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Und der Wind weht allzeit über’s Meer…

Dieser Beitrag ist Teil 7 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Um so schneller eilt die Zeit, je mehr wir wünschen, daß sie sollt‘ verweilen.

Dieser Erfahrung, die sich zwar physikalisch nicht belegen läßt, doch trotzdem von kaum jemand bestritten werden dürfte, der auch nur über ein Mindestmaß an Lebenserfahrung verfügt, muß auch ich mich an diesem siebten Tag meines Urlaubs in Prerow stellen, denn er ist bereits der letzte meines kleinen Ausflugs, der mich nicht nur hierher auf den Darß geführt hat, sondern auch zu einer Reise zurück in die Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit und Jugend geworden ist, als ich gemeinsam mit meinen Eltern jedes Jahr hier im Urlaub gewesen bin.

Nachdem ich meine gestrige Fahrt nach Barth des ausgesprochen hartnäckigen Regens wegen schließlich hatte abbrechen müssen, ist das Wetter heute wieder zur Ruhe gekommen. Zwar ziehen nach wie vor dicke, mal mehr, mal weniger graue Wolken über den Himmel, wobei sie nach meinem Eindruck eine recht beachtliche Geschwindigkeit an den Tag legen, doch behalten sie die Wasser, die sie in ihrem Inneren tragen mögen, für sich, so daß es heute weidlich trocken bleibt. Allerdings hatte ich mir nach der Erfahrung vom Vortage für heute noch keinen rechten Plan für eine Unternehmung zurechtgelegt, hatten sich doch die einschlägigen Wettervorhersagen samt und sonders geweigert, einen regenfreien Tag zu garantieren. Daher wird sich mein heutiges Programm mehr oder minder spontan gestalten müssen. Doch das muß ja nichts Schlechtes sein…

Meine gestrige ausgiebige Besichtigung der großen Barther Sankt-Marien-Kirche hatte mir etwas wieder in Erinnerung gerufen, das noch auf meiner Wunschliste steht, für das ich aber im Zuge der Ausflüge der letzten Tage noch keine Zeit gefunden hatte: ein Besuch in der alten Seemannskirche von Prerow. Und mangels anderweitiger konkreter Planungen habe ich heute definitiv genug Zeit, diesen Besuch abzustatten.

Gleich nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg. Da ich keinesfalls Gefahr laufen möchte, wieder vor verschlossener Tür zu stehen, wie es nach meinem Prerower Rundgang am späten Nachmittag einige Tage zuvor der Fall gewesen war, ziehe ich es diesmal vor, bereits am Vormittag an der Kirche zu erscheinen. Auf dem vor dem Prerower Strom gelegenen Deich wandere ich zum östlichen Ende des Ortes. An der kleinen Märchenhütte vorbei erreiche ich den Abzweig des Weges, der mich in den Kirchenort hineinführt, wo sich der alte Friedhof befindet, in dessen Mitte sich die Seemannskirche erhebt. Wieder öffne ich das schmiedeeiserne Tor, wieder quietscht es leicht, und wieder gewährt es mir ohne weiteres den Zugang zum Friedhof. Und doch ist, wie ich fasziniert bemerke, die Atmosphäre, die mich dahinter umfängt, heute anders als einige Tage zuvor. Zwar verspüre ich auch heute das Empfinden, eine Welt der Ruhe, der Andacht und der Erinnerung zu betreten, doch wirkt sie jetzt irgendwie zurückgezogener, melancholischer. Ob das an den grauen Wolken liegt, die noch immer über den Himmel jagen? Vielleicht. War bei meinem letzten Besuch der Himmel strahlend blau gewesen und von der abendlichen, dem Horizont entgegenstrebenden Sonne hell erleuchtet worden, die die Kirche und den Friedhof mit seinen Bäumen, Büschen und Hecken in bunte Farben hüllte, so wirken diese heute gleichförmig düster. Von bunten Farben keine Spur. Eher dominieren Grau- und Brauntöne. Melancholie und Traurigkeit scheinen die Atmosphäre zu bestimmen.

Auch die Kirche ist davon nicht ausgenommen. Auch sie scheint heute eher gedrückter Stimmung zu sein. Der hölzerne Turm wirkt dunkel, von dem freundlichen Rot, mit dem das Dach einige Tage zuvor im Licht der untergehenden Sonne so hell leuchtete, ist heute keine Spur zu sehen. Einzig die gelben Ziegel des Hauptweges bringen etwas Farbe in die Szenerie. Schnurgerade führen sie auf die kleine Tür zu, die sich in der Seite des Kirchenschiffes befindet und, wie ich erfreut bemerke, einen Spaltbreit offensteht. Dort angekommen, schiebe ich sie zur Gänze auf und trete ein.

Ich finde mich in einem kleinen Vorraum wieder, nicht viel größer als eine Kammer. Ein Aufsteller präsentiert eine Reihe von Faltblättern mit Informationen zur Kirche, zu stattfindenden Veranstaltungen und vielem mehr, das mich angesichts meiner bevorstehenden baldigen Abreise allerdings nicht sonderlich interessiert, so daß ich meine Aufmerksamkeit alsbald der zweiten Tür zuwende, die auf der gegenüberliegenden Seite des Vorraums weiter in das Kircheninnere hineinführt. Sie gibt meinem Druck nach und gestattet mir einzutreten[1]Leider kann ich auch hier aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Auch wenn ich in der Prerower Seemannskirche kein solches Verbotsschild wie tags zuvor in der Barther … [Weiterlesen].

Nach dem etwas düsteren Eindruck, den die Kirche mit ihrem dunkelbraunen, hölzernen Turm und den rötlich-braunen Backsteinmauern von außen hinterlassen hatte, bin ich ein wenig von der strahlenden Helligkeit überrascht, die mich in ihrem Inneren empfängt. Große Fenster, die ich von außen in den Mauern gar nicht recht wahrgenommen hatte, lassen reichlich Licht einfallen, das eine zusätzliche Beleuchtung des Kirchenschiffes weitestgehend unnötig macht. Lediglich an dessen westlichem Ende, wo sich aufgrund des sich anschließenden Turms keine Fenster befinden, verbreiten ein paar Lampen freundliches gelbes Licht.

Meine Aufmerksamkeit gilt jedoch zunächst dem Ostende des Schiffes und dem dort aufragenden Altar. Auch er sorgt bei mir für einige Überraschung, ist er doch weit von der Schlichtheit entfernt, die man sonst für gewöhnlich in evangelischen Gotteshäusern antrifft. Gut, auch der Altar der Barther Sankt-Marien-Kirche war mit seinem einen Sternenhimmel imitierenden Baldachin nicht gerade ein Ausbund an Schlichtheit gewesen, doch jene Kirche war immerhin im Auftrag eines preußischen Königs gestaltet worden. Bei der Prerower Seemannskirche handelt es sich jedoch um eine reine Dorfkirche, wenn auch eine mit ausgeprägter Tradition, wie ich bei meinem Rundgang feststellen werde. Dies drückt sich auch in dem Altar aus, der nicht nur ausgesprochen schön ist, sondern überdies eine kleine Besonderheit darstellt. Er ist nämlich Altar und Kanzel in einem. Der Altartisch, den eine vor ihm aufgestellte niedrige hölzerne Barriere zum Kirchenraum hin abschließt, befindet sich vor einer hohen Rückwand, die in die Ostwand des Kirchenschiffs integriert ist, an die sich die als Sakristei genutzte Apsis des Gotteshauses anschließt. Diese Rückwand wird nach oben hin von einem Rundbogenaufsatz und zu beiden Seiten von runden Säulen abgeschlossen, zwischen denen sich in etwa eineinhalb Metern Höhe die Kanzel befindet. Auf dem sie bekrönenden Baldachin ist eine kleine Statue zu sehen, deren Kopf ein Strahlenkranz umgibt. Da die Kanzel über keinen sichtbaren Zugang verfügt, muß dieser sich in der Apsis befinden, die durch zwei Türen zugänglich ist, die sich je eine zu beiden Seiten des Altars befinden. Dieser sogenannte Kanzelaltar wurde im Jahre 1728 von dem Stralsunder Meister Elias Keßler geschaffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß von dieser Kanzel auch der hier von 1813 bis zu seinem Tode im Jahre 1825 tätige Pastor Joachim Gottfried Danckwardt seine Predigten unter das Volk brachte, der ein Lehrer des berühmten Lyrikers und Historikers Ernst Moritz Arndt gewesen ist.

Auf der rechten Seite des Kirchenschiffs, ebenfalls direkt an seinem östlichen Ende, befindet sich der Taufstein der Kirche. Und ebenso wie der Altar ist auch dieser eine Besonderheit, die ich so noch nirgendwo zu sehen bekommen habe. Das liegt allerdings weniger daran, daß es sich gar nicht um einen Stein, sondern vielmehr um ein Taufbecken handelt, das sich auf einem kunstvoll geschnitzten Ständer befindet. Nein, das allein wäre noch nichts sonderlich Außergewöhnliches. Diesen Status erlangt das Taufbecken jedoch durch sein sogenanntes Taufgehäuse. Ich würde es am ehesten als kleinen Pavillon beschreiben, der am Boden von einer umlaufenden Brüstung umgeben ist, die in vier große und acht kleine ornamental durchbrochene Felder unterteilt ist. Vier Pfeiler, an denen sich ebenso viele Figuren befinden, die Engelhermen darstellen, tragen das Dach des Gehäuses, auf dem kleine, allerliebst anzusehende Engelputten sitzen, die Inschriftkartuschen halten und in deren Mitte eine Jesus-Figur steht. Die üppige Vergoldung der Figuren und Brüstungsfelder kontrastiert sehr hübsch mit dem tiefen Blau der Pfeiler, des Daches und des Rahmens der Brüstung. Im Zentrum des Gehäuses befindet sich der geschnitzte Taufständer. Geschaffen wurde dieses beeindruckende Kunstwerk, dessen Positionierung vor zwei großen Eckfenstern es im hellen Tageslicht erstrahlen läßt, im Jahre 1740 von dem Stralsunder Meister Michel Müller.

Nachdem ich mir diese beiden außergewöhnlichen Kunstwerke eingehend angesehen habe, wobei ich über die Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer und die Schönheit der Gestaltung angemessen beeindruckt bin, wende ich mich nun dem Kirchenschiff zu, das rund dreißig Meter lang und etwa halb so breit ist. Und hier finde ich nun auch die Schlichtheit vor, die ich in einer evangelischen Kirche erwartet habe. Obwohl die Seemannskirche ein eher kleines Gotteshaus ist, schließen sich links und rechts an das von einem Tonnengewölbe nach oben hin abgeschlossene Mittelschiff zwei kleine Seitenschiffe an. Sie besitzen jeweils eine flache Decke und werden vom Hauptschiff durch schlanke, mit breiten Rundbögen verbundene Holzpfeiler getrennt. Eine auf schlichten Pfosten aus demselben Material ruhende Empore umläuft das Kirchenschiff an den Längs- und der Westseite. Sie nimmt der Länge nach etwa das halbe Schiff ein. Daß sich auf ihr an den Seiten weitere Sitzplätze befinden, kann ich nur vermuten, denn von hier unten ist von dem, was sich auf der Empore befindet, lediglich die am westlichen Ende des Kirchenschiffs aufgestellte kleine Orgel des Gotteshauses zu sehen.

Der gesamte untere Raum der drei Schiffe wird dort, wo sich an den Seiten die Empore befindet, vom Kirchengestühl eingenommen. Während sich dieses im hinteren Teil auf einfache Kirchenbänke beschränkt, ist es im vorderen, dem Altar zugewandten Bereich als Kastengestühl ausgeführt. Hier befinden sich offenbar die besseren Plätze, die in der Vergangenheit wohl den höhergestellten Mitgliedern der Prerower Einwohnerschaft vorbehalten gewesen sein mögen. Sowohl Gestühl als auch Empore sind in einem hellen Grau gestrichen, wobei in die Begrenzungswände des Kastengestühls ebenso wie in die Brüstung der Empore verzierende Felder eingelassen wurden, deren Innenfläche jeweils in einem hellen Blau gehalten ist und von einem dunkelblauen Rahmen eingefaßt wird. Diese doch recht einfache Farbgestaltung verleiht dem Innenraum eine helle, freundliche Atmosphäre von ausgeprägter Schlichtheit, in der ich mich jedoch ausgesprochen wohlfühle. Abgerundet wird dieser Eindruck durch die dazu passenden Sitzauflagen auf den Kirchenbänken, die das Blau der Felder in Empore und Gestühleinfassungen aufnehmen.

Als ich meinen Blick nach oben hebe und ihn von der Orgel die Empore entlang in Richtung Altar gleiten lasse, entdecke ich in der Mitte des Kirchenschiffs, direkt über den vorderen Reihen der Bänke, ein großes Schiffsmodell, das von der Gewölbedecke herabhängt. Es stellt ein Dreimast-Segelschiff mit Bug- und Hecksegel dar. Votivschiffe wie dieses gibt es in der Kirche mehrere. Und nicht nur hier. Sie repräsentierten in evangelischen Kirchen des Ostseeraumes den Berufsstand des Schiffers beziehungsweise Seemanns und wurden der jeweiligen Kirche gewöhnlich aus Dankbarkeit für die Rettung aus Seenot gestiftet. Das gilt auch für das Schiff, das ich hier im Mittelschiff vor mir sehe und das das größte der drei ist, die die Kirche heute besitzt. Dem Segler Napoleon nachempfunden, wurde es um das Jahr 1850 von einem Kapitän an die Kirche übergeben.

Zu erwähnen sind noch die beiden Kronleuchter, die ebenfalls im Mittelschiff der Seemannskirche aufgehängt sind. Im westlichen Teil des Innenraums entdecke ich einen sechsarmigen, aus Messing bestehenden Leuchter, während vor dem Altar ein – wenn ich mich nicht verzählt habe – zehnarmiger Leuchter aus Kristallglas zu sehen ist. Beide fanden als Stiftungen ihren Weg in die Kirche. Der Messingleuchter wurde 1733 von Prerower Bauern und Fischern übergeben, während um 1800 eine Mannschaft, deren Schiff vor der Küste Prerows strandete und gerettet wurde, den Kristallglasleuchter in die Kirche brachte.

An all diese Kunstwerke und Gegenstände habe ich ebenso wie an den gesamten Innenraum der Kirche keinerlei Erinnerungen aus der Zeit meiner Kindheit und Jugend, als wir uns des öfteren hier in Prerow aufhielten. Wenn wir dabei auch einmal der Seemannskirche einen Besuch abgestattet haben sollten – was ich für durchaus wahrscheinlich halte -, so habe ich mich damals allerdings nicht sonderlich dafür interessiert, weshalb kein bleibender Eindruck entstehen konnte, an den ich mich heute noch erinnern würde. Um so froher und zufriedener bin ich, daß es mir heute möglich war, den Besuch nachzuholen, denn ich bin durchaus der Meinung, daß mir andernfalls etwas Wertvolles und Interessantes entgangen wäre.

Mit diesem Gedanken wende ich mich wieder der Tür zu, durch die ich die Kirche zuvor betreten hatte, und verlasse Gotteshaus und Friedhof auf demselben Wege, auf dem ich gekommen bin.

Und nun? Einen Moment stehe ich unschlüssig auf dem Platz vor dem Friedhof und überlege, was ich als nächstes unternehmen soll. Da die Sonne es mittlerweile schafft, immer wieder einmal durch die nach wie vor recht schnell über den Himmel ziehenden Wolken zu lugen, lenke ich meine Schritte zum nahegelegenen Prerower Hafen. Vielleicht, kommt es mir in den Sinn, könnte ich ja zum Abschluß des Urlaubs noch eine kleine Wanderung durch die von Prielen und Fließen durchzogenen Wiesen und Felder unternehmen, durch die der Prerower Strom seine vielfach gewundene Bahn zieht, die ihn hinüber zum Bodstedter Bodden führt. Das könnte doch eigentlich ganz schön sein, und vielleicht schaffe ich es ja tatsächlich bis hinüber zum Bodden und in das an diesem gelegene Örtchen Wieck. Von dort ließe es sich dann am Nachmittag ganz bequem mit dem Bus nach Prerow zurückkehren.

Je länger ich auf meinem Weg hin zum Hafen über diese Idee nachdenke, desto verlockender erscheint sie mir. So schenke ich dem heftigen Wind, der mich plötzlich von der Seite her umweht, als ich gerade den Prerower Strom überquere, keine große Beachtung. Doch das soll sich kurze Zeit später ändern. Kaum habe ich den Hafen hinter mir gelassen und den kleinen, parallel zum Strom verlaufenden Deich erreicht, auf dem ich die ersten Meter meiner Wanderung zurückzulegen gedenke, muß ich feststellen, daß der Wind durchaus kein Ereignis eines einzelnen Moments zu bleiben gedenkt, sondern hier, wo er durch den Strom und die nahen Wiesen über ausreichend freie Fläche verfügt, nicht nur ausgesprochen beständig weht, sondern sich auch als recht steife Brise entpuppt, die dem Wanderer einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen in der Lage ist. Doch noch will ich mich nicht geschlagen geben. Als ich das Ende des Prerower Ortsteils Krabbenort erreicht habe, wo mich ein Schild recht bestimmt darauf hinweist, daß das Weitergehen auf dem Deich von hier an untersagt ist, folge ich einer kleinen Straße, die zwischen die Häuser hineinführt und mich hoffen läßt, über sie auf deren anderer Seite die Wiesen und einen über jene hinwegführenden Weg zu erreichen. Kaum befinde ich mich zwischen den Häusern, ist der Wind verschwunden. Als die Straße sich nach wenigen Schritten – der Krabbenort ist hier an seinem nahen Ende nur noch zwei bis drei Grundstücke breit – schließlich als Sackgasse erweist, von deren Ende kein Weg in die Wiesen weiterführt, muß ich wohl oder übel umkehren, um mir eine andere Möglichkeit des Weiterkommens zu suchen. Irgendwo wird hier schon ein Weg in die Wiesen zu finden sein.

Kaum habe ich den Deich wieder erreicht, ist auch der Wind wieder da. So langsam wird mir klar, daß der Grund dafür, daß ich ihn bisher nur gelegentlich zu spüren bekommen hatte, wohl darin zu suchen ist, daß mich mein Weg durch Prerow hierher praktisch nie über größere Freiflächen, sondern immer zwischen Häusern und kleinen oder größeren Waldstücken hindurchgeführt hatte. Dabei waren doch die geschwind über den Himmel ziehenden Wolken die ganze Zeit ein recht deutlicher Hinweis auf die Wetterlage und die mit ihr verbundenen Luftbewegungen gewesen. So komme ich zu guter Letzt zu dem Schluß, daß ich wohl, sollte ich bei meinem Vorhaben einer Wanderung über die Wiesen bleiben, mit dem Wind als ständigem Begleiter, wenn nicht gar Gegner würde rechnen müssen. Angesichts der am heutigen Tag nicht allzu hohen Temperaturen, die ich auf höchstens acht Grad Celsius schätze, kommt mir die Aussicht darauf auf einmal gar nicht mehr so verlockend vor wie noch vor etwa einer halben Stunde. Bereits bei dem Gedanken an eine Wanderung in unablässig wehendem steifen Wind vermeine ich ein leichtes Frösteln zu spüren. Dem wäre mit einem dickeren Pullover sicher abzuhelfen, nur liegt dieser im Schrank meines Zimmers. Ihn jetzt von dort zu holen, bedeutete, den ganzen Weg hierher erst zurück- und dann wieder herlaufen zu müssen. Und dazu verspüre ich dann doch eher weniger Lust.

Nachdem ich mich ein wenig für meine unzureichende Tagesplanung gescholten und mich über mich selbst geärgert habe, was mir für eine kleine Weile eine gewisse Mißstimmung beschert, stelle ich schließlich fest, daß das am Ende auch nichts bringt außer schlechte Laune. Und weil ich die nicht haben will, beschließe ich, mit dem zufrieden sein, was ich habe. Und das ist nicht nur der Besuch, den ich der kleinen hübschen Seemannskirche am Vormittag abgestattet hatte, sondern auch die Tatsache, daß mir immer noch ein ganzer Nachmittag zur Verfügung steht. Und da ich mich nun von der Idee freigemacht habe, an diesem letzten Tag noch irgendeine größere Unternehmung in Angriff nehmen zu müssen, ist mir auf einmal völlig klar, was ich mit der verbleibenden Zeit wirklich tun möchte.

Genau wie mir das Begrüßen des Meeres noch am Tage meiner Ankunft eine liebe Tradition geworden ist, die ich aus der Zeit meiner Kindheit und unseren damaligen Urlauben hier in Prerow übernommen habe, so ist auch der Abschied am letzten Tag zu einer solchen geworden. Egal, welches Programm für diesen letzten Tag auch immer vorgesehen war, am Ende gingen wir stets noch einmal an den Strand, um der Ostsee Lebewohl zu sagen – bis zum nächsten Mal. So will ich es auch diesmal halten.

Und so mache ich mich langsamen Schrittes auf den Weg zurück in den Ort, um mich zu verabschieden. Langsam spaziere ich durch die mir inzwischen wieder vertrauten Straßen, komme vorüber an den vielen neuen Häusern und an jenen, die ich noch von damals kenne, wandere ein Stück den Deich und den dahinterliegenden Prerower Strom entlang, den ich auf einer der schmalen Brücken überquere, die hinüber in den Dünenwald führen, in dem sich der altvertraute Ziegelweg unter meine Füße legt. Schließlich gelange ich noch einmal zum Hauptübergang mit seinen zahlreichen Buden, an denen alles verkauft wird, was der geneigte Tourist und Strandbesucher vielleicht brauchen oder zumindest haben wollen könnte, von Souvenirs über Kleidung und Schmuck bis hin zu Bratwurst und Crêpes. Dann stehe ich wieder auf der Düne, wo ich überrascht feststelle, daß man inzwischen die Aussichtsplattform, von der ich vier Tage zuvor noch auf die Pfeiler der Seebrücke und bis hinüber nach Hiddensee geblickt hatte, abgerissen hat. Von ihr ist keine Spur mehr zu sehen.

Hier oben ist natürlich auch der Wind wieder da, von dem während meines Spaziergangs durch den Ort und den Dünenwald so gut wie nichts mehr zu spüren gewesen war, so daß ich ihn inzwischen völlig vergessen hatte. Doch hier, wo die weite Wasserfläche des Meeres ihm keinerlei Hindernis in den Weg stellt, geht er nun voller Inbrunst zu Werke. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die in den letzten Tagen so überaus friedliche See. Bereits von hier oben ist deutlich zu erkennen, daß von der spiegelglatten, wellenlosen Meeresoberfläche, die sie mir stets präsentiert hatte, wann immer ich in den vergangenen Tagen zu ihr gekommen war, heute keine Rede sein kann. Zwar wäre es auch völlig übertrieben, davon zu sprechen, daß sich das Meer in Aufruhr befände – so stürmisch ist der Wind dann auch wieder nicht -, doch lassen sich heute immerhin die Wellen sehen, die ich bisher stets hatte vermissen müssen.

Ich stapfe durch den Sand den Strand hinunter zum Wasser, das in heftiger Bewegung ist. Mutwillig dringt es auf den Strand vor und versucht, möglichst große Areale des weißen Sandes zu bedecken, bis ihm die Puste ausgeht und es sich widerwillig wieder zurückziehen muß, nur um sofort einen neuen Anlauf zu wagen. Weiter draußen, wo die Oberfläche des Wassers stark gekräuselt ist und wabernd hin- und herwogt, rollen Wellen auf das Ufer zu, die sich urplötzlich überschlagen und weiße Schaumkronen bilden, wo sie auf Sandbänke treffen, die sich im Meeresboden angehäuft haben und sie in ihrem Vorwärtsdrängen aufhalten. Wirken sie hier noch vergleichsweise harmlos, zeigen sie kurz darauf, wieviel Energie sie tatsächlich in sich tragen. Da sich die Bauschiffe am heutigen Sonnabend wieder in den Nothafen am Darßer Ort zurückgezogen haben, ist der Weg entlang der Pfeilerreihe der im Entstehen begriffenen neuen Seebrücke für die Wellen frei, bis sie auf die aus irgendeinem Grund in den Meeresboden gerammten metallenen und parallel zum Ufer verlaufenden Spundwände treffen. Als wären sie über das unverhoffte Hindernis unvermittelt in Wut geraten, setzen die Wellen von einem Moment auf den anderen die ihnen innewohnende Energie frei, als wollten sie versuchen, es aus dem Weg zu räumen. Doch die metallene Front ist hartnäckig und weicht keinen Zentimeter, so daß den Wellen keine andere Wahl bleibt, als sich in hoch aufspritzenden Gischtfontänen über sie hinwegzusetzen. Das ist jedesmal ein phantastischer Anblick. Keine dieser Fontänen ist wie die andere und eine jede scheint die Höhe ihrer Vorgänger noch überbieten zu wollen. Nicht jeder gelingt es, doch alle versprühen sie Myriaden großer und kleiner Tröpfchen, die über die Spundwände spritzen und auf die dahinterliegende Wasseroberfläche aufschlagen. Doch die Macht der Welle ist gebrochen. Hinter der Spundwand findet sie sich nicht wieder und das Wasser ist ungleich ruhiger. Dieses sich ewig wiederholende Spiel der Wellen entfaltet, je länger ich ihm zusehe, eine schon fast hypnotische Wirkung, die durch das es begleitende rhythmische Rauschen des Wassers noch verstärkt wird.

An der Seebrücke in Prerow
Hoch schäumt die Gischt, wenn sich die Welle bricht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Am Ende weiß ich gar nicht, wie lange ich hier gestanden und dem Meer in seiner endlosen Bewegung, mit der es, getrieben vom Wind, unverdrossen gegen das Land anbrandet, zugesehen habe. Mir ist, als erblickte ich darin ein Stück der Ewigkeit. Wir kommen in diese Welt und müssen sie irgendwann wieder verlassen, doch das Meer wird auch dann noch dem Spiel seiner Wellen frönen und sie unverdrossen in Richtung Land schicken, wenn wir und Generationen nach uns schon längst nicht mehr sind. Und aus irgendeinem Grund hat dieser Gedanke, obwohl er mich an meine eigene Endlichkeit erinnert, nichts Bedrohliches, sondern etwas sehr Beruhigendes.

Im Geiste verabschiede ich mich von der See und verspreche ihr – und auch mir selbst -, bald einmal wiederzukommen. Vielleicht schon im nächsten Jahr. Vielleicht wird es nicht in Prerow sein, sondern irgendwo anders. Usedom vielleicht. Oder Rügen. Und vielleicht – sicher bin ich mir im nachhinein darüber nicht – spreche ich diese Abschiedsworte auch laut aus und lasse sie vom Wind davontragen.

Mach’s gut, Ostsee. Es war schön. Bis bald mal wieder…

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1 Leider kann ich auch hier aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Auch wenn ich in der Prerower Seemannskirche kein solches Verbotsschild wie tags zuvor in der Barther Sankt-Marien-Kirche vorfinde, bin ich mir nicht sicher, ob ich dies rechtlich als Freifahrtschein für die Veröffentlichung meiner Fotos ihres Innenraums ansehen darf. So muß auch in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln.