen man ihnen das Harz abgezapft hat. Dem Verwitterungs- und Alterungsgrad dieser Einschnitte nach zu urteilen, muß das aber schon eine ganze Reihe von Jahren her sein.
Nach einigen Minuten nähert sich von links ein anderer Weg, der sich kurz darauf mit dem meinen vereint, um dann weiter in direkt westlicher Richtung durch den Wald zu führen. Ich bin nun auf einer Art Waldstraße unterwegs, unbefestigt zwar, aber ungleich breiter als der Weg vorher. Wieder dauert es nicht lange, da gelange ich an eine Wegkreuzung. Zwei hölzerne Tafeln stehen auf je einer Seite des Weges. Die linke ruft mir ein freundliches „Willkommen“ zu, um mich gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß ich mich hier im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft befinde. Außerdem erklärt sie mir mittels einer Reihe von Piktogrammen, was ich hier im Wald so alles doch bitte zu unterlassen habe. Ihr Gegenstück auf der rechten Wegseite informiert mich darüber, daß ich nun auf dem Leuchtturmweg unterwegs bin, und zeigt mir zwecks Orientierung eine Karte des Gebiets.
Auf der anderen Seite des hier kreuzenden Querwegs, über den von den beiden Tafeln nichts weiter verraten wird, führen zwei Wege weiter. Der eine bildet hinsichtlich Richtung und Beschaffenheit die direkte Fortsetzung meiner Waldstraße, der andere schlägt sich nach halbrechts zwischen die Bäume und ist ganz offensichtlich ein Waldweg wie der, auf dem ich anfangs unterwegs gewesen war. Finde ich allein das schon recht verlockend, hat er mich definitiv für sich gewonnen, als ich das Schild lese, daß man direkt an seinem Anfang aufgestellt hat. „Für Radfahrer nicht geeignet!“ lese ich darauf.
Kurz überlege ich, ob das auch wirklich der Leuchtturmweg ist oder ob ich es nicht doch lieber mit der Waldstraße versuchen soll, doch dann beschließe ich, mir darüber keine großen Gedanken zu machen und gehe los. Die Richtung stimmt in etwa und irgendwo am Weststrand werde ich schon rauskommen. Und wenn es nicht am Leuchtturm ist, kann ich ja immer noch am Strand entlang dorthin gelangen.
Der Weg führt mal auf, mal ab über den hügeligen Waldboden und windet sich mal links, mal rechts herum zwischen den Bäumen hindurch. Die Waldstraße links von mir ist schon bald nicht mehr zu sehen, da sich mein Weg immer weiter von ihr entfernt. Wieder umfängt mich die Ruhe des Waldes, in der mittlerweile die gefiederten Freunde ihr Konzert eingestellt haben, um nur noch vereinzelt hier und da vor sich hin zu zwitschern. Der Weg ist recht bequem zu gehen und, so denke ich bei mir, eigentlich auch mit dem Rad durchaus befahrbar. Wenn er nicht irgendwann später unwegsamer werden sollte, müßte man auf ihm doch eigentlich recht gut radeln können. Gerade will ich mich über das an seinem Anfang aufgestellte Schild freuen, weil es mir dennoch die Radfahrer vom Halse hält, da klingelt es auch schon herausfordernd hinter mir. Kaum daß ich einen Schritt zur Seite gemacht habe, kommt auch schon ein Radfahrer an mir vorbeigekeucht. Für ein „Danke“ fehlt ihm wohl die Luft. Meinen Fuß erhebend, um weiterzugehen, werde ich gleich wieder gestoppt, als eine Radfahrerin an mir vorüberfährt. Sie bleibt ebenso stumm. Mich vergewissernd, daß nun niemand mehr kommt, setze ich meinen Weg fort und vermeide nun jegliche voreiligen Danksagungen in Gedanken.
Nach einer Weile bemerke ich, daß der Weg langsam, doch kontinuierlich nach rechts strebt. Wenn das so weiter geht, denke ich, bin ich irgendwann in nördlicher Richtung unterwegs. Das wird mich dann aber nicht zum Weststrand bringen! Schon überlege ich, ob es nicht doch besser wäre, wieder zurückzugehen und den anderen Weg zu nehmen, da tritt der meine zwischen den Bäumen hervor und trifft auf eine weitere Waldstraße, die zwar tatsächlich zunächst direkt nach Norden führt, doch bereits wenige Meter voraus eine scharfe Linkskurve einschlägt. Weil das offenbar ganz in seinem Sinne ist, beschließt mein Weg, diese Waldstraße von nun an zu begleiten, was er zunächst rechterhand tut, bis er schließlich, sie kreuzend, die Seiten wechselt. Mir ist das ausgesprochen recht, denn die Waldstraße wird, ihrem Zustande nach zu urteilen, wohl recht häufig benutzt, so daß sie einen ziemlich zerfahrenen Eindruck macht. Auf ihr zu wandeln wäre in etwa so lustig wie das Stapfen in tiefem, lockerem Sand.
Während ich so dahinwandere, ändert der Darßwald immer wieder einmal sein Erscheinungsbild. Auf den Kiefernwald mit von Beerensträuchern bestandenem Boden folgt ein Mischwald, in dem sich Buchen und auch Eichen ausmachen lassen und wo es keinerlei Bewuchs auf dem Waldboden gibt. Der ist dafür dicht mit dem verwelkten Laub des Vorjahres bedeckt. Hier und da liegt auch der Stamm eines gefallenen Baumes quer oder ragt, wenn der Fall aus irgendeinem Grund nicht ganz abgeschlossen werden konnte, schräg in die Luft. Dann wieder passiere ich eine kurze Totholzstrecke, auf die ein Waldstück mit dichtem Unterholz folgt, durch dessen Gestrüpp ich mich nur ungern würde zwängen müssen, so daß ich froh über meinen doch recht gemütlich begehbaren Weg bin. Hin und wieder bemerke ich wieder einige Vertreter der fliegenden Zunft, die mich entweder neugierig beäugen oder aber ihren Tagesgeschäften nachgehen. Irgendwo hämmert ein Specht hingebungsvoll auf einen Ast ein. Er hört auch nicht damit auf, als ich direkt unter seinem Baum, auf dem ich ihn schließlich entdeckt habe, angekommen bin. Er weiß wohl sehr genau, daß er von mir nichts zu befürchten hat, weil ich es niemals in diesem Leben schaffen würde, zu ihm auf den Baum hinaufzukommen. Ich gönne ihm diese Gewißheit, bedinge mir dafür aber ein Foto von ihm aus, das er mir bereitwillig gewährt.
So vergeht die Zeit, in der ich weiter und weiter in Richtung Westen wandere. Schnurgerade führt mich die Waldstraße und mit ihr mein sie begleitender Weg durch den Darßwald. Ich bin mittlerweile eine gute Stunde darin unterwegs, als ich schließlich an einen weiteren Querweg komme. Als ich ihn erreiche, passiere ich eine weitere Tafel wie die, die am Anfang meines Weges gestanden hatte, nur daß diese hier ihre Botschaft in die entgegengesetzte Richtung verkündet: „Für Radfahrer nicht geeignet!“ Nun gut. Jetzt weiß ich, daß dies nur der Abschreckung dient. Aber behalten wir das lieber für uns. Den Wanderern zuliebe…
Hinter dem Querweg führen Weg und Waldstraße direkt weiter. Letztere ist nun allerdings nicht mehr so sandig und zerfahren wie zuvor, sondern das glatte Gegenteil. Zwar weiterhin ungeteert und auch nicht betoniert, kann aber dennoch ein Auto bequem auf ihr fahren, wie ich kurz darauf auch unmittelbar feststellen kann, als eines an mir vorbeibraust. Die Uhr geht mittlerweile auf Elf zu, und ganz offensichtlich ist das die Zeit, zu der die Urlauber auf dem Darß endlich aufgestanden sind, denn auf der Straße ziehen nun in kurzen Abständen immer wieder Radfahrer an mir vorüber. Fußgänger sind hingegen weiterhin selten. Die sind wahrscheinlich erst kurz hinter dem Waldrand angekommen…
Als Straße und Weg eine Biegung machen, sehe ich plötzlich vor mir, worauf sie unmittelbar zulaufen und was mein erstes Ziel an diesem Tage ist: den Leuchtturm. Recht trutzig steht er da, wie er, so ganz aus roten Ziegeln erbaut, in die Höhe ragt. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die aus demselben Material errichteten Häuser, die sich, aus meiner Perspektive, vor ihm aufbauen, als seien sie seine kleine Burg. Eine den Raum zwischen den Häusern verschließende Ziegelmauer mit einem hölzernen, zweiflügeligen Tor rundet dieses Bild ab, das sich jedoch gleich wieder auflöst, als mir die ebenerdige Lage des Ganzen ins Bewußtsein dringt. Schön anzusehen sind die Bauten aber allemal. Um Schönheit allein geht es dabei allerdings gar nicht, denn den Leuchtturm hat man in den Jahren 1847 und 1848 einst errichtet, um die Schiffe auf der Ostsee vor den Untiefen der sogenannten Darßer Schwelle zu warnen. Gedanklich stolpere ich jedesmal ein wenig, wenn ich das Wort Untiefe lese, höre oder denke, gehört es doch mit seinen zwei Bedeutungen, von denen die eine das glatte Gegenteil der anderen ist, zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Sprache. Es kann sowohl eine besonders seichte Stelle in einem Gewässer bezeichnen als auch eine besonders tiefe. Wenn man jedoch extra einen Leuchtturm errichtet, um Schiffe vor einer Untiefe zu warnen, dann kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß es sich hier um eine besonders seichte Stelle wie beispielsweise eine Sandbank handelt. Die Darßer Schwelle ist nun allerdings nicht einfach nur eine Sandbank vor der Küste der Halbinsel, sondern eine Bodenerhebung in der Ostsee, die sich vom Darß bis zu den dänischen Inseln Falster und Mon hinüberzieht. Um die Mannschaften passierender Schiffe auf sie aufmerksam zu machen, nahm man im Jahre 1849 den Leuchtturm am Darßer Ort in Betrieb, was ihn zu einem der ältesten Leuchttürme an der deutschen Ostseeküste macht.
Ganze 35,4 Meter ist er insgesamt hoch. Anfangs wurde er von einem Leuchtturmwärter betrieben, der stets die 134 Stufen hinaufsteigen mußte, die zum Umgang hinaufführen, der sich in einer Höhe von etwa dreißig Metern befindet. Zum Leuchtfeuer auf dreiunddreißig Metern waren es noch ein paar mehr. Heute wird das nur noch nötig, wenn an der seit 1978 ferngesteuerten Anlage etwas zu warten oder gar zu reparieren ist. Oder wenn Touristen zum Umgang hinaufsteigen möchten, um von dort oben die Aussicht zu genießen. Doch die tun das ja dann freiwillig. Die den Leuchtturm umgebenden Gebäude beherbergten einst ein Lotsenhaus sowie Wohnung und Dienstzimmer des Leuchtturmwärters, den es heute hier aber nicht mehr gibt. So dient eines mittlerweile als Café, während die anderen den Ausstellungen des Natureums ein Domizil geben, das eine Außenstelle des Deutschen Meeresmuseums in Stralsund ist und seinen Besuchern den Naturraum Darßer Ort und die Ostseeküste näherbringt und sie über die hier heimischen Tierarten informiert.
Irgendwie ist mir angesichts des phantastisch schönen Wetters an diesem Ostermontag allerdings nicht so recht nach einem Ausstellungsbesuch. Und die Ostsee sowie die Natur am Darßer Ort schaue ich mir lieber aus nächster Nähe als von oben an, so daß ich sowohl auf den Besuch des Natureums als auch auf die Kraxelei auf den Turm verzichte, mir das dafür nötige Eintrittsgeld spare und mich gleich auf den Weg am Leuchtturm vorbei zum nahen Weststrand mache.
Der Weg führt mich links an dem Leuchtturmgehöft vorbei und wird unmittelbar dahinter sofort sandig, so daß ich schwer zu stapfen habe. Zu beiden Seiten wachsen zunächst noch niedrige Kiefern, die jedoch das markante Erscheinungsbild der Windflüchter vermissen lassen, was mich etwas wundert, entspricht dies doch so gar nicht meiner Erinnerung an den Weststrand. Doch kann ich zunächst nicht weiter darüber nachdenken, denn ich werde durch ein kleines metallenes Modell abgelenkt, daß man auf der rechten Wegseite aufgestellt hat und das das hiesige Gelände von der Ostsee bis zum Leuchtturm zeigt. Eine Tafel erklärt mir, daß entlang der Küste, die den Weststrand des Darß bildet, und auch am südlich gelegenen Fischland von der Ostsee bis zum heutigen Tag beständig Land abgetragen und zur Nordspitze des Darß transportiert werde, wo sich die Sedimente wieder ablagerten und neues Land bildeten. Dort allerdings, wo ich mich gerade befinde, gehe jedes Jahr Land verloren, so daß davon auszugehen sei, daß es den Leuchtturm in etwa fünfzig Jahren wohl nicht mehr geben werde. Ui!! Da ist es ja gut, daß ich heute hierher gekommen bin. Wer den Leuchtturm also noch einmal sehen möchte – viel Zeit ist nicht mehr.
Ich stapfe weiter und lasse die Kiefern hinter mir. Der Sandweg führt mich jetzt über eine ganz klassische, mit Strandhafer bewachsene Düne, fällt dahinter ab und entläßt mich auf einen breiten, sonnenbeschienenen und nahezu windstillen Sandstrand, an den die spiegelglatte Ostsee – ein wenig lustlos, wie mir scheint – heranplätschert.
Nun, ich gebe es zu – das ist nicht so ganz das, was ich erwartet habe. Rauhe Winde, aufgewühltes Wasser mit hohen Wellen, einen von endlos vielen Steinen bedeckten und durchsetzten Sandstrand – das ist in meiner Erinnerung der Weststrand immer gewesen. Doch davon ist hier weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen stehe ich hier an einem Stück Ufer, das sich kaum von dem unterscheidet, wie ich es vom Prerower Nordstrand kenne. Es fehlen eigentlich nur die Strandkörbe.
Links und rechts des hier endenden Weges haben sich Leute im Sand niedergelassen und genießen die Sonne. Andere wandern nahe am Wasser den Strand entlang, einige scheinen irgendetwas zu suchen, denn sie bücken sich immer wieder hinunter, nehmen etwas auf, prüfen es und lassen es wieder fallen. Muschelsucher vermutlich. Hinter den im Sand Lagernden – und das ist eigentlich der einzige Unterschied zum Strand vor Prerow – fällt die Düne in einer regelrechten Steilwand nahezu senkrecht ab. Allerdings ist diese nur etwa zwei Meter hoch und besteht vollkommen aus Sand. Vermutlich sieht sie nach jedem Tag mit rauherem Wind als heute etwas anders aus.
Als ich den Strand erst in nördlicher und dann in südlicher Richtung entlangblicke, muß ich endgültig einsehen, daß der Weststrand hier ganz anders geartet ist, als es meine Erinnerung mir sagt. Und das liegt nicht nur am Wetter. So vermisse ich ein wenig die wilde Urwüchsigkeit der zerzausten Dünen und der Windflüchter, von denen es hier wirklich keinen einzigen gibt. Auch von den so zahlreich vorhanden sein sollenden Steinen ist nur wenig zu sehen. Ich entdecke einen schmalen Streifen, als ich hinunter zum Wasser gehe, doch von dem Weststrand, in dessen breiten Steinfeldern ich als Kind so eifrig nach Hühnergöttern, versteinerten Meerestieren und Bernstein gesucht habe, ist das weit entfernt. Bernstein und Versteinerungen von Meeresbewohnern habe ich zwar nie gefunden, doch das Suchen hat mir immer Spaß gemacht. Und Hühnergötter – also Steine mit wenigstens einem Loch darin – gab es immerhin einige zu finden.
Ich bleibe ein wenig am Saum des Wassers stehen, das so leise an den Strand schwappt, daß ich mir kaum Sorgen machen muß, es könnte meine Füße überspülen. Draußen auf dem Meer, eine ganzes Stück vom Strand entfernt, ragt ein dickes, braunes Etwas aus dem Wasser, das sich leicht gen Süden neigt. Rund, vielleicht eineinhalb oder zwei Meter im Durchmesser, sieht es aus wie das Ende eines überaus mächtigen Pfahls, das etwa zwei Meter über die Wasseroberfläche reicht. Was das genau ist – ich weiß es nicht zu sagen. Auch nicht, aus welchem Material es wohl besteht. Von der Färbung her könnte es aus Holz sein. Aber dann hätte das Meer es sicher längst zerlegt. Ich grüble nicht weiter darüber nach, denn viel interessanter ist das, was sich auf diesem mysteriösen Ding befindet. Eine kleine Kolonie Kormorane hat es sich dort in der Sonne gemütlich gemacht und genießt den warmen Tag. Einige der Vögel, so scheint mir, blicken genauso interessiert zu mir herüber wie ich zu ihnen – mit dem Unterschied, daß sie jederzeit ohne weiteres den Abstand zwischen uns verringern könnten, wenn sie denn nachsehen wollten, wer sie hier vom Strand aus beäugt. Da sie jedoch bleiben, wo sie sind, ist ihr Interesse wohl doch nicht so groß.
Auch ich genieße das schöne Wetter, über das ich mich wirklich nicht beklagen kann. Wie ich jedoch so auf das Meer hinausschaue, dessen spiegelglatte Oberfläche in der Sonne glitzert, vermisse ich doch ein wenig den rauhen Wind und die von ihm an Land getriebenen hohen Wellen, an die ich mich aus meiner Kindheit so gut erinnere. Schmunzelnd denke ich an eine Begebenheit zurück, die sich in einem unserer damaligen Urlaube zutrug, als wir wieder einmal zum Weststrand gewandert waren, den wir nun entlanggingen. Es war ein ganzes Stück weiter südlich gewesen und der Weststrand präsentierte sich an diesem Tag von seiner wilden Seite. Graue Wolken trieben über den Himmel und gaben der Sonne nur ab und zu Gelegenheit, einen ihrer Strahlen zwischen ihnen hindurch zur Erde zu schicken; ein rauher Wind vom Meer warf die hohen Wellen vor sich her auf den Strand; unter unseren Schuhen knirschten die Steine, die wir mit jedem Schritt aneinanderpreßten und umherwarfen und zwischen denen sich Stränge grünen Seetangs verfangen hatten, der immer wieder versuchte, unsere Füße zu umschlingen und uns am Vorwärtskommen zu hindern. Ein Stück vom Wasser entfernt, dort wo die Steine Platz für den Sand ließen, hatten sich vor der Düne, über der hier und da die Kronen vereinzelter Windflüchter aufragten, einige Leute vereinzelt kleine Refugien inmitten nahezu kreisrund aufgeschichteter Sandwälle geschaffen, die sie leidlich vor dem Wind schützten. In einer dieser kleinen Sandburgen lag ein Pärchen mittleren Alters, beide splitterfasernackt wie all die anderen Leute auch, die hier am Weststrand ihrer Leidenschaft für die Freikörperkultur frönten, wofür sie bereit waren, dem Wetter und dem Wind zu trotzen, der doch gehörig blies. Das tat er so hingebungsvoll, daß es ihm gelang, die Temperatur, die an diesem Tag sowieso schon nicht sonderlich hoch war, in unserem Empfinden noch einmal gewaltig nach unten zu drücken, so daß wir uns nicht nur wetterfeste Jacken angezogen, sondern deren Kragen auch noch hochgeschlagen hatten, als wir so den Strand entlangstapften auf dem Weg zu einem der weiter nördlich gelegenen Dünenübergänge, hinter dem wir dann einen Weg zurück nach Prerow zu finden hofften. Dabei kamen wir auch an dem nackten Paar vorüber, das trotz des unfreundlichen Wetters gelassen in seiner Sandburg lag, das Leben genoß und uns Wanderer neugierig beäugte. Als wir genau auf ihrer Höhe angelangt waren, stieß die Frau dem neben ihr liegenden Mann ihren Ellenbogen in die Seite und sagte, als er sich leicht aufrichtete, um zu sehen, was es gäbe, in laut vernehmlichem Ton, der keine Rücksicht darauf nahm, ob wir sie hören konnten, zu ihm: „Guck mal da! Für die einen ist Sommer, für die anderen Winter!“
In der Tat war die gewaltige Diskrepanz zwischen ihrem und unserem Erscheinungsbild überaus skurril – so sehr, daß wir noch lange danach über diese merkwürdige Situation lachen mußten und der so überaus treffende Kommentar dieser Frau in unserer Familie zu einem geflügelten Wort wurde, das immer dann zum Einsatz kam, wenn uns eine vergleichbare Situation über den Weg unseres Lebens lief.
Nun, hier und heute lagern keine Anhänger der Freikörperkultur am Strand, obwohl das sonnige Wetter mit dem strahlend blauen Himmel sehr dazu einlädt. Vielleicht ist es ihnen noch nicht warm genug.
Nachdem ich eine Weile auf das Meer hinausgesehen und die am Horizont vorbeiziehenden Schiffe beobachtet habe – hier am Weststrand ist das Meer glücklicherweise völlig windradfrei -, schließe ich mich den Leuten, die den Strand entlangwandern, an und laufe die Wasserkante entlang in nördlicher Richtung. Einen wirklichen Plan, wie es von hier an weitergeht, habe ich nicht, lediglich die vage Idee, daß ich versuchen könnte, über die Spitze des Darß‘ zum Nordstrand zu gelangen, um auf diesem dann zurück nach Prerow zu wandern. Nun, da ich den schmalen Streifen Steine in der Nähe des Wassers gesehen habe, vermute ich, daß die von mir zuvor bemerkten Sucher wohl eher auf Bernstein und Hühnergötter aus sind als auf Muscheln. Ich glaube allerdings nicht, daß sie hier viel Erfolg mit ihrer Suche haben werden. Dafür ist dieser Strandabschnitt mit dem nahen Leuchtturm einfach ein viel zu stark frequentiertes Ziel.
Langsam wandere ich den Strand entlang, wobei ich stets nah am Wasser bleibe, um es beim Gehen leichter zu haben. Nach und nach nimmt die Anzahl der Menschen, denen ich begegne ab – die meisten bleiben ganz offensichtlich in der Nähe des Dünenübergangs am Leuchtturm. Ein Stück voraus kann ich jetzt eine Art hölzernen Zaun erkennen, der von der Düne aus quer über den Strand und ein Stück ins Wasser hinein führt. Geht es dort etwa nicht weiter? Ich überlege kurz, ob ich umkehren soll, verwerfe den Gedanken jedoch wieder. Wenigstens will ich wissen, was das da soll.
Es ist tatsächlich eine Sperre, die Besucher davon abhalten will, den Strand nördlich von hier zu betreten. Ein Schild erklärt mir den Grund. Die Nordspitze des Darß‘ liegt in der Kernzone des Nationalparks, den die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik in einer ihrer letzten Amtshandlungen am 12. September 1990 als Bestandteil des Nationalparkprogramms für den Osten Deutschlands ins Leben rief. Hier, so hat man es beschlossen, soll sich die Natur ohne Einfluß des Menschen entfalten dürfen, weshalb der gesamte nördliche Bereich des Darßer Ortes gesperrt ist. Niemand darf den Strand ab hier betreten, und auch das sich anschließende Landesinnere ist tabu. Weitestgehend jedenfalls. Das hat nicht nur die nach wie vor aktive Landbildung als Grund, sondern auch die zahlreichen Tier- und Pflanzenarten, die sich hier unbeeinflußt von menschlicher Aktivität entwickeln können sollen. Einige davon werden auf einer weiteren Tafel in Wort und Bild vorgestellt. Damit nun aber interessierte Menschen nicht gänzlich ausgeschlossen bleiben, hat man einen Rundwanderweg angelegt, der von hier aus in das Innere des Landes führt und über den man zu guter Letzt wieder zum Leuchtturm gelangt. Da ich keine große Lust verspüre, den Weg, der mich hierher geführt hat, einfach wieder zurückzulaufen, und überdies neugierig bin, wie die Landschaft in dem einstigen Sperrgebiet, in das wir früher nie hineindurften, beschaffen ist, gehe ich den Zaun entlang bis zur Düne und stapfe durch den hier recht tiefen Sand den steilen Anstieg hinauf, nicht ohne zunächst noch den Hinweis gelesen zu haben, daß ich doch bitte den Weg keinesfalls verlassen soll. Nun, das versteht sich von selbst.
Oben angekommen, sehe ich einen Sandweg vor mir, der jedoch bereits nach wenigen Metern wieder zu Ende ist. Damit niemand mit seinen Tritten die Dünen nachhaltig beschädigt, hat man sich die Mühe gemacht, den weiteren durch die Dünenlandschaft führenden Weg mit Bohlen auszulegen. Eine gewaltige Arbeit, wenn ich bedenke, daß ich die nächste halbe Stunde unausgesetzt auf diesem Bohlenweg unterwegs sein werde – was ich in diesem Augenblick allerdings noch nicht weiß.
Von der Anhöhe der Düne kann ich in südlicher Richtung noch einmal den Leuchtturm sehen, der allerdings von einem recht technisch aussehenden Metallungetüm weit überragt wird, das ich später als Marine-Funkturm identifiziere. Nun ja, der Fortschritt hat auch vor dem Darßer Ort nicht haltgemacht. Ich bin ja schon froh, daß hier keine Windräder die Landschaft verschandeln.
Es ist eine auf den ersten Blick karge Landschaft, in der ich nun unterwegs bin. Der Boden ist purer Sand, auf dem sich nur Gräser wie der allgegenwärtige Strandhafer halten können. Hier und da unterbrechen tief dunkelbraune Flecken die Grasfläche. Dort haben sich, wie mir scheint, bereits niedrige Pflanzen angesiedelt, die ich jedoch aus der Entfernung nicht genauer bestimmen kann. Später finde ich heraus, daß es sich um die kleinen Sträucher der Schwarzen Krähenbeere handeln könnte. Vereinzelt stehen auch einige Kiefern, die jedoch so klein sind, daß sie eher wie Büsche wirken. Erst weiter im Landesinneren werden sie nach und nach größer. Und dazwischen windet sich – mal hierhin, mal dorthin – der Bohlenweg, auf dem ich nun unterwegs bin und dessen Verlauf ich ein weites Stück voraus bereits erkennen kann, weil kaum einmal ein Hindernis den Blick verstellt. Viel mehr ist eigentlich nicht zu sehen. Und doch ist diese Landschaft von einer wahrlich wilden Schönheit. Sanft steigt der grasbewachsene Boden an, um urplötzlich wie an einem Miniaturkliff abzubrechen und eine große Sandfläche freizulegen, die jedoch bereits wieder von vereinzelten Gräsern erobert wird. Praktisch aus nächster Nähe kann ich den Übergang von der direkt auf den Strand folgenden Weißdüne zur Grau- und dahinter zur Braundüne mitverfolgen. Mit jeder von ihnen nimmt die Artenvielfalt Stück für Stück zu. Sind auf der aus purem Sand bestehenden Weißdüne weitestgehend nur Gräser lebensfähig, die jedoch recht vereinzelt stehen, so daß der Sand noch deutlich hervortritt, so ist die Vegetationsdecke auf der Graudüne bereits recht geschlossen. Hier leben auch schon andere Pflanzen, die jedoch noch von recht niedrigem Wuchs sind. In der dahinterliegenden Braundüne, der ältesten der drei, gedeihen dann schon kleine Bäume wie die Waldkiefer. Wenn wie hier am Darßer Ort neues Land gebildet wird, schieben sich auch die Dünen mit der Zeit immer weiter in Richtung Meer und die Natur erobert die neuen Areale. Es dürfte interessant sein, in einigen Jahren wieder hierher zu kommen und zu sehen, wie sich das Land verändert haben wird[1]Mehr Informationen zu den verschiedenen Dünenarten finden sich in dem Blog marionsostsee.de..
Als ich ein Stück auf dem Weg vorangekommen bin, kann ich in einer Lücke zwischen den niedrigen Bäumen, auf die mein Weg mit seinem Schlängelkurs zusteuert, wieder eine bis zum Horizont reichende Wasserfläche erkennen. Und weil das nur erneut die Ostsee sein kann, dürfte ich hier wohl direkt auf die andere Seite der Darßer Nordspitze blicken. Ich vermute daher, daß der Weg, dessen Ziel der in meinem Rücken gelegene Leuchtturm ist, hinter dieser Lücke einen Schwenk nach rechts machen wird – und behalte recht.
Als ich den Knick, den der Bohlenweg hier vollzieht, erreiche, schaue ich vor mir auf eine nahezu ebene Graslandschaft, die zunächst von einigen kleineren Wasserflächen durchbrochen wird, bevor sich dahinter die endlose See erstreckt. Diese Wasserflächen, deren Ufer von hohem Schilf eingerahmt werden, sind sogenannte Brackwasserseen. Die hier an der Nordspitze des Darß‘ immer noch stattfindende Landbildung führte durch die fortschreitende Sandablagerung zur Bildung von Nehrungen und – als diese sich schließlich schlossen – zur Abtrennung der umfaßten Wasserflächen von der Ostsee, den Brackwasserseen. Derzeit gibt es hier am Darßer Ort drei größere dieser Seen und einige kleinere.
Mich führt mein Weg als erstes zum Libbertsee, den es noch gar nicht so lange gibt. Er wurde erst in den 1950er Jahren von der Ostsee abgetrennt. Seitdem sinkt sein Salzgehalt stetig, und weil auch kein Frischwasser mehr in ihn einströmen kann, verlandet er zusehends. Irgendwann wird er möglicherweise sogar austrocknen. Doch noch ist es lange nicht soweit. Und so präsentiert sich mir der Libbertsee als ruhige, ausgedehnte Wasserfläche, eingerahmt von einem wogenden Meer von Schilf. Ein wahres Paradies für Wasservögel. Benannt hat man ihn übrigens nach Friedrich Libbert, einem Pflanzensoziologen und Darßforscher, der von 1892 bis 1945 lebte.
Damit mittelgroße Darßwanderer wie ich einen besseren Ausblick auf die Landschaft haben mögen, hat man freundlicherweise eine hölzerne Aussichtsplattform eben dort aufgestellt, wo mein Bohlenweg nun unvermittelt endet. Um den Paradiescharakter der Landschaft für Wasservögel zu unterstreichen, hat man ihr den Namen „Entenplattform“ gegeben. Neugierig steige ich hinauf, doch die Enten unternehmen wohl gerade einen Ausflug. Ich kann jedenfalls weit und breit keine entdecken. Lediglich ein einzelner Schwan zieht auf der Weite des Libbertsees einsam seine Bahn.
Die Weite der Landschaft zieht mich jedoch in ihren Bann, und so bleibe ich eine ganze Weile hier oben stehen und schaue einfach nur über das Land. Ich spüre, wie sich eine angenehme innere Ruhe in mir ausbreitet. Hier gibt es keine Hast, keine Hektik, keine Eile, kein Sich-beeilen-müssen und kein Schnell-noch-irgendetwas-fertigbekommen. Hier gibt es nur die Beschaulichkeit im Winde sanft sich wiegenden Schilfs, das leichte Gekräusel der Wasseroberfläche und die langsam am Himmel entlangziehenden Wolken. Und natürlich den einsamen Schwan dort draußen auf dem See, der das Wort „Termine“ ganz sicher noch nie gehört hat. Ach, könnte ich doch einfach hier bleiben…
Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als ich schließlich wieder am Fuße der Treppe, die zur Aussichtsplattform hinaufführt, ankomme und meinen Weg fortsetze. Noch immer besteht der Boden aus Sand, doch man hat ihn nun mit einer Art sehr grober Holzspäne bestreut, auf denen es sich recht bequem laufen läßt, so daß ich zumindest nicht wieder anfangen muß zu stapfen. Da es nun keine Bohlen mehr gibt, hat man vorsichtshalber in regelmäßigen Abständen links und rechts des Wegs kleine Pfosten eingeschlagen, an denen entlang man zu beiden Seiten je einen Draht gespannt hat, damit auch wirklich der Unachtsamste unter den Menschen begreifen kann, daß man den Weg nicht verlassen soll. Nun ist es keineswegs so, daß man nicht mühelos darüber hinwegsteigen könnte, doch das erforderte schon mutwillige Mißachtung dieses nicht gerade dezenten Hinweises, die Landschaft außerhalb des Weges doch bitte nicht zu betreten.
Es sind nur wenige Meter, die ich gehen muß, da führt mich der Weg in ein kleines Kiefernwäldchen. Hier ist der Belag auf dem Sand nicht mehr erforderlich, denn dieser ist nun bereits so festgetreten, daß ich auf einem gut begehbaren Waldweg unterwegs bin. Kurz darauf erreiche ich eine Stelle, an der dieser einen Neunzig-Grad-Knick nach Süden macht und sich somit endgültig zurück in Richtung Leuchtturm wendet. Bevor ich ihm jedoch folge, ersteige ich eine weitere Aussichtsplattform, die man an dieser Stelle errichtet hat. Auch ihr hat man einen Namen gegeben, der sich auf Tiere bezieht, die man von hier aus sehr gut beobachten können soll: „Adlerplattform“. Nun, mit den Seeadlern habe ich genauso viel Glück wie mit den Enten zuvor – es sind weit und breit keine zu sehen. Das macht aber nichts, denn erneut werde ich mit einem phantastischen Landschaftspanorama dafür entschädigt.
Hinter den Bäumen rechts von mir kann ich gerade noch erkennen, daß dort ein weiterer Brackwassersee zu finden ist, der, wie ich später nachschlage, den Namen Fukareksee trägt. Auch er ist nach einem Forscher benannt, der sich eingehend mit der Naturkunde des Darß‘ beschäftigt hat. In diesem Fall handelt es sich um Franz Fukarek, der von 1926 bis 1996 lebte. An diesem See kann man die Veränderlichkeit der hiesigen Landschaft besonders gut studieren, wenn man genügend Zeit mitbringt. Von der Ostsee durch Sandablagerungen abgetrennt, ist der See erst in den 1980er Jahren entstanden. Vor einiger Zeit wurde jedoch an seinem Nordende wieder etwas Land abgetragen, so daß sich erneut ein Durchlaß zur Ostsee öffnete, der sich seitdem stetig vergrößert hat, wodurch der Fukareksee heute eigentlich gar kein See mehr ist, sondern eher eine Meeresbucht. Doch wer weiß, wie sich das angesichts der Dynamik, mit der hier an der Nordspitze des Darß‘ immer noch Land entsteht, sich verändert und gegebenenfalls auch wieder abgetragen wird, in der Zukunft entwickeln wird. So lange, daß ich das aus erster Hand feststellen kann, will ich allerdings nicht verweilen. Aber ich kann ja in ein paar Jahren noch einmal hier vorbeischauen…
Von der Adlerplattform setze ich meine Wanderung schließlich fort. Bereits nach wenigen Metern schwenkt der Weg weiter nach Südwesten und führt nun am Rand des kleinen Wäldchens entlang. Da ich jetzt die unmittelbare Nachbarschaft des Wassers verlassen habe und sich rings um mich hohe Bäume befinden, ist alsbald der Wind verschwunden und es wird mir im Lichte der strahlenden Sonne schnell recht warm. Nach all den fast schon winterlich kühlen Tagen, die es in diesem Frühjahr bisher gegeben hat, ist mir das durchaus angenehm. Und auch die Tiere des kleinen Waldes locken Licht und Wärme hervor. Direkt vor mir auf dem Weg gewahre ich unvermittelt eine schwarze gewundene Linie, die sich, als ich genau hinschaue, auch noch bewegt. Ich halte inne und beobachte, wie sich eine schwarze Kreuzotter gewandt von einer Seite des Weges zur anderen schlängelt[2]Ich bin zwar kein Experte, doch von einer Eidechse scheint mir das Tier weit entfernt zu sein. Nach einigen Vergleichen mit einschlägigen Bildern habe ich mich schließlich entschieden, die Schlange … [Weiterlesen]. Drüben angekommen, verschwindet sie gemächlich im hohen Gras.
Ein paar Meter weiter passiere ich einen großen Ameisenhaufen, auf dem die unzähligen kleinen Tierchen ein mächtiges Gewimmel veranstalten, das sie in der näheren Umgebung fortsetzen. Obwohl – verglichen mit den Ameisen, denen man gewöhnlich in Städten so begegnen kann, sind diese hier doch recht groß. Ich halte sie für Rote Waldameisen, die es hier in der Gegend geben soll.
Schließlich verläßt der Weg den kleinen Wald und führt hinaus auf eine große Freifläche, die auf mich zunächst den Eindruck einer Mischung aus Wiese und Feld macht, bis ich registriere, daß das, was sich da so anmutig im nun erneut etwas auffrischenden Winde wiegt, schon wieder Schilf ist. Ein Stück voraus bemerke ich eine dritte Aussichtsplattform, die allerdings bei weitem nicht so hoch ist wie die beiden, die ich bisher passiert habe. Sie ist eher ein erhöhtes Podest, zu dem drei, vier Stufen hinaufführen und auf dem man mehrere Holzbänke aneinandergereiht hat. Da diese voller Menschen sind, die sich hier häuslich niedergelassen zu haben scheinen – jedenfalls machen sie keinerlei Anstalten, sich alsbald wieder zu erheben -, halte ich mich hier nicht allzulang auf. Dennoch gestatte ich mir ein paar Minuten für einen Rundblick. Über die in der Nähe des Weges wachsenden Wacholderbüsche hinweg habe ich einen schönen Blick über die weite, riesige Lichtung, auf der wahrlich ein Meer von Schilfrohren im Winde wogt. Das Schilf ist schon so hoch gewachsen, daß ich trotz meiner erhöhten Stellung den See, der einen beträchtlichen Teil dieser Fläche einnehmen soll, gar nicht sehen kann. So habe ich das einigermaßen merkwürdige Bild vor Augen, das mir die Aufbauten einiger Schiffe zeigt, die direkt auf dem Schilf zu schwimmen scheinen.
Auch dieses als Ottosee bezeichnete Gewässer ist ein einst von der Ostsee abgetrennter Brackwassersee, der seinen Namen zu Ehren von Theodor Otto trägt, der von 1880 bis 1945 lebte und Geograph an der Universität Greifswald war. Da der See den sogenannten Nothafen am Darßer Ort beherbergt, besitzt er noch heute eine Verbindung zur Ostsee, die es allerdings schon längst nicht mehr gäbe, würde man sie nicht stets und ständig freibaggern. Dieser Hafen ist aus dem einstigen Manöverhafen der Nationalen Volksarmee der DDR hervorgegangen. Trotz der Einrichtung des Nationalparks hat man ihn beibehalten, um ihn als Nothafen nutzen zu können, weil zwischen Warnemünde und Barhöft bei Stralsund kein anderer solcher Ankerplatz existiert.
Die Aussichtsplattform, auf der ich nun stehe, ist mit ihrem Namen „Hirschplattform“ ebenfalls nach den Tieren benannt, die man von hier aus gelegentlich beobachten können soll. Es ist wohl müßig zu erwähnen, daß ich hier natürlich keine Hirsche zu sehen bekomme. Allerdings hätte mich das angesichts der vielen laut durcheinanderschwatzenden Leute um mich herum auch ehrlich gewundert. Und da ich es den Hirschen gut nachfühlen kann, verlasse ich die Plattform alsbald wieder und setze meinen Weg fort.
Der macht nach einigen Metern wieder einmal einen Knick nach rechts, hinter dem er unvermittelt als Bohlenweg mitten in das Schilf hineinführt. Und so soll die Holzkonstruktion diesmal auch keine sandigen Dünen schützen, sondern die Füße der Wanderer trockenhalten. Das Gelände ist hier nämlich plötzlich recht sumpfig. Stellenweise spaziere ich auf den Brettern über stehendes Wasser hinweg, das ich ohne sie hätte durchwaten müssen. Das wäre vermutlich kein so großes Vergnügen gewesen. So aber komme ich trockenen Fußes gut voran, bis ich mich nach einem weiteren Knick, den der Weg diesmal nach links vollzieht, recht unvermittelt vor einer hölzernen Brücke wiederfinde. Hier durchzieht ein kleines Fließ das Schilf, in dessen ruhigem Wasser sich der Himmel spiegelt.
Auf der anderen Seite der Brücke muß ich eine Entscheidung treffen, denn von hier führen zwei Wege weiter. Beide auf Holzbohlen. Nach rechts kann ich weiter dem Rundwanderweg folgen, der mich zurück zum Leuchtturm bringt, während es geradeaus, so verspricht es mir ein Wegweiser, zurück nach Prerow geht. Nun, beim Leuchtturm war ich schon. Und von dort denselben Weg zurück durch den Darßwald zu wandern, den ich am Vormittag gekommen war, dazu habe ich keine rechte Lust. Schon als Kind habe ich das einfache Hin und wieder Zurück gehaßt. Das war mir stets zu langweilig. Und so fällt mir die Entscheidung, welchen Weg ich nehmen soll, nicht schwer. Es geht geradeaus, mitten hinein in eine Allee aus dünnen Bäumchen, die dem Frühling noch nicht so recht trauen und daher bisher davon abgesehen haben, ihr Laub sprießen zu lassen. So stehen sie mir auf meinem weiteren Weg als kahle Baumgerippe Spalier.
Während ich weitergehe, kommen mir nun mehr und mehr Leute entgegen. Offenbar kommen jetzt die Fußgänger, die sich erst am späten Vormittag auf den Weg hierher gemacht haben, so langsam an. Nach einiger Zeit hört der Bohlenweg wieder auf. Das Spalier der dünnen Bäumchen tut es ihm gleich.
Weiter geht es immer am Rande des Sumpfes entlang, bis der Weg sich plötzlich scharf nach links wendet und wieder direkt in diesen hineinführt. Prompt sind auch die Bohlen wieder da. Zum Glück, möchte ich sagen, denn nun geht es wirklich ununterbrochen mitten durch im Wasser stehendes Schilf. Angesichts der mir beständig entgegenkommenden Leute heißt es nun gut aufpassen, denn wir müssen auf dem nur mäßig breiten, geländerlosen Steg aneinander vorbeikommen, ohne daß einer von uns ins Wasser fällt. Schließlich habe ich aber das Ende des hölzernen Pfades erreicht und wieder uneingeschränkt festen Boden unter den Füßen.
Der Weg hat mich bis hierher teils um, teils durch das Sumpf- und Seegebiet des Ottosees geführt, so daß ich nun auf dessen gegenüberliegender Seite angekommen bin und mich nicht allzu weit entfernt vom Nothafen befinde. Dennoch kann ich diesen immer noch nicht sonderlich gut sehen, da nun zahlreiche Bäume zwischen mir und der freien Wasserfläche des Sees aufragen. Diesen komme ich im folgenden näher und näher, bis ich das freie Gelände schließlich verlasse und mich wieder im Wald befinde. Kurz darauf trifft mein Weg auf einen anderen, der jedoch ungleich breiter ist und durchaus als Waldstraße bezeichnet werden darf. Dieser folge ich nun in südöstlicher Richtung, die die einzig mögliche ist, denn in der anderen hindert ein Zaun mit einem geschlossenen Tor jeden Wanderer am Weiterkommen. Das ist wohl die Zufahrt zum Nothafen.
Darüber nachsinnend, ob ich denn wohl doch noch irgendwie einen Blick auf diesen Ankerplatz erhaschen könnte, bin ich noch nicht weit gekommen, als sich auf der linken Seite plötzlich ein Weg ins Gebüsch schlägt, an dem ein Schild verkündet, daß es sich nicht lohne, ihm zu folgen, da er in einer Sackgasse enden würde. Für mich ist das allerdings Grund genug, ihn genau deswegen interessant zu finden. Den was sonst sollte diesem Weg ein abruptes Ende bereiten als das Wasserbecken des in dieser Richtung liegenden Nothafens? So bin ich wenige Augenblicke später bereits ein gutes Stück von meiner Waldstraße entfernt, als ich die Richtigkeit meiner Annahme auch schon bestätigt finde. Meine Schritte haben mich an’s Ufer eines Gewässers geführt, das anhand der darin ankernden Schiffe unzweifelhaft als Hafen identifiziert werden kann.
Zwei dieser schwimmenden Gefährte machen auf mich einen überaus merkwürdigen Eindruck. Jedes von ihnen besitzt eine rechteckige Grundform, was für ein Schiff schon einmal recht ungewöhnlich ist. Auf beiden sind diverse Aufbauten zu sehen sowie jeweils ein großer Baukran. Daß es sich also um Bauschiffe handelt, ist nicht so schwer zu erraten. Doch wozu die jeweils vier hohen dunkelbraunen Stangen dienen könnten, die meterhoch an jeder Ecke der rechteckigen Schiffsbasis aufragen und deren obere Enden orangefarbenen angepinselt worden sind, so daß sie wie große aufgesetzte Hauben wirken, darauf kann ich mir keinen rechten Reim machen.
Viel mehr ist dann allerdings auch schon wieder nicht zu sehen. Die Ausfahrt aus dem Hafen befindet sich von mir aus gesehen offenbar hinter den Schiffen, so daß sie vor meinen Blicken verborgen bleibt. So wende ich mich wieder um und kehre zur Waldstraße zurück, der ich dann allerdings nur ein kleines weiteres Stück folge, denn schon nach wenigen Metern erreiche ich einen weiteren nach links führenden Abzweig. Diesmal gibt es hier anstelle eines von der Benutzung abratenden Schildes einen eben diese empfehlenden Wegweiser. Als Ziel gibt er eine am Nothafen befindliche Aussichtsplattform aus. Na, wenn das nichts ist…
Einen Fußmarsch von etwa einem halben Kilometer später bin ich am Ende der befestigten Straße angekommen, die mich unmittelbar am einzigen Kai des Hafens entlanggeführt hat und nun vor einem mit einem Tor abgesperrten Gelände ablädt, hinter dem die beiden Bauschiffe im Wasser liegen – das eine bereits in dem Verbindungskanal, der den Nothafen mit der Ostsee verbindet. Hier ist die Welt zu Ende. Oder sie wäre es, gäbe es da nicht den mit Geländern versehenen Holzsteg, der neben der Hafenzufahrt auf die Düne hinaufführt. Ob dort oben wohl die Aussichtsplattform zu finden ist?
Sie ist es. Der Ausblick, den ich von hier oben nun genießen kann, ist allerdings ein wenig nüchtern. Links verläuft die Hafenzufahrt, die, das liegt in der Natur der Sache, den Strand unterbricht. So ist es auch nicht verwunderlich, daß dieser hier mit einem ebensolchen Holzzaun abgesperrt ist, wie ich ihn zuvor am Weststrand bereits angetroffen hatte. Auf der anderen Seite des Zufahrtskanals ist nicht sonderlich viel zu sehen, da das Gelände dort ebenso hoch ist wie hier und Bäume den Blick in die Ferne behindern. So bleiben also nur die Aussicht nach Westen auf’s Meer hinaus und nach Südwesten über die Düne den Strand entlang. Dieser beschreibt eine weite Kurve vom nördlichen Ende des Darß, an dem ich mich derzeit befinde, hinüber nach Prerow, wo er dann genau von West nach Ost verläuft, wie es sich für einen Nordstrand gehört. Da der Ort vom Strand jedoch durch den Dünenwald getrennt ist, kann ich ihn von hier aus nicht sehen. Das vor mir liegende Bild beschränkt sich also im wesentlichen auf vier aufeinanderfolgende Streifen, die von mir weg in einem weiten Bogen zum Horizont führen: der Wald, die Düne, der Strand und das Meer. Unendliche Weite…
Wie ich das Meeresufer so entlangschaue, kommen mir doch leise Zweifel daran, ob die Idee, auf dem Nordstrand nach Prerow zurückzulaufen, wirklich so gut ist. Das könnte auf die Dauer dann vielleicht doch etwas eintönig werden. So entschließe ich mich, den Weg durch den Wald zu nehmen, und kehre um. Auf dem Rückweg bemerke ich am Hafenkai eine Rettungsstation, die die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hier unterhält, und mache mir die gedankliche Notiz, daß der Hafen damit also noch einen weiteren Zweck erfüllt als nur den, in Bedrängnis geratenen Schiffen ein kurzzeitiges Refugium zu bieten.
Ich habe etwa die Hälfte der Strecke zurück zur Waldstraße zurückgelegt, als ich einen kleinen Weg bemerke, der in westlicher Richtung in den Wald hineinführt. Angesichts der vielen Urlauber, die mittlerweile hier unterwegs sind und die ich auch zuvor auf der Waldstraße ständig um mich hatte, erscheint es mir sehr verlockend, die Straßen gänzlich hinter mir zu lassen und auf einem ruhigen Waldweg zurück nach Prerow zu laufen. Gesagt, getan. Einen Schwenk und ein paar Schritte später bin ich unter den Bäumen verschwunden und von herrlicher Waldesruh umgeben.
Doch die Freude währt nicht allzulang. Denn wie ich schon nach relativ kurzer Zeit feststellen muß, führt mein stiller Waldweg direkt auf den riesigen Zelt- und Campingplatz zu, der sich von hier mehr als eineinhalb Kilometer bis zum Ortseingang von Prerow erstreckt. Und so laufe ich alsbald an einer endlosen Reihe von Campingwagen, Caravans und Zelten vorüber, die jedoch alle mehr oder weniger verlassen wirken, denn ich begegne lange Zeit keiner Menschenseele. Erst als ich mich in dieser provisorischen Stadt deren Zentrum nähere, zeigen sich dann doch ein paar ihrer Bewohner. Sie streben der einzigen Attraktion entgegen, die es heute hier zu geben scheint: ein mit lauter Musik die Gegend beschallendes Imbiß-Etablissement, das im Freien ein paar Tische und einen Grill aufgestellt hat. Daß der Lebensmittelladen und die anderen möglicherweise noch vorhandenen Geschäfte an diesem Montag hingegen alle geschlossen haben, finde ich merkwürdig, bis mir schließlich wieder einfällt, daß gerade Ostern und damit heute Feiertag ist.
Ich kann mich noch sehr gut erinnern, daß wir in einem unserer damaligen Urlaube einmal eine Wanderung den Nordstrand entlang unternommen hatten und dabei bis hierher zum Zeltplatz gekommen waren, wo wir den Strand schließlich verlassen hatten, um von hier aus irgendwie nach Prerow zurückzukommen. Auf dem Weg zwischen den Zelten und Wohnwagen hindurch hatte es uns auch zum Zentrum des Zeltplatzes verschlagen. Ob das damals schon an dieser Stelle oder irgendwo anders gewesen war, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Daß es dort allerdings ein sogenanntes Zeltplatzkino gegeben hat, das ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Denn dieses Kino, das es heute nicht mehr zu geben scheint – ich kann jedenfalls keines entdecken -, hatte mich damals sofort in seinen Bann gezogen. Neugierig war ich an jenem frühen Nachmittag stehengeblieben und studierte die aufgehängten Filmplakate mit den Ankündigungen, wann welcher Film laufen würde. Eines fand ich besonders lustig. Auf ihm waren drei drollig aussehende Typen zu sehen, von denen der kleinste und älteste eine Melone auf dem Kopf und einen Zigarrenstummel im Mund hatte. Bekleidet mit einem Anzug, sah er so aus, als nähme er sich überaus wichtig. Der zweite, etwas größere Mann wirkte überaus freundlich, machte aber einen etwas einfältigen Eindruck. Er trug eine Schiebermütze mit einem kurzen Schirm sowie eine Brille und war mit einer weiten Hose und einer braunen Jacke bekleidet. Unter den Arm hatte er eine abgewetzte Ledertasche geklemmt, die wie die altmodische Tasche eines Landarztes aussah. Der Dritte im Bunde war der Größte. Mit seinem Hut und seinem karierten Jackett hätte er vielleicht elegant gewirkt, wären im nicht seine Hosen deutlich zu kurz gewesen. Der Titel des Films verriet, daß die drei Figuren, denen man irgendwie ansah, daß sie alles versuchen, aber nichts auf die Reihe kriegen würden, in dem Streifen damit beschäftigt sein würden, Weichen zu stellen. Das klang skurril.
Nun war ich damals als angehender Teenager noch nicht in einem Alter, in dem ich besonders häufig ins Kino gegangen wäre. So war ein Kinobesuch für mich schon etwas absolut Besonderes. Da stand ich nun also vor diesem Filmplakat, las den Filmtitel und die Angaben mit den Spielzeiten – und war auf einmal ziemlich aufgeregt. Ich hatte gerade entdeckt, daß eben dieser Film, der seinem Plakat zufolge ganz sicher wahnsinnig lustig sein mußte, in wenigen Augenblicken anlaufen würde. Und so bekniete ich meine Eltern umgehend, ob wir nicht bitte bitte gleich jetzt in diesen Film gehen könnten. Nun, ich mußte nicht lange bitten, denn dankenswerterweise waren sie sofort einverstanden, spontan einen Kinobesuch einzulegen – und so kam es hier in Prerow, in eben diesem Zeltplatzkino zu meiner allerersten Begegnung mit – der Olsenbande. Ich könnte heute nicht mehr sagen, wann, wo und unter welchen Umständen ich die anderen Filme dieses Trios Infernale gesehen habe, aber dieser eine, der für mich der erste war, ist mir in Erinnerung geblieben.
Daß es das Kino von damals heute nicht mehr gibt, ist eigentlich nicht verwunderlich, denn es war eine recht provisorische Anlage. Im Grunde bestand es vollständig aus Wellblech und wirkte in seinem äußeren Erscheinungsbild so, als hätte man eine riesige Tonne der Länge nach in der Mitte aufgeschnitten und eine Hälfte dann auf den Boden gelegt. Blechbüchsenkino nannten die Urlauber das damals, und genauso sah es auch aus. Daß das heute natürlich den Ansprüchen an ein Kino nicht mehr genügt, ist wohl klar. Schade ist aber, daß man es einfach wegrationalisiert hat, anstatt den Zeltplatzgästen ein besseres Filmhaus hinzustellen. Nun ja, es rechnet sich wohl nicht. So müssen filmverrückte Camper heute nach Prerow hineinfahren, um das dortige Kino zu besuchen.
Vom Zentrum des Zeltplatzes setze ich meinen Weg am landseitigen Rand des riesigen Areals fort, und als ich zu guter Letzt doch noch dessen östliches Ende erreiche, habe ich nur noch etwas mehr als einen und einen halben Kilometer zu laufen, bis ich wieder in meiner Pension angelangt bin und meine Wanderung endet.
Zwar bin ich, der in der zurückliegenden Winterzeit nicht sonderlich viele größere Strecken am Stück zurückgelegt hat, nun doch ganz anständig geschafft, doch wirkt eine kleine Erholungsphase von ein, zwei Stunden wahre Wunder. Und so bin ich am frühen Abend bereits wieder fit genug, um auf der Suche nach einem Restaurant, das mir ein anständiges Abendbrot serviert, noch einen kleinen Bummel durch den Ort zu machen.
Am Gemeindeplatz mitten im Zentrum des Ortes entdecke ich in einer kleinen Grünanlage ein Denkmal, das an Einwohner des Ortes erinnert, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Eine kleine daran angebrachte Plakette verrät mir, daß es bereits am 16. Oktober 1921 durch den damals im Ort ansässigen Kriegerverein eingeweiht worden ist. Nun, von kriegerischen Traditionen hatte man wohl nach dem darauffolgenden Zweiten Weltkrieg erst einmal die Nase voll, so daß es diesen Verein dann vielleicht nicht mehr gegeben hat. Zur Stiftung eines weiteren Denkmals für die aus dieser Apokalypse nicht mehr heimgekehrten Einwohner scheint er jedenfalls nicht gekommen zu sein, denn ein solches gibt es in Prerow nicht.
Am nördlichen Ende des Gemeindeplatzes, auf dem sich Grünanlage und Denkmal befinden, finde ich die Touristeninformation des Ortes, die im alten Gemeindeamt untergebracht ist. Ich meine, mich zu erinnern, daß sich zu Zeiten unserer damaligen Urlaube hier die Kurverwaltung befand, die wir nach der Ankunft immer als erstes aufsuchen mußten, um dort unsere Kurtaxe zu entrichten. Dort erfuhren wir dann auch, in welchem der hiesigen FDGB-Heime wir uns täglich einfinden konnten, um unser Mittagessen einzunehmen. Denn auch für Urlauber, die privat ein Zimmer gemietet hatten, boten diese vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR betriebenen Heime mittägliche Urlaubsverpflegung zu moderaten Preisen an. Allerdings konnten wir dort nicht einfach erscheinen, wann wir dazu Lust hatten. Und schon gar nicht war vorgesehen, daß wir jeden Tag in einem anderen Heim zu Mittag aßen. Nein, für den Mittagstisch gab es klare Regeln. Wir meldeten uns in der Kurverwaltung an und bekamen dann vom Feriendienst eines der im Ort ansässigen Heime zugewiesen – oder wurden einem zugeteilt, je nachdem, wie man das sehen möchte. Und damit auch alles seinen geregelten Gang nähme, erhielten wir Essenmarken, die uns als im entsprechenden Ferienheim zum Essen Berechtigte auswiesen. Natürlich hätte wir uns dieser Prozedur nicht unbedingt unterziehen müssen. Es wäre auch möglich gewesen, sich selbst um den Erhalt eines Mittagessens zu kümmern, indem man beispielsweise ein Restaurant besuchte. Angesichts der großen Zahl an Urlaubern wäre das aber stets mit längeren Wartezeiten verbunden gewesen, die man am Eingang des jeweiligen Etablissements zu verbringen hatte, bis man plaziert wurde. Da war es keine Frage, was uns lieber war.
Ist es nicht interessant, welche Erinnerungen plötzlich aus den Tiefen des eigenen Geistes an die Oberfläche aufsteigen, an die man jahrzehntelang keinen einzigen Gedanken verschwendet hat, nur weil man sich nach all der Zeit wieder einmal an einem Ort befindet, an dem man einst gewesen? Bis zu diesem Augenblick habe ich nicht einmal geahnt, was ich aus der Zeit von damals alles noch weiß. Vielleicht sollte ich öfter solche Reisen in die eigenen Erinnerungen unternehmen…
Das Gebäude, das heute die Touristeninformation beherbergt, stammt bereits aus dem Jahr 1931 und ist, so erzählt mir ein ebensolches orangefarbenes Schild, wie ich es tags zuvor bereits an der Bäckerei Koch studiert hatte, im sogenannten Darß-Stil errichtet worden. Für diesen charakteristisch sind das schilfgedeckte Dach und die bunt bemalte Eingangstür. Nun, das kann ich bestätigen. In Prerow und überhaupt auf dem Darß findet man viele solcher Häuser. Dafür fehlen Bauten der sogenannten Bäderarchitektur, wie man sie beispielsweise in Binz, Sellin und den anderen Seebädern auf Rügen so häufig antrifft, hier völlig. Prerow und die anderen Orte auf dem Darß waren eben immer Siedlungen, in denen die einfachen Leute wohnten, die ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdienen mußten. Und als solche waren sie, auch wenn sie Urlauber stets anzogen, nie das Ziel der Reichen und Mondänen. Die einfachen Leute aber, die hier lebten, drückten ihren Stolz auf ihre Heimat und ihre Arbeit dadurch aus, daß sie begannen, ihre Türen mit geschnitzten Motiven zu verzieren und diese zu bemalen. Diese Sitte entwickelte sich mit der Zeit zu einem wahren Charakteristikum für den Darß, so daß die „Darßer Tür“ heute als Markenzeichen der Halbinsel gilt. Besonders oft sind in den Verzierungen Sonnen, Tulpensträuße und Blüten zu finden, was keineswegs Zufall ist. Es handelt sich dabei um alte Darßer Motive.
Ich habe schnell herausgefunden, daß Prerow kein Ort ist, in dem es an jeder Ecke ein anderes Restaurant gibt. Insbesondere der in dieser Hinsicht verwöhnte Großstädter dürfte möglicherweise die Abwechslung vielfältiger internationaler Küchen hier vermissen. Lasse ich jegliche Form von Imbißstand außer Acht, habe ich im Zentrum des Ortes – den Hauptweg zum Strand eingeschlossen – bisher nur zwei Arten fremdländische Küche anbietender Restaurants gefunden: spanisch und italienisch. Letztere scheint hier allerdings überaus beliebt zu sein, denn es gibt gleich drei davon. Desweiteren bin ich an einem Brauhaus mit eher rustikaler und sehr fleischlastiger Küche, einem Fischrestaurant, einem Café sowie drei Etablissements vorübergekommen, die eine gewisse Vielfalt auf ihrer Karte bevorzugen, die von Fisch über Steaks bis zu vegetarischen Gerichten reicht. Wer erwartet, noch mehr Restaurants zu finden, dürfte wohl enttäuscht sein. Nicht so ich. Mir genügt das Angebot vollkommen, und für meine Zeit hier ist auch für genug Abwechslung gesorgt. Außerdem möchte ich, wenn ich irgendwohin reise, auch lieber die dortige lokale Küche probieren als die internationale. Von letzterer habe ich in meiner Heimatstadt Berlin bereits ausreichend zur Verfügung. Eine gewisse Schwierigkeit stellt allerdings die Tatsache dar, daß die hiesigen gastronomischen Einrichtungen ihre Öffnungszeiten in hohem Maße an den von ihnen erwarteten Gästezahlen ausrichten, das heißt danach, ob gerade Urlaubssaison ist oder nicht. Und da wir gerade April haben, uns also noch in der Vorsaison befinden, öffnen einige Restaurants erst um 17 Uhr, während andere an gewissen Werktagen ganz geschlossen bleiben. Das mag hinsichtlich des erwarteten Umsatzes angemessen sein, stellt mich aber vor das Problem, das ich nicht in jedem Restaurant zeitnah einen Platz bekommen kann, wenn ich das gerade möchte. Wie es aussieht, befinden sich bereits genügend Urlauber im Ort, um das zur Verfügung stehende Angebot auszureizen. Letztlich gelingt es mir heute aber doch, genau wie am Vortag, ein Abendessen zu ergattern.
Danach ist es immer noch hell genug, um noch einmal den Weg hinunter zum Strand einzuschlagen. Ich wähle diesmal nicht den Hauptweg, sondern den, der den Prerower Strom über die östlich benachbarte Holzbrücke überquert. Als ich sie hinter mir gelassen habe und den sich anschließenden Dünenwald durchwandere, stoße ich hier auf einige Reste des sumpfigen Geländes, das ich tags zuvor am Hauptweg vermißt hatte. Die dem Horizont bereits entgegenstrebende Sonne sorgt hier für einige schön anzusehende Lichteffekte und im Wasser für interessante Spiegelungen.
Am Strand hat jemand nah am Wasser eine Sandburg gebaut. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Kleckerburg. Sie besteht aus einer Ansammlung von Türmen und Türmchen, die sich aneinanderreihen und ein Rechteck bilden, dessen Inneres mit weiteren Türmen angefüllt ist. An den Außenseiten hat der Wind bereits sein Zerstörungswerk begonnen, denn dort sind die Kleckerfassaden schon recht brüchig geworden, so daß ihr Zerfall bereits eingesetzt hat. Doch wird dieser sicher bald beschleunigt werden, wenn auch das Wasser der Ostsee seinen Weg zu der nah an seinem Rand errichteten Burg gefunden haben wird. Noch ist es nicht so weit, doch die Ausläufer der Wellen kommen näher und näher…
Ich erinnere mich noch gut, wieviel Arbeit mit der Errichtung einer solchen Burg verbunden war, denn als Kind habe ich damals an so gut wie jedem Tag eine gebaut, den wir am Strand verbrachten. Dafür braucht man eigentlich nur einen Baustoff: Sand. Weil man aber unter normalen Umständen damit nichts errichten kann, da er einem in trockenem Zustand nur so durch die Finger rieselt, muß noch etwas anderes her: Wasser. Um das zu bekommen, gibt es drei Möglichkeiten. Die erste besteht in der Errichtung der Burg direkt am Wasser. Das hat den Vorteil, daß man kurze Wege hat. Mir machte das allerdings stets wenig Freude, denn zum einen ist die Wassergrenze an einem Strand voller Urlauber immer überlaufen, weil es sich dort bequemer auf dem Sand gehen läßt, zum anderen besteht stets die Gefahr, daß eine mächtigere Welle ein großes Stück den Strand hinaufschwappt und die gerade in Bau befindliche Burg gleich wieder niederreißt. Da war es mir immer lieber, die Burg dort zu bauen, wo wir am Strand gerade lagerten, also nahe an unserem Strandkorb. Da wir auch meist einen Windschutz um unseren Lagerplatz errichteten, hatte das an windigeren Tagen auch den Vorteil, daß die Burg nicht gleich wieder niedergeweht werden konnte. Möglichkeit zwei besteht also darin, weiter oben, gegebenenfalls sogar nah an der Düne mit dem Burgenbau zu beginnen und sich das dafür nötige Wasser mittels Eimern vom Meer zu holen. Weil man jedoch eine ganze Menge Wasser benötigt, bedeutet das ganz schön viel Lauferei. So griff ich stets zu Möglichkeit drei. Die besteht darin, an Ort und Stelle zunächst ein Loch zu graben, und zwar so tief, bis das Grundwasser erreicht ist. Dann hat man Wasser, soviel man benötigt. Je näher an der Düne wir uns befanden, um so tiefer mußte ich graben.
Hatte ich nun also Sand und Wasser, konnte es losgehen. Zunächst galt es, einen halbwegs glatten Untergrund zu bekommen. Also mußte erst einmal jede Menge lockerer Sand – ich nannte ihn immer Zuckersand, weil er im Sonnenlicht so schön glitzerte, wie es Zuckerkörner auch tun – beiseitegeschafft werden. War das getan, begann die Errichtung der Burgwälle und Mauern. Standen diese schließlich, konnte es an den Bau der Türme gehen. Diese wurden, wie es sich für eine Kleckerburg gehört, mittels Kleckertechnik Stück für Stück aufgeschichtet. Dazu mußte ich tief in mein gegrabenes Loch greifen, um aus der Grundwasserschicht mit Wasser durchtränkten Sand heraufzuholen, denn nur dieser ließ sich aus der geschlossenen Faust heraustropfen – also kleckern. Das war an der breiten Basis des Turms immer noch relativ leicht, weil man einfach so draufloskleckern konnte. Doch je höher er wurde, desto schmaler mußte er werden, bis er schließlich in einer schönen Spitze auslief. Das erforderte, da meine Ansprüche an die Ästhetik der Burggestaltung ausgesprochen hoch waren, viel Geschick und Geduld, besonders, wenn es zum Schluß um die Spitze ging, die ihrem Namen natürlich Ehre machen und möglich spitz zulaufen sollte. Aber ich hatte ja Zeit.
Doch was ist eine Burg, die nur aus Burgwällen und Türmen besteht? Da fehlte doch was. Also mußte ein Burgtor her, vor dem sich eine Zugbrücke befand. Und damit die auch über etwas hinüberführen konnte, brauchte die Burg natürlich einen Wassergraben. Um den zu füllen, war viel mehr Wasser nötig, als das gegrabene Loch hergab, so daß ich nun doch mehrmals hinunter zum Meer laufen mußte. Aber was tat ich nicht alles für eine schöne Sandburg. Natürlich ließ sich die Ziehbrücke nicht wirklich hochziehen. Um sie aber möglichst gut aussehen und stabil werden zu lassen, brauchte ich nun noch einen dritten Baustoff: Holz. In Form von Stöcken – oder Stöckern, wie der Berliner sagt. Die konnte ich im nahen Dünenwald sammeln. Aber auch am Strand lag meist genug herum. Ich war schließlich nicht das einzige Kind, das anspruchsvolle Sandburgen baute. Im Inneren der Burg errichtete ich meist weitere Mauern, damit es mehrere Höfe gab. Die konnte ich dann wieder mit Durchfahrten in den Mauern verbinden. Kleine Gebäude in den Höfen zu plazieren, war dann schon wieder eine vergleichsweise leichte Übung.
Und wenn ich mal keine Lust hatte, wieder eine Sandburg zu bauen, dann baute ich Straßenlandschaften. Mit Kreuzungen, Brücken, Bergen und Tunneln. Es gab immer was zu tun.
Hatte man zwecks Wasserbeschaffung ein Loch gegraben, mußte man natürlich dafür sorgen, daß dieses später nicht zur Falle für ahnungslose Strandwanderer wurde. Wenn wir also abends unser Lager am Strand auflösten, bestand meine Aufgabe darin, daß am Tag gegrabene Loch wieder mit Sand aufzufüllen. So konnte nichts passieren. Leider wurde mir mein Wasserloch aber einmal selbst zum Verhängnis. Wieder einmal hatte ich eines gegraben und eine prächtige Sandburg gebaut. Mittlerweile war ich dafür schon ganz prächtig ausgestattet und hatte einen kleinen Kinderspaten dabei, der über ein Metallblatt verfügte, mit dem sich in Windeseile ein Wasserloch graben ließ. Als wir des Mittags unser Strandlager für eine Weile verließen, um zum Mittagessen in das uns zugewiesene FDGB-Heim zu gehen, stellte ich, besorgt um meinen Spaten, diesen in das Loch und legte unsere aufgepumpte Luftmatratze darüber. So konnte niemand das Loch und den Spaten darin sehen, geschweige denn entwenden. Eine Gefahr für andere stellte das nicht dar, denn da wir unser Strandlager für den Gang zum Mittagessen nicht extra auflösten, blieb es mittels der Windschutze abgesteckt und niemand konnte hindurchlaufen. Als wir, nach der Nahrungsaufnahme gestärkt, wieder zurückkehrten, hatte ich allerdings das Loch und den Spaten darin völlig vergessen. Da ich etwas lesen wollte, hob ich die Luftmatratze auf, um sie in den Schatten des Windschutzes zu legen. Dabei trat ich unversehens in das darunter zum Vorschein kommende Loch und versank bis zum Knie darin. Ach was, kein Problem. Zog ich den Fuß halt wieder heraus. Da ich nichts spürte, ahnte ich auch nichts Böses und ging weiter, legte die Luftmatratze ab, drehte mich um… und gewahrte plötzlich rote Flecken im Sand! Gerade wollte ich mich fragen, wo die wohl auf einmal herkamen, da spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz am Ballen meines linken Fußes. Weil der eine Weile hatte auf sich warten lassen, war mir völlig entgangen, daß ich beim Tritt in das Loch mit dem Ballen auf das Blatt meines kleinen Spatens geraten war und mir ein Stück Haut aus diesem herausschnitten hatte. Jedoch nicht ganz, denn es war noch dran. Aber der Schnitt war immerhin tief genug, um nun unausgesetzt zu bluten. Ach herrje…
Das Nächste, das ich noch weiß, ist, daß ich im Turm der Rettungsschwimmer am Dünenübergang war. Wie ich dort hingekommen war, hat sich in meiner Erinnerung nicht erhalten. Nun saß ich auf einer Liege – oder war es ein Stuhl? – und sah zu, wie einer der Sanitäter die Wunde an meinem Fuß säuberte und anschließend mit einer Spraydose etwas darauf sprühte. Dieses Etwas erwies sich, als es getrocknet war, als eine Art Pflaster, das nun die Blutung zum Stillstand brachte. Ich war beeindruckt. Flüssiges Pflaster. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Für einen Moment vergaß ich sogar, daß mir der Fuß immer noch wehtat.
Doch was nun? Laufen ging einigermaßen, wenn ich nicht gerade direkt mit dem Fußballen auftrat. Doch an Spielen im Sand oder Badengehen, so schien es, war nun für den Rest des Urlaubs nicht mehr zu denken. Doch auch dafür gab es eine Lösung. Meine Mutter stülpte einfach eine große Plastiktüte über meinen verbundenen Fuß, den sie mit einem Bindfaden festband, und so konnte ich, wenn ich aufpaßte, nicht zu tief hineinzugehen, immerhin im Wasser der Ostsee herumpatschen, wenn auch nicht untertauchen. So wurde es, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, doch noch ein schöner Urlaub.
Diese Kindheitserlebnisse kommen mir eines nach dem anderen in den Sinn, als ich hier am Meeresufer stehe und auf die Kleckerburg hinabblicke, die jemand – möglicherweise ein Kind – an diesem Tag mit Hingabe hier errichtet hat. Morgen wird sie wohl schon wieder im Sand des Strandes versunken sein. Doch heute bringt sie mir einige Erinnerungen an meine Kindheit zurück, und dafür bin ich den kleinen oder vielleicht auch großen Baumeistern dankbar.
Die Sonne ist dem Horizont in der Zwischenzeit wieder ein Stück nähergekommen, und so beschließe ich, den Rückweg anzutreten. Über die Düne, durch den Dünenwald und über den Prerower Strom, an dem ich noch ein wenig verweile, um einen Schwan zu beobachten, der allein auf der ruhigen Wasseroberfläche umherschwimmt, spaziere ich langsam wieder zurück zu meiner Pension. Ein Tag voller schöner Naturerlebnisse und Erinnerungen geht zu Ende…
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Ich bin zwar kein Experte, doch von einer Eidechse scheint mir das Tier weit entfernt zu sein. Nach einigen Vergleichen mit einschlägigen Bildern habe ich mich schließlich entschieden, die Schlange für eine schwarze Kreuzotter zu halten. Wer mich sachkundig eines Besseren belehren kann und möchte, kann mich gerne kontaktieren.
Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit Find‘ ich viele vergilbt in all‘ den Jahr’n. Und and’re von fast unwirklicher Klarheit, Von Augenblicken, die mir wichtig war’n![1]Reinhard Mey: Beim Blättern in den Bildern meiner Kindheit, Album „Jahreszeiten“, 1980, Intercord, INT 160.139
Es ist noch gar nicht so lange her, da saßen wir wieder einmal im trauten Kreise der Familie beisammen und sprachen über dies und das und jenes. Und wie es manchmal so kommt, führte uns der Faden des Gesprächs geradewegs auf den Pfad der Erinnerung und wir schwelgten ein wenig in eben dieser. Wir gelangten dabei zurück in die 1980er Jahre, in denen wir einige schöne Urlaube an der Ostsee verbracht hatten, wie es damals sicher viele Familien in der DDR taten. Unser Ziel war stets der Darß gewesen, wo wir in dem einst kleinen Fischerdorf Prerow, das sich längst zu einem beliebten Urlaubsort gemausert hatte, für alljährlich vierzehn Sommertage Quartier nehmen konnten. Nun muß man wissen, daß es zu Zeiten der DDR nicht unbedingt einfach war, an der Ostsee, die ein überaus begehrtes Urlaubsziel war, ein solches Quartier zu finden. Man konnte entweder das Glück haben, einen vom FDGB[2]Das Kürzel stand für Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Das war der Dachverband der Gewerkschaften in der DDR. vergebenen Urlaubsplatz zu ergattern, was jedoch nicht jedes Jahr der Fall war. Oder man gehörte zu den glücklichen Leuten, denen es gelungen war, durch Kontakte – meist über mehrere Ecken – an ein privat vermietetes Zimmer zu kommen. Wer es aber einmal geschafft hatte, in diesen Kreis einzutreten, der verließ ihn nach Möglichkeit nicht wieder und sicherte sich bei der Abreise im einen Jahr das Zimmer gleich für das nächste. Nun, meinen Eltern war der Zugang zu diesem Kreis irgendwie geglückt, und so fuhren wir in jener Zeit alljährlich nach Prerow, mieteten uns für die bereits erwähnten vierzehn Sommertage bei der Familie Koch in der Bergstraße 10 ein und genossen wunderschöne Tage auf dem Darß und am Meer, die mit zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen gehören. Die Kochs vermieteten allerdings nicht nur Zimmer – das taten sie eigentlich nur nebenbei -, sondern betrieben eine kleine Bäckerei, die ich als Kind ungeheuer faszinierend fand. All die leckeren Düfte und die noch viel leckereren Kuchen, die großen Öfen, die großen Bottiche mit Teig… Ich gehörte hier zum Kreise der Eingeweihten, die wußten, wie es hinter den Kulissen eines Bäckereiladens zuging.
Während wir da nun also saßen und uns erinnerten, fragten wir uns plötzlich, ob es die Bäckerei wohl heute noch gäbe. Irgendwann in den Zeiten der Wende war unser Kontakt dorthin bedauerlicherweise abgerissen. Man hatte in jenen Jahren voller Wirren und Umbrüche einfach andere und viel dringendere Sorgen als Urlaube. Meine Eltern verloren ihre Jobs und mußten sich um neue bemühen, was nicht einfach war angesichts der über Nacht gänzlich veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, aber glücklicherweise schließlich gelang. Zur selben Zeit endete meine Schulzeit und ich kämpfte mit der Planung meiner Zukunft, für die ich ein Studium vorgesehen hatte, von dem ich nun zunächst gar nicht wußte, ob und wie das unter den neuen Bedingungen möglich sein würde. Erfreulicherweise regelte sich schließlich alles zum besten, wenn auch in völlig anderer Weise als ursprünglich gedacht – aus einem Mathematik- wurde unversehens ein Informatikstudium -, doch das brachte neue Aufregungen mit sich, denn mit dem Eintritt in die Humboldt-Universität stand ich vor gänzlich anderen Herausforderungen, als sie die Schule mir bisher abverlangt hatte. Angesichts all dessen konnten alljährliche Ostseeurlaube nicht mehr auf der Tagesordnung stehen und wir sahen Prerow, in dem wir alljährlich so gerne gewesen waren, letztlich nie wieder.
Nun, die Frage, ob es die Bäckerei noch gab oder nicht, konnten wir in unserem Gespräch im Familienkreise letztlich nicht beantworten. Doch nun, da die Erinnerungen einmal geweckt waren, ließen sie mich nicht mehr los. Und so setzte ich mich eines Abends kurzentschlossen an den Computer und begann, ein wenig zu recherchieren. Es dauerte nicht lange, da führte mich meine Suche in den Weiten des Internets zu einer Zeitschrift, die sich „Der Darßer“ nennt. Es ist wohl angesichts dieses Namens für niemanden eine wirkliche Überraschung zu erfahren, daß sie sich der Region der Halbinsel namens Darß widmet. Und so kommen natürlich auch immer wieder Beiträge aus und über Prerow darin vor. Und wie ich nun so stöberte, fand ich in der Nummer 30 vom Dezember 2020 einen Beitrag über eben jene Bäckerei Koch, nach der ich gerade suchte. Ich erfuhr, daß sie zwei Monate zuvor nach stolzen 43 Jahren[3]Tatsächlich ist die Bäckerei allerdings älter. Der Zeitraum bezieht sich auf ihren letzten Inhaber. ihre Pforten für immer geschlossen hatte. Dies zu lesen, stimmte mich auf einmal etwas wehmütig, kam es mir doch so vor, als sei etwas, an das ich mich aus meiner Kindheit erinnerte, nun für immer verloren. Nun ja, das Leben ist, wie es ist. Und das ist der normale Lauf der Zeit.
Und doch mußte ich in den folgenden Monaten immer wieder einmal daran denken und ich blätterte in Gedanken in den Kindheitsbildern jener Urlaube am Meer in der Mitte der 1980er Jahre…
Und ganz langsam keimte sie auf in mir, die Idee, jenen Ort, der mit diesen Erinnerungen so eng verbunden war, nach all den Jahren doch wieder einmal aufzusuchen. Sie wuchs und wuchs, und schließlich, in diesem April des Jahres 2023 ist sie groß genug, daß ich sie nicht länger unbeachtet lassen kann. Und so mache ich mich schließlich auf den Weg auf den Darß, nach Prerow am Ufer der Ostsee.
Wenn jemand wie ich, der weder Auto noch Fahrerlaubnis sein eigen nennt, auf den Darß fahren will, so ist das nicht ganz einfach, wenn diese Fahrt außerhalb der Saison stattfindet. Zwar gibt es von Berlin aus eine Direktverbindung mit dem Flixbus, doch wird diese nur während der Saison bedient. Da aber der April im besten Falle nur als Vorsaison zählt, ist die Direktverbindung nicht zu haben und mir bleibt nur die Eisenbahn als Alternative. Mit dieser kommt man allerdings nicht bis auf den Darß, es sei denn, man schaffte es irgendwie, in der Zeit zurückzureisen. Eine Eisenbahnlinie, die bis Prerow führte und als Darßbahn bezeichnet wurde, hatte es nämlich durchaus einmal gegeben, allerdings nur bis etwa 1945, als man ihren Schienenstrang abtrug, um ihn als Teil der Reparationsleistungen für die mit dem Zweiten Weltkrieg verursachten Schäden in die Sowjetunion zu verfrachten. So hat man heute nur die Möglichkeit, bis Ribnitz-Damgarten oder Barth zu fahren, von wo es in beiden Fällen das letzte Stück Wegs mit dem Bus zurückzulegen gilt. Das steht nun auch mir bevor.
Natürlich hat sich Die Bahn wieder einige Überraschungen für ihre Fahrgäste überlegt, um ihnen die Reise möglichst unan… Verzeihung, ich meine selbstverständlich: angenehm wie möglich zu machen. Die schnellere Verbindung über Rostock fällt schon einmal aus, da über das Osterwochenende auf der Strecke zwischen Rostock und Ribnitz-Damgarten gebaut werden soll und daher nur ein Schienenersatzverkehr angeboten wird. Daß dieser am Ostersonntag tatsächlich unterwegs ist, kann ich während meiner Anreise höchstselbst feststellen, obwohl ich ihn nicht benutzen muß. Daß aber ausgerechnet am Ostersonntag wirklich irgendwer an der Strecke mit Bauarbeiten beschäftigt sein soll, das glaube ich keine Sekunde[4]Vehemente Verteidiger der Bahn mögen nun einwenden, daß die Bauarbeiten ja sicher länger als ein Wochenende gedauert haben und am Osterwochenende somit nur eine Pause eingelegt worden ist. Das ist … [Weiterlesen]. Wie dem auch sei – ich habe jedenfalls die Strecke über Stralsund zu nehmen, die allerdings ausschließlich mit Regionalzügen befahren wird, was die Fahrt zwar billiger, aber auch langsamer macht. Fünfeinhalb Stunden würde ich von Berlin nach Prerow brauchen. Sagt jedenfalls der Fahrplan. Doch der kann ja nicht wissen, daß der Zug hinter Züssow, kaum daß er dort losgefahren, plötzlich wieder halten würde, um dann eine ganze lange Weile untätig auf freier Strecke herumzustehen. Schon wundere ich mich, warum das permanente, einem Rauschen nicht unähnliche Hintergrundgeräusch, das so ein Regionalexpreß unablässig verbreitet, plötzlich erstorben ist. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, habe ich es überhaupt erst bemerkt, als es mir nun so unvermittelt nicht mehr ständig in den Ohren liegt. Doch daß es nun nicht mehr vorhanden ist, kann mir eigentlich schon ein Hinweis auf die Ursache des außerplanmäßigen Haltes sein, doch ich denke zunächst nicht darüber nach. Und als ich gerade damit beginnen will, erbarmt sich der Zugführer – oder ist es der Zugbegleiter? – seiner Fahrgäste und erklärt in einer Durchsage, daß der Zug – man halte sich fest – einen Energieausfall habe. Und das wäre, so seine professionelle Meinung, „gar nicht gut“. Ob daran die Bahn selbst die Schuld trägt oder dies bereits eine Folge der derzeitigen glorreichen Energiepolitik unserer Regierung ist, dazu äußert er sich nicht. Auch ich werde hier darauf verzichten und mir meinen Teil dazu nur denken. Immerhin hat seine Durchsage zur Folge, daß die Geister der Elektrizität offenbar beschließen, sie umgehend Lügen zu strafen, denn es dauert nur einige weitere Minuten und unser Zug setzt sich wieder in Bewegung. Halleluja!
Für mich hat dieser ungeplante Halt allerdings zur Folge, daß ich mit meinem Zug deutlich später als geplant in Stralsund eintreffe und so meinen Anschlußzug um ganze sieben Minuten verpasse. Ich darf mich allerdings damit trösten, als Ersatz dafür nun weitere zwei Stunden auf diesem schönen Bahnhof zu verbringen, denn so lange dauert es, bis der nächste Zug in Richtung Ribnitz-Damgarten fährt. Für Fahrgäste, die nach Rostock wollen, hat man besagten Schienenersatzverkehr eingerichtet, den man sogar von Stralsund fahren, aber – aufgrund welcher hochintelligenten Überlegung auch immer – nicht in Ribnitz-Damgarten halten läßt, so daß mir diese Möglichkeit des Weiterkommens nicht offensteht. Notgedrungen sitze ich also meine Zeit am Bahnhof ab und steige dann in den Zug in Richtung Ribnitz-Damgarten, den ich jedoch in Velgast bereits wieder verlasse, um in einen weiteren Zug nach Barth umzusteigen. Trotz es zusätzlichen und ursprünglich nicht vorgesehenen Umstiegs, so hatte es mir der Fahrplan verraten, ist das die schnellere Verbindung nach Prerow, da die Meister der Verkehrsplanung die Abfahrtszeit des Busses in Ribnitz-Damgarten auf fünf oder zehn Minuten VOR die dortige Ankunft des Zuges terminiert haben, was mir wenigstens weitere sechzig Minuten Wartezeit, wenn nicht mehr, eingebracht hätte. In Barth würde ich zwar auch warten müssen, aber wenigstens nur eine halbe Stunde.
Zu guter Letzt lange ich dann nach siebeneinhalb Stunden und damit zwei Stunden später als geplant in Prerow an. Glücklich, endlich am Ziel zu sein, suche ich als erstes mein Quartier auf. Für die sechs Tage und sieben Nächte habe ich mich in der Pension Linde einquartiert. Dort angekommen, werde ich nach meinem Klingeln von einem freundlichen Mann mittleren Alters empfangen, der mich sogleich mit den Worten begrüßt:
„Herzlich willkommen! Komm rein! Ich bin der Sven!“
Ein wenig verdattert über diese ungezwungene, direkte Art der Begrüßung bringe ich nur ein
„Ja, äh, guten Tag. … Glintschert mein Name. … Der Vorname ist Alexander.“
heraus. Sofort verspüre ich ob dieses zusammenhanglosen Gestammels das dringende Bedürfnis, hier an Ort und Stelle im Boden zu versinken. Er ignoriert das jedoch, grinst mich freundlich an und meint nur:
„Das hab‘ ich mir schon gedacht!“
Offenbar bin ich der einzige Gast, der heute noch erwartet wird. Er heißt mich meinen Koffer im Flur stehen lassen und bittet mich in sein Büro, wo er mir den Zimmerschlüssel übergibt und mir die Frühstückszeiten erklärt, woraufhin er mich zu meinem Zimmer führt. Dort angekommen, wünscht er mir einen schönen und angenehmen Aufenthalt und bittet mich, jederzeit auf ihn zuzukommen, wenn ich einen Wunsch hätte oder etwas benötigte. Dann empfiehlt er sich und überläßt mich meiner selbst.
Da bin ich nun also glücklich angekommen. Schnell packe ich meine Sachen aus und richte mich in dem gemütlichen Zimmer, das ausgesprochen ordentlich und sauber gehalten und überdies recht geräumig ist, ein. Schließlich habe ich noch etwas vor.
Immer, wenn ich irgendwohin an’s Meer fahre, statte ich diesem noch am Abend meiner Ankunft einen ersten Besuch ab, sozusagen als eine Art Begrüßung. An dieses kleine Ritual erinnere ich mich noch aus meiner Kindheit. Immer wenn wir hier in Prerow angekommen waren, gingen wir noch am selben Nachmittag oder Abend hinunter an den Strand und begrüßten die Ostsee. So will ich es also auch diesmal halten. Kaum daß ich also fertig bin mit Auspacken und Einrichten, schnappe ich mir meinen Fotoapparat und mache mich auf den Weg zu einem abendlichen Spaziergang.
War der Himmel am Morgen in Berlin noch von dicken, grauen Wolken verhangen gewesen, so hatte es auf meiner Fahrt hierher, je weiter ich nach Norden kam, mehr und mehr aufgeklart. Nun, hier in Prerow, wölbt sich über mir ein strahlend blauer Himmel und die Sonne, die sich langsam auf ihren Weg in Richtung des westlichen Horizonts macht, scheint mir ins Gesicht. Was für eine schöne Begrüßung…
Von meiner Pension, die sich direkt im Zentrum Prerows befindet, spaziere ich langsamen Schrittes zum Hauptweg, der zum Strand hinunterführt, und biege in diesen ein. Ich erkenne ihn sofort wieder. Gesäumt von hohen Bäumen, die eine Allee bilden, führt er geradewegs auf einen Deich zu. Während auf der rechten Seite einige Häuser stehen, liegt am linken Rand des sauber gepflasterten Weges eine Wiese. Dort steht ein altes Postauto, von dem man das rote DHL-Logo säuberlich entfernt hat. Der Besitzer dieses Fahrzeugs ist offenbar ein Buchhändler, denn er hat auf mehreren davor aufgestellten Tischen jede Menge Kisten plaziert, in denen sich Unmengen von Büchern befinden, die er zum Verkauf anbietet. Obwohl ich ausgesprochen gerne lese, steht mir in diesem Augenblick allerdings nicht der Sinn danach, ausgiebig darin zu stöbern. Bücher gibt es auch in Berlin. Und schließlich will ich an’s Meer!
Während ich langsam weitergehe, zieht plötzlich eine Erinnerung durch meinen Kopf und ich sehe mich wieder als Kind eben diesen Hauptweg entlanggehen, begeistert darüber, was ich hier gerade entdeckt habe. Genau auf dieser Wiese, wo der Buchhändler mit seinem alten Postauto seine Bücherkisten aufgestellt hat, hatten damals Pferde gestanden, die bei den Kindern wahre Begeisterungsstürme auslösten. Ponyreiten hat eben zu jeder Zeit bei den kleinen und größeren Pferdenarren hoch im Kurs gestanden.
Darüber sinnierend, wandere ich den Weg weiter und erinnere mich daran, daß er damals gar nicht so einen ebenmäßig gepflasterten Belag besessen hatte. Zwei breite Fahrspuren aus Beton, dazwischen und daneben jede Menge festgetretener Sand – das war’s. Wenn es heftig geregnet hatte, tat man wohl daran, gut darauf zu achten, die Betonstreifen nicht zu verlassen, wollte man seine Schuhe nicht über und über mit matschigem Dreck bedecken.
Nun, diese Gefahr besteht mit der sorgfältigen Pflasterung heute nicht mehr. Auf ihr wandere ich nun den Deich hinauf und auf dessen anderer Seite wieder hinab, wo der Weg einen kleinen Schwenk nach rechts macht und zu einem Damm führt, auf dem er den Prerower Strom überquert. Zwischen Strom und Deich liegt auf der rechten Seite ein kleiner Platz, auf dem meine Erinnerung ein Kettenkarussell plaziert, das heute jedoch nicht mehr da ist. Stattdessen stehen dort zwei Zelte, ein Bierwagen und eine Holzhütte, die sich etwas hochtrabend als „Stromblick“ bezeichnet und einen Thai-Imbiß beherbergt, der jedoch gerade geschlossen hat und auch die ganzen nächsten Tage nicht öffnen wird. Vom tags zuvor hier veranstalteten Osterfeuer liegen noch die verkohlten Reste herum.
Auf der gegenüberliegenden Wegseite stehen hohe Bäume, vorwiegend Kiefern, zwischen die ein Waldweg hineinführt, der sich nach wenigen Metern in zwei aufteilt. Ein Schild weist mich darauf hin, daß sich hier der Kurpark Prerows befindet. Okay. Das ist neu. Also für mich. Einen Kurpark gab es damals noch nicht. Aber Seebad ist Prerow ja auch erst seit 1997.
Auf dem Dammweg überquere ich den Prerower Strom und durchquere den dahinter gelegenen Dünenwald. Ganz sicher bin ich nicht, aber es kommt mir so vor, als habe man diesen mächtig ausgedünnt. In meiner Erinnerung ist das Unterholz zu beiden Seiten des breiten Weges, auf dem ich unterwegs bin, bedeutend dichter und erinnert streckenweise an ein Dickicht, das mich als Kind stets neugierig gemacht hat, was sich wohl darin verbergen mag. Auch habe ich, besonders in Stromnähe, ein sumpfiges Waldgelände vor Augen, in das man sich besser nicht hineinwagt, will man nicht unversehens im Boden versinken. Demgegenüber blicke ich heute in einen vergleichsweise lichten Wald mit wenig Unterholz. Und sumpfiges Gelände kann ich so gut wie überhaupt nicht mehr entdecken.
Nach wenigen Metern beginnen die Buden. Nun, das ist vielleicht ein bißchen ungerecht, denn die Hütten, die nun zu beiden Seiten des Hauptweges stehen, sind eigentlich recht ansehnlich, wie sie da so stehen mit ihren hübschen Schilfdächern. In jeder von ihnen ist ein anderer Laden untergebracht. Von Restaurants über Imbisse bis hin zu zahlreichen Souvenir- und Kunstläden ist hier alles zu finden, was Ostsee-Touristen interessieren könnte. Wobei die kulinarischen Angebote eindeutig in der Überzahl sind.
Ich passiere die Ladenstraße vor der Düne und frage mich, ob es damals eigentlich auch schon so viele Verkaufsstände waren wie heute. Ich neige dazu, die Frage zu verneinen, bin mir aber nicht sicher. Zumindest auf der rechten Seite des Weges, so scheint mir jedoch, sind seit damals einige Hütten hinzugekommen. Ich weiß noch genau, wie damals an ihrer Stelle fliegende Händler mit ihren Klapptischen am Wegesrand standen und allerlei Klimbim anboten. Bei den Kindern und Jugendlichen ganz besonders hoch im Kurs standen die Ansteckbuttons mit den Konterfeis der angehimmelten Stars der Rock- und Pop-Musik, vornehmlich aus dem Bereich der westlichen Hemisphäre. Daß es für derartige Angebote fliegender Händler bedurfte, war klar, denn offiziell wurden Fanartikel von Künstlern aus dem Westen in der DDR selbstverständlich nicht verkauft. Auch an mir ging das Verlangen, wenigstens ein paar dieser Ansteckbuttons mit meinen Lieblingen mein eigen nennen zu können, natürlich nicht spurlos vorüber. Und so sehe ich sie heute noch vor mir, die von mir erstandenen Buttons: einer zeigte die Band a-ha, der andere das Duo Modern Talking. Dabei bedurfte es in meiner Schulklasse schon durchaus einer gewissen Courage, Modern Talking am Revers zu tragen. Denn die Modern-Talking-Fraktion war in der absoluten Minderheit und stand einer ungleich größeren Depeche-Mode-Fangruppe gegenüber, von der sie regelmäßig ausgelacht wurde. Immerhin gab es über die Akzeptanz von a-ha keine Diskussion. Ach, hatten wir damals Probleme…
Schließlich steigt der Weg etwas an und führt über die große, dem Strand nachgelagerte Sanddüne. Langsam gehe ich zur Anhöhe hinauf und erreiche auf deren anderer Seite schließlich die Seebrücke von Prerow. Oder ich täte es, wäre sie noch da. Tatsächlich sind jedoch lediglich ein paar kreisrunde Pfeiler zu sehen, die aus dem Sand ragen. Und weil sie bereits auf der zum Strand abfallenden Seite der Düne beginnen, erscheinen die ersten von ihnen nur sehr kurz, während jeder weitere ein Stück mehr aus dem Sand herausragt. Tatsächlich sind sie jedoch alle gleich hoch. Die alte Seebrücke, die es hier seit 1993 gab, hat man bereits vollständig abgerissen. Die Reihe der Pfeiler setzt sich zum Meer hin und in diesem fort, bis sie schließlich schon ein paar Meter hinter dem Ufer aufhört. Ganz offensichtlich ist man mit dem Setzen dieser die neue Seebrücke später tragen sollenden Stützen noch längst nicht fertig, denn etwas so kurzes würde man wohl kaum als Seebrücke bezeichnen.
Ein wenig geahnt hatte ich schon, daß ich hier am Strand von Prerow wohl keine Seebrücke zu sehen bekommen würde, als ich noch auf dem Dammweg über den Prerower Strom unterwegs gewesen war. Denn bereits von dort aus hatte ich den hoch aufragenden Kran deutlich sehen können, den ich nun aus nächster Nähe bewundern kann. Er steht allerdings ziemlich untätig in der Gegend herum, denn heute, am Ostersonntag, ist hier natürlich niemand mit irgendwelchen Bauarbeiten beschäftigt.
Der Weg zum Strand wird von der großen Baustelle weitestgehend versperrt. Lediglich auf seiner rechten Seite hat man einen schmalen Durchgang gelassen. Bevor ich diesen jedoch hinabsteige, gehe ich noch weiter rechts auf die Aussichtsplattform, die man dort eingerichtet hat, damit man von hier oben auf den Strand und die Baustelle hinabschauen kann. Weiter draußen im Meer, ein ganzes Stück hinter der Pfeilerreihe, kann ich einen steinernen Wall entdecken, auf dessen Zweck ich mir jedoch keinen Reim machen kann. Und in einem weiteren Abstand zu diesem ist ein zweiter solcher Wall zu sehen, dessen Sinn mir ebenso unklar ist. Immerhin meine ich, dort einen Bagger ausmachen zu können, was bedeutet, daß diese beiden Wälle ebenfalls gerade in Bau sind. Ob sie wohl zu der neuen Seebrücke gehören werden? Ich weiß es nicht. Vielleicht finde ich es irgendwann später noch heraus.
Ganz hinten am Horizont ist eine unregelmäßige Reihe von Windrädern zu sehen. Einundzwanzig Stück zähle ich. Sie bilden den vor der Küste des Darß positionierten sogenannten Offshore-Windpark namens Baltic 1. Hier nimmt man es mit der Energiewende offenbar sehr genau. Ob sie wohl gelingen wird? Wenn ich in Betracht ziehe, daß eine ganze Reihe dieser einundzwanzig Windräder gerade in Untätigkeit verharrt, obwohl doch ein recht lebhafter Wind um meine Nase weht, dann kommen mir daran gewisse Zweifel. Denn immerhin reicht der ja aus, um einen Kitesurfer mit seinem Drachen über die Wellen reiten und dabei ein beachtliches Tempo erreichen zu lassen. Und trotzdem steht eine ganze Menge dieser Windräder gerade ziemlich still…
Ich stapfe durch den Sand zum Strand hinunter und begebe mich geradewegs zur an diesen anbrandenden Ostsee, um ihr nun wirklich Guten Tag zu sagen, ganz wie es mein Ritual verlangt. Als das erledigt ist, entschließe ich mich, den Strand ein kleines Stück nach Westen entlangzuwandern, bis ich den nächsten Dünenübergang erreiche. Selbstverständlich ist es aus Gründen des Umwelt- und Küstenschutzes nicht gestattet, einfach so irgendwo über die Düne zu stapfen.
Weil das Laufen im tiefen Sand auf die Dauer doch etwas beschwerlich ist, gehe ich nahe am Wasser entlang, wo er dank der beständigen Feuchtigkeit fester und damit einfacher zu gehen ist. Allerdings muß ich dafür beständig darauf achten, daß die Wellen mich nicht erwischen und meine Schuhe überspülen, was mir ziemlich nasse Füße einbringen würde.
Als ich den nächsten Übergang erreicht habe, wende ich mich wieder landeinwärts und spaziere durch den Dünenwald zurück zum Strom. Kaum habe ich die Düne überquert, besteht der Boden des Weges plötzlich aus gelben, orangenen und roten Ziegeln. Sehe ich einmal davon ab, daß die Ziegel nicht nur gelb sind, könnte ich fast meinen, ich habe den Backsteinweg erreicht, der mich in die Smaragdenstadt führt. Ach, was habe ich als Kind die Bücher von Alexander Wolkow geliebt. Regelrecht verschlungen hab ich sie. Kaum hatte ich eines ausgelesen, rannte ich in die in unserer Straße beheimatete Kinderbibliothek und holte mir das nächste. Daß der erste Band, der den Titel „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ trug und von dem Mädchen Elli erzählte, das ins Zauberland verschlagen wird und gemeinsam mit ihrem Hündchen Totoschka, dem (erst später weise werdenden) Scheuch, dem eisernen Holzfäller und dem feigen Löwen Abenteuer erlebt, eine freie Nacherzählung von Lyman Frank Baums Buch „Der Zauberer von Oz“ ist, wußte ich damals noch nicht. Es tut der Qualität des Buches und meiner Liebe zu ihm aber auch keinen Abbruch.
Nun, der gelbe Backsteinweg ist es nicht, sondern lediglich ein Weg durch den aus Kiefern bestehenden Dünenwald. Auch diesen darf man, genau wie die Dünen, nur auf den gekennzeichneten Wegen betreten – aus den gleichen Gründen. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte man in Prerow fast im gesamten Ort die Bürgersteige mit Klinkersteinen wie diesen hier gepflastert, damit sie auch nach starkem Regen noch passierbar waren. Dabei hatte man die Wege im Dünenwald nicht ausgespart. Heute sind es eben diese Waldwege, auf denen die originalen Steine noch erhalten geblieben sind. Ich wandle also nun auf mehr als einhundert Jahre alten Ziegeln.
Zurück am Strom, überquere ich diesen über eine Brücke, die, soweit ich mich erinnere, damals noch eine reine Holzbrücke war. Aus Holz besteht sie auch heute noch, doch sieht sie recht neu aus und die Geländer zu beiden Seiten sind mit Netzen verhängt, deren engmaschige Fäden sich auf den zweiten Blick als dünne stählerne Seile herausstellen. Offenbar hat man hier große Angst davor, daß jemand durch die Holzbalken der Geländer hindurch ins Wasser fällt. Als könnten die Menschen nicht selbst auf sich aufpassen. Eigentlich ist es schon fast ein Wunder, daß man die Geländer nicht gleich übermannshoch gestaltet hat.
Auf der anderen Seite wende ich mich nach rechts und folge ein Stück einem Waldweg, der sich mir auf einem Schild als Johann-Niemann-Weg vorstellt. Bereits nach wenigen Metern entdecke ich unter den Bäumen am Ufer des Stroms eine hölzerne Bank. Da sie frei ist, setze ich mich und lasse für einige Minuten die abendliche, langsam zur Ruhe kommende Natur auf mich wirken. Schilf wiegt sich sacht im Wind, der hier so zahm ist, daß er die Wasseroberfläche nur leicht kräuselt. Eine himmlische Ruhe liegt über dem Strom und dem angrenzenden Wald, in der lediglich ein paar Vogelstimmen hier und da zu hören sind. Und so langsam spüre ich, wie auch ich mehr und mehr zur Ruhe komme.
Als ich mich schließlich wieder erhebe und meinen Spaziergang fortsetze, indem ich den Weg zurückgehe, gelange ich nach wenigen Metern wieder zum Deich, den ich überquere. Einige Minuten später bin ich wieder im Zentrum des Ortes angelangt. Hier gestatte ich mir noch einen kleinen Schlenker durch die Bergstraße, der mich bis zur Hausnummer 10 führt. Denn schließlich bin doch ein bißchen neugierig, wie das Haus, in dem wir früher für unsere Tage in Prerow stets Quartier bezogen hatten, heute aussieht. Das einst von einer wilden Wiese bedeckte Gelände davor ist heute dicht bebaut, so daß ich für einen Augenblick daran zweifle, daß ich in der richtigen Straße unterwegs bin. Doch schon nach einigen Metern sehe ich sie vor mir – die alte Bäckerei. Und ein wenig erleichtert stelle ich fest, daß sie noch fast genauso aussieht, wie ich sie in Erinnerung habe. Lediglich die Veranda auf der linken Seite kommt mir unbekannt vor. Vermutlich ist sie erst in der Zeit nach unseren Aufenthalten hier hinzugekommen.
Ein orangefarbenes Schild, aufgestellt ganz in der Nähe, verrät mir Dinge, die ich noch nicht wußte. Das Gebäude, so lese ich da, stammt bereits aus den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Als Villa Ruheleben errichtet, wurde darin 1910 das Café Stein eröffnet. Im Jahre 1928 übernahm es der Bäckermeister Friedrich Koch und richtete darin seine Bäckerei ein. Bis heute ist das Gebäude im Familienbesitz. Und, so wird berichtet, noch immer backe man hier nach alter Tradition. Nun, daß das so nicht mehr stimmt, darüber bin ich dann doch bereits informiert. Daß hier jedoch einmal eine Bäckerei gewesen ist, kann man noch erahnen, selbst wenn man es nicht weiß. Die Markise über der abgeschrägten Ecke mit der Eingangstür, zu der drei kleine Stufen hinaufführen, ist ein deutlicher Hinweis darauf, daß sich hier einmal ein Laden befunden hat. Und wer genau hinsieht, kann in dem weißen Rechteck im oberen Stockwerk noch das einstige Bäckerei-Logo mit dem großen K erkennen, das für den Namen der Eigner steht.
Zufrieden mit all meinen ersten Entdeckungen und auch ein wenig glücklich darüber, doch bereits so vieles, das mir aus meiner Kindheit noch in Erinnerung ist, wiedergefunden zu haben, schließe ich für diesen ersten Tag meines kleinen Urlaubs in Gedanken das Album mit den Bildern meiner Kindheit und mache mich auf den Weg zurück zu meinem Quartier.
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Vehemente Verteidiger der Bahn mögen nun einwenden, daß die Bauarbeiten ja sicher länger als ein Wochenende gedauert haben und am Osterwochenende somit nur eine Pause eingelegt worden ist. Das ist sicher richtig. Allerdings habe ich dagegen einzuwenden, daß angesichts der Tatsache, daß eine Woche später die Bahn bereits wieder durchfuhr, durchaus eine andere Planung möglich gewesen sein müßte, als ausgerechnet am Osterwochenende, wo viele Menschen ein sehr langes Wochenende frei haben, das zu Kurzreisen auch an die Ostsee geradezu einlädt, eine dafür wichtige Strecke mit stillstehenden Bauarbeiten zu blockieren!
A good traveller has no fixed plans and is not intent on arriving. (Lao Tzu)