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Zwischen Bodden und Meer

Dieser Beitrag ist Teil 4 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Stille.

Ringsum ist kein Laut zu hören. Das ist zumindest mein erster Eindruck, als ich hier, mitten im Dünenwald, für ein paar Minuten innehalte und lausche. Gerade ist die zehnte Stunde des Tages abgelaufen, und auf dem namenlosen Waldweg inmitten der zahllosen Kiefern läßt sich keine Menschenseele entdecken.

Stille.

Wie bereits zwei Tage zuvor malt die Sonne wieder helle Lichtflecken auf den von niedrigen Sträuchern bestandenen Waldboden. Und der Himmel über den Wipfeln der Bäume erstrahlt in einem satten tiefen Blau.

Stille.

Das ist zumindest das, was meine die Großstadt gewöhnten Ohren, geeicht auf deren nahezu ununterbrochenen Lärm, der des Nachts lediglich ein wenig abflaut, doch nie ganz verschwindet, mir zunächst übermitteln. Es dauert seine Zeit, bis sie wahrzunehmen beginnen, daß da mehr ist. Zunächst dringt ein sachtes Rauschen in mein Bewußtsein, zwar nur leise, aber doch vorhanden; mal anschwellend, dann wieder abflauend; eben noch säuselnd und weit entfernt, so daß ich es für das Rauschen des hinter den Dünen gelegenen Meeres halten könnte, ist es plötzlich direkt über mir und um ein Vielfaches lauter, läßt mich unwillkürlich den Blick zu den Kronen der Kiefern heben, die sich sanft hin- und herwiegen. Und gleich entfernt es sich wieder, wird leiser und leiser, bis es schließlich kaum noch zu vernehmen ist. Doch da scheint es auch schon zurückzukehren, nimmt wieder zu und dringt erneut an mein Ohr. Nein, das sind nicht die Wellen des Meeres, das ist der Wind, der an diesem Morgen gemächlich über den Dünenwald streicht, mit den Baumwipfeln spielt und sie gewissermaßen zum Klingen bringt. Und auch die Stämme der Bäume stimmen ein, denn auf einmal nehme ich ein tiefes Knarren und Knarzen wahr, das, so scheint es mir, irgendwie zufrieden klingt, so als ob die Bäume glücklich darüber wären, sich hin- und herwiegen zu können, sich dabei zu strecken und zu dehnen. Und irgendwie verstärken diese Töne des Waldes in mir den Eindruck absoluter Ruhe, die sich für mich nun allerdings nicht mehr als Geräuschlosigkeit ausdrückt, sondern als die Abwesenheit jeglichen unkontrollierten Lärms und Stresses.

Im Prerower Dünenwald
Ein Morgen im Dünenwald.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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In dieser Stimmung angekommen, nehme ich plötzlich auch andere Geräusche wahr. Von irgendwo ertönt der fröhliche Ruf eines Vogels, der um so stärker in mein Bewußtsein dringt, als das Federvolk an diesem Morgen offenbar beschlossen hat, kein lautstarkes Konzert zu veranstalten, sondern ebenfalls die Ruhe des Waldes zu genießen; eine Ruhe, die der irgendwo auf einem Ast sitzende kleine Piepmatz mit seinem fröhlichen Zwitschern nur unterstreicht. Und was war das?! Hat da nicht eben etwas hinter mir geraschelt? Da! Schon wieder! Je länger ich hier innehalte und lausche, desto mehr Geräusche dringen an mein Ohr und überschreiten die Schwelle meiner Wahrnehmung. Geräusche, die ich sonst im Lärm der Großstadt nie zu hören in der Lage bin. Regungslos stehe ich noch eine ganze Weile mitten im Wald und höre zu…

Daß ich mich um diese Zeit bereits hier im Dünenwald aufhalte, hat seinen Grund. Ich bin unterwegs zu einer Verabredung, die ich allerdings nicht mit einer Person, sondern mit einer Unternehmung habe, die für den heutigen Vormittag geplant ist und für die das Wetter gar nicht besser sein kann. Mein Ziel ist der im Prerower Strom gelegene Hafen. Als ich am gestrigen Abend dort vorübergekommen war, hatte ich herausgefunden, daß man Schiffstouren durch den Strom anbot, die bis in den Bodstedter Bodden führen. Und nach all der Lauferei in den letzten drei Tagen hatte ich spontan beschlossen, daß mir für heute ein Ausflug ganz gut täte, bei dem ich es etwas ruhiger würde angehen können. Und so bin ich nun unterwegs zur Anlegestelle, wobei ich mir anstelle des Weges durch den Ort, die Hauptstraße entlang einen kleinen Umweg gönne, der mich den Hauptübergang entlang zum Strom und darüber hinweg hierher in den Dünenwald geführt hat.

Nach der morgendlichen Andacht im Wald innerlich zur Ruhe gekommen, setze ich schließlich meinen Morgenspaziergang fort. Der Weg, in den ich vom Hauptübergang eingebogen bin und dem ich nun folge, verläuft in östlicher Richtung durch den Dünenwald, bis er eine scharfe Biegung nach Südosten macht und kurz darauf den großen Deich erreicht. Ich treffe dort an genau der Stelle ein, wo ich tags zuvor zur Seemannskirche abgebogen war. Geradeaus über den Deich hinweggehend, folge ich auch heute dieser Route, lasse jedoch, als ich sie erreicht habe, die kleine Kirche und den sie umgebenden Friedhof hinter mir und gehe weiter zur Straße, die Prerow hier verläßt und hinüber nach Zingst führt. Dort angekommen, sind es nur noch ein paar Meter bis zum Hafen. Da ich jedoch trotz meines Verweilens im Wald bis zur Abfahrt meines Schiffes noch mehr als eine Stunde Zeit habe, wende ich mich anstatt nach rechts in die entgegengesetzte Richtung, wo, wie ich weiß, der alte Prerower Bahnhof zu finden ist. Wenn ich schon einmal in dieser Gegend bin, dann will ich doch auch einmal einen Blick darauf werfen.

Es sind nur wenige Meter bis dorthin. Die Straße macht einen kleinen Schwenk nach links und gibt so den Platz frei für ein Gelände, das von einem großen roten Ziegelbau dominiert wird, der seine Herkunft eines alten Bahnhofsgebäudes kaum verleugnen kann. Da er parallel zur Straße ausgerichtet ist, wendet er mir seine westliche Schmalseite zu, die von sechs großen Bogenfenstern dominiert wird, deren fünf unmittelbar nebeneinander liegen, während das sechste sich in einigem Abstand zu diesen an der abgeschrägten Hausecke befindet. Bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, daß es sich bei einem der fünf Fenster eigentlich um eine Tür handelt. An dieser bemerke ich auch den ersten deutlichen Hinweis auf die Eisenbahnvergangenheit des Gebäudes, denn in dem über ihr befindlichen oberen Bogenfeld ist der Flügel eines einstigen Formsignals zu sehen. Der zweite untrügliche Hinweis besteht in der ebenfalls bogenförmigen Aufschrift, die an der Ziegelwand zwischen dem abgesetzten Fenster und den anderen fünf angebracht worden ist. Alter Bahnhof steht dort weithin sichtbar. Und darunter: Restaurant. Wahrscheinlich ist es hinter den aneinandergereihten Bogenfenstern zu finden, die den Eindruck vermitteln, zu einem größeren Saal zu gehören.

Der alte Bahnhof in Prerow
Wo einst das eiserne Roß schnaufte… – der alte Bahnhof von Prerow.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Über diesem Erdgeschoß türmt sich bereits das schwarze Dach des alten Gebäudes, das in mehreren Abstufungen schräg nach oben aufragt und wenigstens einer weiteren Etage unter sich Platz gewährt. Tatsächlich ist es höher als die Ziegelwand und die Fenster, die das zu ebener Erde gelegene Geschoß bilden. Als ich der Straße weiter folge, um neben das Gebäude zu gelangen, kann ich nach und nach seine gesamte, dieser zugewandte Längsseite in Augenschein nehmen und dabei weitere Hinweise auf die mit der Eisenbahn in Verbindung stehende Geschichte des Hauses entdecken – wie die aus der Hauswand ragende kreisrunde Bahnhofsuhr mit ihrem schwarzen Rahmen, die sich, wie es sich für eine gute Bahnhofsuhr gehört, beharrlich weigert, die korrekte Zeit anzuzeigen. Am davor verlaufenden Zufahrtsweg steht ein dreieckiges Verkehrsschild mit rotem Rand, auf dem eine schwarze Dampflokomotive zu sehen ist. Der unbeschrankte Bahnübergang, vor dem es warnt, ist allerdings nirgends zu finden.

Die Mitte des Gebäudes wird von einer nach oben hin spitz zulaufenden Giebelwand gebildet, in der sich unzweifelhaft der Haupteingang befindet, über dem sich der bogenförmige Schriftzug Alter Bahnhof wiederholt. Der Zusatz Restaurant fehlt hier zwar, doch gibt es eine andere Ergänzung. Denn mag man früher auch als Reisender durch diese Tür den Bahnhof betreten haben, so verkündet die Aufschrift auf dem der Tür vorgelagerten Baldachin in großen Lettern nun, wohin man heute gelangt, wenn man sie durchschreitet. HOTEL ist dort zu lesen. Die drei Sterne über dem Buchstaben in der Mitte des Wortes machen deutlich, daß es sich durchaus um ein Etablissement mit Anspruch handelt. Unmittelbar vor diesem Haupteingang sind auch die beiden deutlichsten Hinweise darauf zu finden, daß dies hier einst ein Bahnhof war: ein intaktes Formsignal mit einem schräg nach oben ragenden Flügel, der der darunter auf einem Gleisfragment aufgestellten kleinen Diesellokomotive vom Typ Kö II des Herstellers Krupp freie Fahrt anzeigt – ein Hinweis, der angesichts des direkt vor der Lok aufgestellten Prellbocks etwas ironisch wirkt.

Der alte Bahnhof in Prerow
Es fährt ein Zug nach nirgendwo… – die alte Diesellok Kö II vor dem alten Bahnhof in Prerow.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein Hotel also. Da ergeht es diesem alten Bahnhofsgebäude definitiv besser als manch anderem seiner Geschwister an den Bahnstrecken in ganz Deutschland, die man mittlerweile stillgelegt hat, um lieber die Kosten und Profite zu optimieren als die der Bevölkerung zur Verfügung gestellten Verkehrsverbindungen. Und selbst an Bahnstrecken, die noch in Betrieb sind, verfallen viele der einst stolzen Bahnhofsgebäude, weil ihre Erhaltung Geld kosten und so die genannten Profite schmälern würde. Dieser alte Bahnhof hingegen sieht ausgesprochen gepflegt und gut erhalten aus.

Daß hier ein Zug hielt, ist schon viele Jahre her. Die Geschichte der hiesigen Eisenbahn begann im Jahre 1888, als man zwischen Velgast und Barth eine neu geschaffene Zugverbindung in Betrieb nahm. Weil jedoch die Zahl der Badegäste, die des Sommers in die hiesigen Ostseebäder strömten, stetig zunahm, entschloß man sich zwanzig Jahre später, die Strecke über Zingst bis nach Prerow zu verlängern. Bereits nach nur zwei Jahren Bauzeit ging die sogenannte Darßbahn in Betrieb. Sie war ein überwältigender Erfolg. In kürzester Zeit mußten die Dampfschifflinien, die bis dahin das Monopol auf die Verkehrsverbindung zum Festland hatten, ihren Betrieb einstellen. Mit der Eisenbahn und deren unbestreitbarem Vorteil, ihren Betrieb auch im Winter uneingeschränkt aufrechterhalten zu können, waren sie nicht in der Lage zu konkurrieren. Jahr für Jahr erreichte die Darßbahn steigende Fahrgastzahlen.

Das Sturmhochwasser von 1913, das die Strecke beschädigte, und der kurz darauf Europa verheerende Erste Weltkrieg sorgten dann jedoch für einen großen Einbruch, von dem sich die Bahn auch in den 1920er Jahren nicht so recht erholen konnte, als Deutschland von verschiedenen ökonomischen Krisen heimgesucht wurde. Erst die dreißiger Jahre brachten wieder einen Aufschwung, mit dem die Darßbahn an ihre einstige Bedeutung, die sie vor dem Ersten Weltkrieg hatte, anknüpfen konnte.

Der Zweite Weltkrieg brachte mit seinen Folgen schließlich das Ende der Darßbahn. Zwar überstand die Strecke die Kriegshandlungen weitestgehend unbeschädigt, doch wurde der Abschnitt zwischen Prerow und Bresewitz kurz nach Kriegsende abgebaut. Die Gleise hatten als Reparationsleistung für die Sowjetunion zu dienen. Seitdem ist in Prerow kein Zug mehr gefahren. Nur wenige Jahre später kam dann auch der Zugverkehr zwischen Barth und Bresewitz endgültig zum Erliegen, als dieser Streckenabschnitt das Schicksal des ersten teilte. Seitdem können Fahrgäste mit der Eisenbahn nur noch bis Barth fahren, so wie auch ich es bei meiner Anreise vor einigen Tagen getan hatte. In den 1960er Jahren baute man zwar die Strecke bis Bresewitz wieder auf, doch blieb sie der Nationalen Volksarmee der DDR vorbehalten, die sie zur Versorgung ihres Stützpunktes auf der Halbinsel Zingst nutzte. Das Ende der DDR bedeutete dann allerdings das endgültige Aus jeglichen Eisenbahnverkehrs ab Barth.

Heute besteht die Trasse der einstigen Darßbahn noch immer, wenn auch auf den verschiedenen Abschnitten in stark unterschiedlichem Zustand. Teils liegen noch Gleise, teils wird sie als Radweg genutzt. Zwischen Zingst und Prerow ist sie hingegen kaum noch wahrnehmbar. Die Bahnhofsgebäude wurden in den 2000er Jahren saniert. Dies diente jedoch nicht etwa einer Wiederinbetriebnahme der Strecke, sondern lediglich der Vorbereitung des anschließenden Verkaufs an Privatleute. Aus diesem Grunde ist der alte Bahnhof Prerow heute ein Hotel.

Wie lange dieses noch Bestand haben wird, ist heute allerdings durchaus fraglich. Im Jahre 2002 hatte nämlich die Usedomer Bäderbahn den Personenverkehr zwischen Velgast und Barth übernommen. Seitdem haben Überlegungen zur Wiederherstellung der Darßbahn mehr und mehr an Gestalt gewonnen. Doch wie bei so ziemlich allem, was im heutigen Deutschland unter Beteiligung der öffentlichen Hand in Angriff genommen wird, mahlten die Mühlen der Bürokratie unendlich langsam. Es dauerte bis zum Jahr 2020, daß die Wiedererrichtung der Strecke von Barth über Zingst nach Prerow schließlich wenigstens beschlossen wurde. Man rechnet momentan mit einer Bauzeit bis 2028. Ich vermute jedoch, daß es wesentlich länger dauern wird, denn auf meiner Busfahrt von Barth nach Prerow im Zuge meiner Anreise, die ein großes Stück parallel zur einstigen Trasse der Darßbahn vonstattenging, konnte ich absolut nirgends auch nur den kleinsten Anschein von im Gange befindlichen Bauarbeiten erkennen. Wahrscheinlich hat man bisher noch nicht einmal damit begonnen. So wird wohl auch das Hotel im Alten Bahnhof von Prerow noch einige Jahre vor sich haben.

Zwar liegt die Abfahrt meines Schiffes noch immer in komfortabler zeitlicher Entfernung, doch gibt es hier nicht viel mehr Interessantes zu sehen. So mache ich mich auf den Weg zum Hafen. Vielleicht kann ich mich ja dort noch ein wenig umschauen. Im Weggehen werfe ich noch einen Blick hinter das alte Bahnhofsgebäude, wo sich einst der Bahnsteig mit den Gleisen befunden haben muß. Nach meinem Eindruck ist er noch vage zu erkennen, auch wenn das Gelände heute vollständig grasbewachsen und mit einem Spielplatz versehen ist. Sollte hier in Zukunft jemals wieder ein Zug verkehren, werde ich ganz sicher einmal an diesem Bahnhof aus einem aussteigen. Vorausgesetzt natürlich, das geschieht noch zu meinen Lebzeiten. In Deutschland weiß man ja nie…

Gute fünf Minuten später bin ich am Hafen angekommen. Gerade als ich von der Straße abbiege, um zu dem kleinen Kai zu gelangen, an dem zwei Schiffe angelegt haben, wird bei dem ersten der beiden der Zugangssteg eingezogen. Langsam setzt es sich in Bewegung, wobei sich zwischen Schiffsrumpf und Kai eine stetig größer werdende Lücke auftut. Um dort mitzufahren, bin ich definitiv zu spät dran. Glücklicherweise hatte ich das gar nicht vorgehabt. Genaugenommen hatte ich nicht einmal damit gerechnet, dieses Schiff hier noch anzutreffen, denn meinen am Abend vorher in Erfahrung gebrachten Informationen zufolge sollte es eigentlich bereits seit gut zehn Minuten unterwegs sein. Offenbar läßt man sich hier Zeit. Doch warum auch nicht? Schließlich geht es ja nur um eine Ausflugsfahrt und nicht um einen Fährbetrieb.

Das Schiff entfernt sich zusehends vom Ufer, wendet und nimmt, als es die Mitte des Stroms erreicht hat, Fahrt auf. MS Ostseebad Prerow kann ich an seiner Seite lesen. Dem Aufsteller neben seinem Liegeplatz am Kai entnehme ich, daß es von der Reederei Rasche betrieben wird. Von moderner Bauart, macht es einen durchaus schnittigen Eindruck. Als Passagier hat man, soweit ich es von hier aus sehen kann, die Wahl, ob man im unteren Fahrgastraum oder oben auf dem Sonnendeck sitzen möchte. Wie es scheint, haben sich die meisten der an Bord befindlichen Fahrgäste für die zweite Möglichkeit entschieden, was angesichts des momentan absolut wolkenlosen blauen Himmels und der strahlenden Sonne nicht verwundert. Eine Fahrt auf diesem Schiff wäre sicher angenehm gewesen, doch hatte ich mich bereits am Abend zuvor für die Tour mit der MS Baltic Star entschieden, die eine Stunde später abfahren soll. Der Grund ist ebenso einfach wie kitschig: bei der Baltic Star, die von der Konkurrenzreederei Poschke betrieben wird, handelt es sich um einen Schaufelraddampfer.

Die "Baltic Star" im Prerower Hafen
Ein Dampfschiff ohne Dampf – die Baltic Star im Prerower Hafen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nun ist es nicht so, daß Schaufelraddampfer im Stil nordamerikanischer Flußschiffe hier in Prerow eine besonders ausgeprägte Tradition hätten. Genaugenommen ist der Prerower Strom, wie ich bereits weiß, nicht einmal ein Fluß. Auch findet man heute auf vielen Flüssen in Deutschland, die Schiffahrt ermöglichen und wo man sich mit Urlaubern ein gutes Geschäft versprechen darf, derartige Schaufelraddampfer mit ihren übereinanderliegenden, mit balustradenartigen Geländern versehenen charakteristischen Oberdecks und den beiden nach oben hin in gezackten Kronen auslaufenden Schornsteinen, aus denen man jedoch kaum einmal Rauch aufsteigen sieht, denn das Heizen mit Kohle wäre in heutigen Zeiten kaum noch wohlgelitten, erst recht nicht in einem Nationalpark wie dem hiesigen Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Und doch sind diese historisierenden Schiffe bei den Urlaubern stets außerordentlich beliebt, muß man doch auf diese Weise nicht bis nach Amerika und erst recht nicht in der Zeit zurückreisen, um sich einmal wie auf einem großen Flußdampfer auf dem Mississippi in den Südstaaten der USA des 19. Jahrhunderts zu fühlen. Ich bilde da keine Ausnahme. Unwillkürlich kommen mir die Digedags in den Sinn, jene von Hannes Hegen erdachten Helden der Mosaik genannten Comicreihe, die mich in meiner Kindheit und Jugend begleitet haben und in deren ersten Ausgaben der Amerika-Serie ich ein Wettrennen zwischen zweien dieser Mississippi-Dampfer hautnah miterleben konnte. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich diese Geschichten schon gelesen habe. Auch heute noch nehme ich sie immer wieder einmal aus dem Schrank und vertiefe mich für einen Abend oder zwei in die Welt der Digedags, die in den verschiedensten Teilen der Erde zu den unterschiedlichsten Perioden der Weltgeschichte, ja sogar in der Zukunft im Weltraum ihre Abenteuer erleben – und damals wie heute meine Phantasie beflügeln. So ist es für mich kein Wunder, daß ich, als ich tags zuvor von diesem Dampfer erfuhr, ohne groß nachzudenken entschied, daß meine heutige Ausflugsfahrt in den Bodden mit ihm stattzufinden hätte.

Doch noch habe ich eine gute Dreiviertelstunde Zeit bis zur Abfahrt. Die nutze ich nun, um mich ein wenig im Umfeld des Hafens umzusehen. Über ihn selbst ist nicht allzu viel zu sagen. Betritt man so wie ich den Hafenbereich von der Straße aus, gelangt man unmittelbar an den Kai für die Fahrgastschiffe. Von hier aus brechen die Schiffe zu den Boddenfahrten auf, doch auch Fähren legen hier an, die Prerow zu Wasser mit Born und Bodstedt verbinden. Während man ersteres noch gut auch per Straße erreichen könnte, erforderte dies für letzteres schon eine recht weite Umfahrung des Bodstedter Boddens. Auf der dem Kai gegenüberliegenden Seite des Stroms ist dessen Ufer dicht mit Schilf bestanden. Dort stehen drei alte Holzhäuser mit charakteristischen Reetdächern, in deren Rücken die Straße vorüberführt. Den ihnen beigegebenen Stegen mit den daran vertäuten Ruderbooten nach zu urteilen, sind diese kleinen Fischerhütten heute noch in Benutzung.

Fischerhütte am Prerower Hafen
Eine der drei am Prerower Hafen gelegenen alten Fischerhütten.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Das Ende des Kais bedeutet jedoch nicht das Ende des Hafens, wie ich feststellen kann, als ich dort angekommen bin. Vor mir sehe ich nun die ausgedehnte Wasserfläche des Stroms, der, so liest man häufiger, hier am Hafen endet. Tatsächlich stimmt das, wie ich bereits weiß, nur zum Teil, war doch der Prerower Strom einst mit der Ostsee verbunden und wurde erst nach der großen Sturmflut des Jahres 1872 von dieser getrennt. Reste des Stroms sind allerdings auch heute noch jenseits der am Hafen vorüberführenden Straße vorhanden, wo sie wie kleine, aneinandergereihte Seen wirken. Die beiden Gewässer links und rechts des Hauptübergangs, die das Zentrum des Ortes vom Dünenwald trennen, gehören dazu.

Die vor mir liegende Wasserfläche wird zu beiden Seiten von schilfbewachsenen Ufern eingefaßt, von deren rechtem – dasjenige, an dem ich mich befinde – drei große Stege bis fast zur Mitte des Stroms hinausragen, die von jeder Menge Pfählen gesäumt werden. Sie markieren die fast sechzig Liegeplätze für jede erdenkliche Art von Booten. Jetzt in der Vorsaison ist jedoch noch kein einziger belegt, was mir einen ungehinderten Blick auf die Landschaft rings um den Strom gewährt. Nur ganz hinten, nahe dem Horizont, zieht ein Schiff einsam seine Bahn den Strom entlang. Es ist eben jenes, das seine Fahrt begonnen hatte, als ich am Hafen eintraf.

Am Prerower Hafen
Pfähle und Stege, doch keine Boote – der Prerower Hafen im April.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich wandere ein Stück den vom Kai wegführenden Uferweg entlang, der mich hinter dem Schilf zu den Stegen bringt. Dabei entdecke ich eine hier aufgestellte große Informationstafel, die sich vornehmlich an die Wassersportler und -wanderer richtet, denen sie Verhaltensregeln und Hinweise für die Befahrung der Boddengewässer vermittelt. Für mich ist sie jedoch trotzdem interessant, da sie auch eine Karte der gesamten Boddenlandschaft des hiesigen Nationalparks zeigt und die einzelnen Gewässer, die bis hinüber zur Insel Rügen reichen, näher beschreibt. So erfahre ich beispielsweise, daß die Fischland, Darß und Zingst vom Festland trennenden Wasser von insgesamt vier verschiedenen Bodden gebildet werden. Ganz am Ende der Kette liegt der Saaler Bodden, an dessen südlicher Spitze sich die Stadt Ribnitz-Damgarten befindet. Mit seinen ausgedehnten Sandbänken bietet er wichtige Nahrungsgründe für viele Arten von Entenvögeln. Brandgänse, Löffelenten und Krickenten sind nur einige der Artenbezeichnungen, die ich noch nie zuvor gehört habe.

Auf den Saaler Bodden folgt, mit ihm durch den sogenannten Koppelstrom verbunden, der Bodstedter Bodden, der das Ziel meiner heutigen Fahrt sein soll. Die Tafel verrät mir, was ich zu sehen bekommen werde: Bülten und Haken. Und bevor ich beginnen muß zu rätseln, was das wohl sein möge, wird es mir auch erklärt. Bülten sind Inseln, Haken Halbinseln. Beide sind sie flach, bestehen aus Torf und säumen die Randbereiche des Boddens. Hier haben sie Salzgras und Brackwasserröhricht die Möglichkeit geboten, sich im Übergangsbereich vom Land zum Wasser anzusiedeln, so daß sich Moore gebildet haben, die teilweise schon recht alt sind – ein einzigartiger Lebensraum, in dem eine Vielzahl verschiedener Arten Wasservögel seine Brutgebiete gefunden hat.

Der Bodstedter Bodden hatte einst eine direkte Verbindung zur Ostsee – den Prerower Strom. Über die Meerenge Meiningen gelangt man vom Bodstedter Bodden in den Zingster Strom und zum östlich gelegenen Barther Bodden. Dieser ist vergleichsweise flach und reich an Fischen, was sowohl Wasservögeln als auch Menschen eine gute Lebensgrundlage gewährt. So ist es kein Wunder, daß die beiden Boddeninseln Kirr und Barther Oie sich zu regelrechten Vogelbrutgebieten entwickelt haben. Über sechzig verschiedene Arten sollen es sein, die hier nisten. Darüberhinaus dient dieses Gebiet Kranichen auf ihren Zügen als Rastplatz. Besonders im Herbst, wenn sie mit ihren Nachkommen unterwegs sind, halten sich die Kraniche hier länger auf und können zu dieser Zeit sehr gut beobachtet werden.

Die Kavelnrinne führt vom Barther Bodden in den Grabow, der sich noch weiter im Osten befindet und das einzige dieser flachen Gewässer ist, das auf den Begriff Bodden in seinem Namen verzichtet. Vielleicht liegt der Grund darin, das er der Ostsee am nächsten gelegen ist und so den Übergang zu ihr bildet. Dieser wird von zwei größeren Inseln, dem Großen und dem Kleinen Werder, versperrt, die den Kranichen auf ihrem Herbstzug als Rastplatz dienen. Zehntausende dieser Vögel übernachten dann hier, die es zu würdigen wissen, daß sie auf diesen Inseln vor dem Zugriff von Füchsen sicher sind. Der Grabow ist mit vier Metern in seinem Zentrum recht tief, seine Randbereiche weisen allerdings ausgedehnte Areale auf, in denen das Wasser recht flach ist. Sie wurden von Salzwasserfischen wie dem Hering zu ihrem Laichgebiet erkoren. Wegen des geringen Salzgehalts der Boddengewässer haben jedoch auch Süßwasserfische wie Hechte und Zander hier Räume für ihre Fortpflanzung gefunden.

Zur Boddenlandschaft im Nationalpark gehören der Tafel zufolge auch der Wieker und der Kubitzer Bodden, die sich jedoch schon im Einzugsgebiet der Insel Rügen befinden und somit nicht mehr Teil der Fischland, Darß und Zingst vom Festland trennenden Wasserlandschaft sind.

Hafen und Alter Bahnhof Prerow
Ein Bahnhof und ein Hafen einträchtig nebeneinander.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich spaziere weiter am Ufer entlang, inspiziere die Stege des Hafens aus nächster Nähe und stoße auf ein kleines Häuschen, in dem die Besitzer der im Hafen anlandenden Schiffe solch wichtige Einrichtungen wie ein WC, eine Dusche oder eine Waschmaschine finden können. Zu dieser Zeit des Jahres scheint es allerdings geschlossen zu sein, was aber nicht weiter schlimm ist, denn es liegt ja auch kein Boot im Hafen vor Anker. Über das Schilf hinweg kann ich zur anderen Seite des Stroms blicken, wo ich nun das Gebäude des alten Prerower Bahnhofs mit seiner Bahnsteigseite direkt vor mir habe. Ich stelle mir die rauchende und fauchende Dampflok an der Spitze eines Zuges vor, wie sie dort mit den hinter ihr aufgereihten Waggons am Bahnsteig steht und ungeduldig darauf wartet, daß es endlich losgeht. Vielleicht ist es ja in nicht allzu ferner Zukunft wieder soweit. Nur eine Dampflokomotive wird es dann wohl nicht mehr sein, die die Waggons hinter sich herzieht…

Als der Weg an einem geschlossenen Bootsverleih schließlich endet, wende ich mich landeinwärts, wo hinter einer Wiese ein vergleichsweise niedriger Deich verläuft, hinter dem sich ein paar Häuser befinden. Es ist dies der einzige östlich der Landstraße, die die Orte von Fischland, Darß und Zingst verbindet, gelegene Ortsteil Prerows, der den schönen Namen Krabbenort trägt. Wie mir scheint, besteht er vornehmlich aus Einfamilien- und Ferienhäusern.

Ein Blick auf die Uhr belehrt mich, daß ich mich nun besser auf den Rückweg machen sollte, will ich die Abfahrt nicht verpassen. So wandere ich den schmalen Pfad auf der Deichkrone entlang zurück zum Kai. Dort angekommen, stelle ich fest, daß der Zugangssteg zum Dampfer bereits ausgelegt ist. So zögere ich nicht länger, gehe hinüber und betrete das Schiff.

Gleich am Eingang steht ein Mann neben einem Tisch, auf dem er eine kleine Kiste stehen hat, die sehr an das Aufbewahrungsbehältnis erinnert, das in Piratenfilmen gewöhnlich für Schätze verwendet wird. Sollte ich mich über dieses Utensil gewundert haben, wird mir sein Zweck sofort klargemacht, denn um weiter in das Schiffsinnere vordringen zu dürfen, muß ich erst einmal den Fahrpreis entrichten. Das von mir dafür übergebene Geld landet – wie sollte es auch anders sein – unverzüglich in der Schatzkiste. Dafür erhalte ich ein kleines Stück Papier, dessen Besitz es mir gestattet, mich frei auf dem Schiff zu bewegen. Das nutze ich auch gleich weidlich aus, um die nächstgelegene Treppe aufzusuchen und ins obere Deck hinaufzusteigen. Dort gibt es im Heckbereich einige Bänke, doch halte ich mich nicht weiter auf, denn mein Ziel liegt noch eine Etage höher. Eine weitere Treppe bringt mich hinauf. Auf dem obersten Deck angekommen, schaue ich mich um. Zwei Reihen Tische und Bänke, aufgereiht an den die Längsseiten des Decks begrenzenden Geländern, dazwischen ein langer schmaler Gang – das ist alles. Das hintere Ende bildet die Treppe, am vorderen ragen die beiden großen Schornsteine mit ihren Zackenkronen in die Höhe. Zwischen ihnen spannt sich ein bogenförmiges Schild, dessen roter Grund blaue, weiß umrandete, in Westernschrift gehaltene Buchstaben zeigt, die den Namen des Schiffes verkünden: Baltic Star. Darüber prangt in der Mitte das Logo der diesen Ostsee-Stern betreibenden Reederei Poschke, eine an einen schwarzen Stab geknüpfte blaue Flagge mit vier weißen Sternen in jeder Ecke und einem in der derselben Farbe gehaltenen Anker in der Mitte, über dem die ebenfalls weißen Buchstaben R und P zu sehen sind. Von den Schornsteinen bis zum hinteren Ende des Decks hat man entlang dessen Längsseiten jeweils eine Kette gespannt, die aus Glühlampen besteht, zwischen denen blaue und weiße Wimpel fröhlich im Winde flattern.

An Bord der "Baltic Star"
Ostsee-Stern würde nicht so gut zu einem Schaufelraddampfer im amerikanischen Stile passen. Viel zu profan. Baltic Star muß es heißen!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die Tische sind nahezu alle noch leer. Nur ganz vorn hat sich bereits ein Pärchen plaziert, das jedoch völlig mit sich selbst beschäftigt ist und mich gar nicht beachtet. Ich suche mir einen Tisch auf der linken Seite und zwänge mich auf eine der beiden Bänke, die man, um möglichst viele Plätze auf dem Deck unterbringen zu können, recht nah am Tisch positioniert hat. Glücklicherweise bin ich schlank genug, um ohne größere Probleme dorthin zu passen. Ich lege meinen Rucksack auf die Bank neben mich, lehne mich zurück und harre der Dinge, die da kommen mögen.

Das sind zunächst ein paar weitere Leute. Nach und nach treffen sie ein, suchen sich einen Platz und setzen sich. Trotz der Vorsaison sind es doch schon ansehnlich viele, auch wenn das Schiff noch weit entfernt davon ist, mit Fahrgästen gefüllt zu sein. Ich beachte sie jedoch nicht weiter, denn ich bin damit beschäftigt, mir von hier oben die Gegend anzusehen und die Sonne zu genießen, die ihre wärmenden Strahlen zu uns herunterschickt. Es ist so warm, daß ich die Jacke ablegen kann.

Minute um Minute vergeht, die Abfahrtszeit rückt näher und näher – und ist schließlich vorüber. Auch auf meinem Schiff hat man es offensichtlich nicht sonderlich eilig. Mich stört das allerdings wenig, denn mir geht es nicht anders. Gute zehn Minuten später ist es dann endlich soweit. Die Maschinen werden angeworfen, was eine Welle der Erschütterung durch den Schiffskörper schickt, die bis hier oben hin zu spüren ist und mir einen wohligen Schauer der Erwartung durch den Körper laufen läßt. Ich kann förmlich spüren, wie sich das am Heck befindliche Schaufelrad in Bewegung setzt und das Wasser aufwühlt. Langsam entsteht wieder eine Lücke zwischen Schiff und Kai, die größer und größer wird, und als unser Dampfer genug Abstand zwischen sich und das Ufer gebracht hat, nimmt er schließlich Fahrt auf und steuert den vom Hafen wegführenden Strom an. Wir sind unterwegs.

Zunächst geht es in einem Bogen ein Stück in Richtung Norden. Links ziehen Wiesen vorüber, auf denen sich einige Graugänse tummeln. Dahinter liegt der alte Bahnhof. Gerade als wir ihn passiert haben, gewahre ich neben uns eine weitere Wasserfläche, die sich ein Stück voraus mit dem Strom, auf dem wir unterwegs sind, vereinigt. Freundlicherweise erhalten wir Fahrgäste vom Schiffsführer über die Lautsprecheranlage Erklärungen zu dem, was wir an den beiden Ufern zu sehen bekommen. Aus diesen überaus unterhaltsam vorgetragenen Informationen erfahre ich, daß ich den alten Bootshafen vor mir sehe. Da dieser mit der Zeit zu klein geworden war, hat man vor einiger Zeit den neuen errichtet, an dessen Ufer ich vorhin entlangspaziert war.

Wir haben die erste große Kurve unserer Fahrt nahezu vollendet und sehen vor uns eine bewaldete Erhebung, einen Hügel, der angesichts des hiesigen sonst sehr flachen Landes ausgesprochen hoch wirkt. Es handelt sich um die Hohe Düne. Die auffällige Höhe wirkt, wenn man sie mit einer Zahl benennt, gar nicht mehr so beeindruckend, sind es doch gerade einmal dreizehn Meter, die sie mißt. Und doch, verglichen mit der Umgebung hat die Hohe Düne ihren Namen redlich verdient. Und tatsächlich handelt es sich um eine Ausformung der dem Ostseestrand vorgelagerten Sanddünen.

Wir sind jetzt wirklich genau in Richtung Norden unterwegs, und angesichts der sich nähernden Dünen könnte man tatsächlich meinen, wir wollten auf direktem Wege in die Ostsee fahren. Doch der Prerower Strom nähert sich ihr hier nur an und beschert so der einstigen Insel und heutigen Halbinsel Zingst ihre schmalste Stelle, an der das Land zwischen Strom und Ostsee gerade einmal einhundert Meter breit ist.

Der Prerower Strom beschreibt nun einen weiten Bogen, zuerst in Richtung Osten und dann zurück nach Süden, bis wir wieder auf der Höhe des Prerower Hafens angekommen sind. Nun geht es, sieht man einmal von gelegentlichen Schlenkern ab, ununterbrochen in südöstlicher Richtung gen Bodden.

Die Fahrt verläuft ruhig und lädt dazu ein, sich zurückzulehnen und einfach nur nach links und rechts über das weite Land zu schauen. Allerdings ist es, seit wir unterwegs sind, nun nicht mehr so warm wie noch im Hafen. Obwohl unser Schiff gewiß nicht mit rasender Geschwindigkeit unterwegs ist, macht sich der Wind deutlicher bemerkbar. Das mag auch daran liegen, daß wir nun nicht mehr Häuser neben uns haben, die ihn bremsen könnten, sondern sich zu beiden Seiten des Stroms unbebautes Land erstreckt, das ihm kaum einmal ein Hindernis entgegenstellt. Schnell wird es, da ich mich selbstredend kaum bewege, kühl, ein Umstand, dem ich jedoch mit dem Wiederanziehen meiner zuvor abgelegten Jacke abhelfen kann.

Die Landschaft um mich herum ist wunderschön. Links zieht das Ufer der Halbinsel Zingst an mir vorüber. Es wird nahezu ununterbrochen von einem breiten Schilfstreifen gesäumt, hinter dem uns ein kleiner Deich begleitet, der jede Biegung des Stroms nachvollzieht. Vereinzelt ragen einige Bäume auf, die jetzt im April noch keine Blätter hervorgebracht haben und daher schwarz und kahl in die Luft ragen; ein deutliches Zeichen der noch anhaltenden Winterruhe. Hinter dem Deich dehnen sich weite Wiesen und Felder, die von Waldstreifen begrenzt und immer wieder von Prielen und Fließen durchzogen werden. Einige davon mögen natürlichen Ursprungs sein, viele jedoch hat man im Laufe der Jahrhunderte künstlich angelegt. Dafür spricht allein schon ihr teils sehr regelmäßiger Verlauf. Soweit ich das erkennen kann, sind viele dieser Gräben beeindruckend parallel zueinander angelegt. Weil jetzt, im beginnenden April, der Frühling zwar schon angebrochen ist, aber sein wiederbelebendes Werk in der Natur noch nicht so recht begonnen hat, sind die vorherrschenden Farbtöne alle mehr oder minder Schattierungen von Braun, sieht man einmal von den Wasserflächen ab. Der Schönheit der Landschaft tut das jedoch keinen Abbruch.

Auf dem Prerower Strom
Ein wenig rauh, urwüchsig und doch wunderschön – das Land am Prerower Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auf der rechten Uferseite, die zum Darß gehört, sieht es ganz ähnlich aus. Da hier jedoch der begrenzende Wald fehlt, reicht der Blick beeindruckend weit in die Ferne. Dort ist hinter dem Land eine große Wasserfläche zu sehen – der Bodstedter Bodden, das Ziel unserer Fahrt. Auch hier sind immer wieder Gräben zu erkennen, die teils wie mit dem Lineal gezogen wirken. Und da ich mich hier auf dem zweiten Oberdeck doch beträchtlich weit über dem Bodenniveau befinde, kann ich bei einem Blick voraus bereits weitere Schleifen des Stroms, auf dem wir unterwegs sind, ausmachen. Über all dem wölbt sich ein strahlend blauer Himmel,  der hier und da mit weißen Wölkchen getupft ist und an dem die Sonne hell leuchtet. Ihre Strahlen spiegeln sich in der vom Wind gekräuselten Oberfläche des Stroms, die sie zum Glitzern bringen. Und die Wasserfläche des noch weit entfernten Boddens gleißt und blitzt, als bestünde sie aus flüssigem Silber. Die Luft ist ausgesprochen klar, was ein ausgesprochenes Glück ist, weil sich daraus eine überaus gute Fernsicht ergibt. Bis zum Horizont sind jegliche Konturen von Landschaft, Gewässern und auch Ortschaften gestochen scharf umrissen.

Gerade durchmessen wir eine weitere Schleife des Stroms, da teilt uns der Kapitän unseres Schiffes mit, daß wir auf der linken, der Zingster Seite nun an der Hertesburg vorüberfahren. Es war dies im Mittelalter eine burgähnliche Befestigungsanlage, die die Rügenfürsten hier hatten errichten lassen, um das Gebiet und insbesondere den Prerower Strom als Zugang von den Boddengewässern zur Ostsee militärisch kontrollieren zu können. Natürlich war Geld die maßgebliche Motivation, denn hier wurden Zölle erhoben. Die Hertesburg diente den Rügenfürsten auch als Jagdschloß und Vogteisitz. Später übernahmen sie die pommerschen Herzöge. Die Anfänge der Anlage reichen bis in das späte 13. Jahrhundert zurück. Auf einem Hügel gelegen, besaß sie einen Durchmesser von etwa dreißig Metern. Ihre Befestigungen sollen etwa zwei Meter hoch gewesen sein. Davor lag ein sechzehn Meter breiter Ringgraben, auf den ein Wall folgte. Weitere Schutzwälle schlossen sich an. Natürlich gab es auch einen Turm. Im sechzehnten Jahrhundert sollen seine Mauern sagenhafte drei Meter dick gewesen sein. Der Sage zufolge soll der Seeräuber Klaus Störtebeker hier mit seinen Gefährten einen Unterschlupf besessen haben. Das wird allerdings von vielen Orten an der Ostsee behauptet, so daß es fraglich ist, ob es wirklich stimmt. Daß hier allerdings Seeräuber ihr Unwesen trieben, gilt als sicher. Kriege haben der Anlage zugesetzt. Im sogenannten Rügenschen Erbfolgekrieg belagerten mecklenburgische Truppen sie gleich mehrfach, bis ihnen schließlich die Einnahme gelang. Der Dreißigjährige Krieg bedeutete schließlich das Ende der Burg. Danach waren ihre über der Erde gelegenen Bauten weitestgehend verschwunden. Nur der Wall und der Graben blieben übrig. Da der Hügel, auf dem sich die Burg einst befand, heute weitgehend mit Bäumen bewachsen ist, läßt sich außer diesen vom Schiff aus nichts erkennen. Lediglich eine hölzerne Kapelle mit Reetdach, errichtet im Jahre 1927, steht heute noch auf dem Gelände, ist aber von hier aus natürlich ebenfalls nicht zu sehen.

Wir lassen die Hertesburg links liegen und fahren weiter. Rechts von uns zieht etwas abseits vom Prerower Strom ein kleines Gewässer vorüber. Es wirkt auf mich ein wenig wie das Überbleibsel der letzten größeren Überschwemmung oder der Rest vom letzten Starkregen. Damit liege ich falsch, denn die übergroße Pfütze, wie ich sie in Gedanken etwas despektierlich nenne, hat sogar einen Namen: Lychensee. Viel mehr läßt sich über ihn allerdings nicht sagen. Die in dieser Gegend heimischen Wasservögel finden ihn und seine unmittelbare Umgebung jedoch durchaus ansprechend, wie mir scheint, denn zwischen ihm und dem Strom, auf dem wir unterwegs sind, tummelt sich eine erheblich Anzahl Graugänse.

Bereits eine Weile schon ist mir, wenn ich in Richtung des Bodstedter Boddens blicke, am Himmel ein dort kreisender Schwarm aufgefallen. Aus der großen Entfernung war allerdings bis dato nicht zu erkennen gewesen, um welche Tiere es sich dabei handeln könnte. Zwar spricht in dieser Gegend einiges dafür, daß wir es sicher mit Vögeln zu tun haben würden und nicht etwa mit Heuschrecken, doch welcher Art diese Vögel sind, hatte ich bisher nicht feststellen können. Nun allerdings, da wir uns dem Bodden immer weiter genähert hatten, beschließen die den Schwarm bildenden Tiere offenbar, sich einmal genauer anzusehen, was sich denn da auf dem Strom für ein merkwürdiges Etwas nähert, und kommen zu uns herübergeflogen.

Vogelschwarm über dem Prerower Strom
Ausschwärmen!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Leider behalten sie dabei ihre relativ große Flughöhe bei, so daß es mir trotzdem verwehrt bleibt, sie zu identifizieren. Einem Ornithologen mag es möglicherweise anhand der Silhouette der Flügel oder mittels des Flugbildes ohne weiteres gelingen, das zu bewerkstelligen, mir jedoch fehlt dazu dann doch das erforderliche Fachwissen. So begnüge ich mich damit, den Schwarm eine Weile zu beobachten. Es ist bewundernswert zu sehen, wie sich in dem anfangs recht chaotisch wirkenden Gebilde bei aller Bewegung doch eine gewisse Ordnung bemerkbar macht. Kein Vogel kreuzt unbeabsichtigt eines anderen Flugbahn, und alle orientieren sie sich aneinander und fliegen letztendlich trotz gelegentlicher Abweichungen und einer steten Veränderung der Gestalt des Schwarms in die gleiche Richtung.

Der Kapitän nimmt dies zum Anlaß, seinen Passagieren ein wenig über die hiesige Vogelwelt zu erzählen. Ich kann mir die vielen verschiedenen Arten, die er im Laufe seiner Ausführungen aufzählt, so schnell gar nicht alle merken. Allerdings bleibt mir zumindest eine im Gedächtnis, da wir das große Glück haben, einen ihrer Vertreter kurz darauf unmittelbar über unserem Schiff beobachten zu können: einen Seeadler. Und obwohl auch er in großer Höhe fliegt, bin ich von seinen mächtigen Flügeln, mit denen er mühelos eine Spannweite von mehr als zwei Metern erreicht, angemessen beeindruckt.

Seeadler über dem Prerower Strom
Himmel mit Seeadler.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Kaum habe ich schließlich meinen Blick wieder vom Himmel ab- und der Erde um mich herum zugewandt, werden wir von unserem wachsamen Kapitän, der nicht nur den Strom und die Fahrrinne, sondern auch die Umgebung stets im Auge behält, um uns auf Interessantes hinweisen zu können, darauf aufmerksam gemacht, daß es sich lohne, einmal nach links auf die sich dort dehnenden Wiesen zu schauen. Ich folge seiner Aufforderung und – entdecke zunächst nichts. Angestrengt suche ich das Ufer ab, kann jedoch weiterhin nichts ausmachen, was der eingehenderen Beobachtung lohnt. Erst als ich mich erinnere, daß ich ja nicht auf den Rand des Stroms, sondern auf die dahinterliegenden Wiesen schauen sollte, werde ich gewahr, was es dort zu sehen gibt: einen Kranich! Seelenruhig und völlig unbeeindruckt von uns und unserem stampfenden Schiff stolziert er mit seinen langen, staksigen Beinen auf dem Feld herum. Sein Gefieder, dessen Färbung von tiefem Schwarz am Schwanz über dunkleres und helleres Grau am Körper bis zu strahlendem Weiß am Hals reicht, hebt sich in scharfem Kontrast von dem Grün-Braun der noch nicht so recht wieder zu neuem Leben erwachten Felder ab. Ein kleines Weilchen bewegt er sich in die gleiche Richtung wie wir. Ob es ihm schließlich zu bunt wird, von so vielen Leuten angestarrt zu werden, oder ob er voraus irgendetwas ihn Interessierendes entdeckt hat, ist für mich nicht recht erkennbar, als er plötzlich beginnt, in schnellem Tempo loszurennen, um sich kurz darauf, mit den Flügeln schlagend, in die Luft zu erheben und in niedriger Höhe über dem Feld davonzufliegen. Es dauert nicht lange, da ist er meinen Blicken entschwunden.

Kranich am Prerower Strom
Feld mit Kranich.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Der Prerower Strom, der seit seiner letzten Schleife ein ganzes Stück mehr oder weniger stur geradeaus geführt hat, legt sich nun in eine große S-Schleife, deren beide Bögen fast perfekte 180-Grad-Wenden vollführen. Mit dem Ende des ersten Bogens haben wir dabei das Mündungsgebiet des Stroms in den Bodstedter Bodden erreicht, das die Form eines Deltas mit mehreren kleinen Inseln angenommen hat, die als Schmidtbülten bezeichnet werden. Als die Verbindung zur Ostsee noch bestand, strömte bei starken, vom Meer zum Land wehenden Winden Wasser durch den Strom, das viele Sedimente mit sich führte, die hier abgelagert wurden und im Laufe der Zeiten die Inseln aufschütteten. Mit der Trennung des Prerower Stroms von der Ostsee ist dieser Prozeß allerdings vollständig zum Erliegen gekommen.

Die kleinen Inseln mit ihren reichhaltig mit Schilf bewachsenen Ufern bilden für die zahlreichen hier ansässigen Wasservögel den idealen Lebensraum, was ich sozusagen mit eigenen Augen wahrnehmen kann, denn nirgends sonst habe ich zuvor derart viele Schwäne, Enten, Möwen, Bleßhühner und andere Arten des gefiederten Volkes versammelt gesehen. Sie schwimmen munter in den verschiedenen Seitenarmen, die der Strom hier ausgebildet hat, herum, haben aber offenbar gelernt, den Hauptarm, in dem Schiffe wie unseres verkehren, zu meiden.

Vielfach scheinen die kleinen Inselchen kaum einen Zentimeter über die Wasseroberfläche hinauszuragen, was dort, wo das Schilf einzelne Abschnitte ihrer Ufer einmal freigibt, dazu führt, daß es so aussieht, als würden sie nahtlos ins Wasser übergehen. Auf keinem dieser Eilande findet sich auch nur ein einziger Baum oder Busch. Lediglich Gräser haben sich hier angesiedelt.

Mündung des Prerower Stroms in den Bodstedter Bodden
Inseln unter der Sonne – die Schmidtbülten.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Als wir die Schmidtbülten schließlich passiert und den Prerower Strom damit hinter uns gelassen haben, setzen wir unsere Fahrt auf den Wassern des Bodstedter Boddens fort. Nun, da die Ufer weiter und weiter zurücktreten und wir uns auf der weiten Fläche des großen Gewässers befinden, zieht der Wind tüchtig an und zaust mich kräftig an den Haaren. Obwohl ich fest davon überzeugt bin, daß sich die Temperatur überhaupt nicht wesentlich verändert, fühlt es sich innerhalb weniger Augenblicke so an, als sei es plötzlich empfindlich kühler geworden. Zwar friere ich nicht, da meine Jacke warm genug ist, doch wird es mir angesichts des nun ununterbrochen um meine Ohren wehenden Windes hier auf dem Oberdeck zu ungemütlich, und so gebe ich den Platz an meinem Tisch auf, steige die Treppe zum tiefer liegenden Zwischendeck hinab und stelle mich dort an die Reling. So kann ich immer noch die Aussicht rings um das Schiff genießen und bewundern, bin den Luftströmungen aufgrund der Aufbauten des Schiffes aber nicht mehr so unmittelbar ausgesetzt wie zuvor.

Während ich versuche, dem Wind wenigstens etwas zu entgehen, sind die Möwen hier in ihrem Element. Begeistert schwingen sie sich in die Lüfte und stürzen sich in die Böen. Und da sie sehr daran interessiert sind, was wir wagemutigen Menschlein auf unserem kastenartigen Ungetüm hier in ihrem Revier wohl so treiben mögen, begleiten sie uns mit ausgebreiteten Schwingen ein Stück, was mir die Gelegenheit gibt, sie in ihrem Fluge zu beobachten. Hin und wieder stoßen sie ihre charakteristischen Schreie aus, als wollten sie sich gegenseitig auf irgendetwas Sehenswertes im Zusammenhang mit uns und unserem Schiff hinweisen. Oder sie haben im Wasser einen Fisch entdeckt, den zu verfolgen und zu fangen sich lohnen mag. Jedenfalls wenden sie sich, nachdem sie uns eine Weile gefolgt sind, wieder ab und anderen Dingen zu.

Ich schaue über die glitzernde Wasserfläche des Boddens, die mir etwas aufgewühlter als die des Stroms erscheint, auf der jedoch trotzdem keine wirklichen Wellen zu sehen sind. So stark ist der Wind dann doch nicht. So zieht auch das kleine Boot mit den roten Segeln, das in einiger Entfernung vorüberfährt, ruhig und gelassen seine Bahn.

Als sich mein Blick auf die im Süden gelegenen Ufer des Boddens richtet, bemerke ich etwas weiter östlich und ein ganzes Stück landeinwärts gelegen die Silhouette einer großen Kirche. Gerade, als ich mich frage, ob in dieser Richtung wohl Barth liegen mag, meldet sich unser Kapitän wieder über die Lautsprecheranlage zu Wort und gibt mir die Bestätigung. Ja, das was ich da vor mir sehe, ist der Umriß der Barther Sankt-Marien-Kirche. Etwa um 1250 herum hatte man mit ihrem Bau begonnen, der dann etwa zweihundert Jahre später mit der Fertigstellung des Turmes abgeschlossen war. Mit seiner beindruckenden Höhe von 86 Metern ist er, wie ich mich selbst überzeugen kann, derart weit in der Umgebung sichtbar, daß er einen idealen Orientierungspunkt sogar für die auf der Ostsee fahrenden Schiffe abgibt. So diente er denn lange Zeit auch als solcher. Und auch, wenn er heute angesichts moderner Navigationstechnik nicht mehr die Bedeutung von einst besitzt, gilt er doch bis zum heutigen Tag immer noch als Seezeichen.

Auf dem Bodstedter Bodden
Seezeichen oder Kirchturm? Beides! – Die Sankt-Marien-Kirche in Barth.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Während ich die entfernte Kirche beziehungsweise ihre Silhouette bewundere, bemerke ich nicht sofort, daß sich das Schiff in eine weite Kurve gelegt hat und nun auf das östliche Ufer des Boddens zuhält. Interessiert, was es denn dort wohl zu sehen gibt oder ob wir einfach nur eine Wende vollführen, gehe ich ein Stück die Reling entlang nach vorn. Als ich die voraus gelegene Aussicht vor Augen habe, stelle ich fest, daß wir auf eine Fahrrinne zuhalten, die sich dort auftut und in das Land hineinführt. Weit kann ich allerdings nicht in sie hineinsehen, da mein Blick von einem großen, sie überspannenden metallenen Ungetüm aufgehalten wird. Und wieder meldet sich der Kapitän des Schiffes gerade rechtzeitig mit weiteren Erklärungen zurück.

Was ich dort vor mir sehe, erfahre ich aus seinem Vortrag, ist die Meiningenbrücke, die über die gleichnamige Meerenge führt. Über jene, das weiß ich bereits von der Informationstafel, die ich am Prerower Hafen studiert hatte, gelangt man vom Bodstedter Bodden in den Zingster Strom und den Barther Bodden hinüber. Unsere Fahrt, so erklärt der Kapitän zu meinem Bedauern, wird dort allerdings nicht hinführen, sondern wir werden hier umkehren und die Heimfahrt antreten. Doch zuvor gibt es noch einiges Interessantes zu erzählen, was unser Schiffsführer auch ausgiebig tut. So weiß ich nun, daß die Brücke die Halbinsel Zingst mit dem Festland verbindet. 1908 hat man mit ihrem Bau begonnen, da man für die zu dieser Zeit errichtete Darßbahn an dieser Stelle einen Übergang schaffen mußte. Bereits zwei Jahre später konnte man die Brücke einweihen, auch wenn man für die endgültige Fertigstellung noch zwei weitere Jahre brauchte. Von solchen Bauzeiten können wir trotz bedeutend weiterentwickelter Bautechnik merkwürdigerweise im heutigen Deutschland nur träumen, das für den Bau einer Brücke gerne auch einmal zehn Jahre benötigt[1]Zehn Jahre für den Bau einer Brücke! Was unglaublich klingt, ist leider Realität, wie die in diesem Jahr (2023) fertiggestellte Schiersteiner Straßenbrücke beweist..  Aufgrund des die Meerenge umgebenden flachen Landes war es allerdings nicht möglich, eine Brücke zu errichten, die hoch genug wäre, um Schiffe unter ihr passieren zu lassen. Da die Passage zwischen den verschiedenen Boddengewässern jedoch nicht blockiert werden durfte, hatte man sich dafür entschieden, einen Teil als Drehbrücke zu gestalten.

Mit dem Ende der Darßbahn kam schließlich auch das Ende der Meiningenbrücke als Eisenbahnüberführung. Sie wurde daher zur Straßenbrücke umfunktioniert. Da sie jedoch sehr schmal ist und wegen ihrer massiven Metallkonstruktion auch nicht verbreitert werden konnte, war es lediglich möglich, den Verkehr über sie in eine einzige Richtung fließen zu lassen, so daß sich die verschiedenen Fahrtrichtungen abwechseln mußten. Weil das aber mit der wieder zunehmenden Beliebtheit von Darß und Zingst als Urlaubsziel und dem damit verbundenen Anstieg des Verkehrs mehr und mehr zum Problem wurde, entschloß man sich im Jahre 1980, neben der Meiningenbrücke eine Behelfsbrücke zu errichten, die der anderen Fahrtrichtung diente. Lange Jahre bestand diese lediglich aus einer Pontonbrücke, die man ausschließlich im Sommer benutzen konnte, weil sie in jedem Winter außer Betrieb gesetzt wurde. An diesen schwimmenden Übergang kann ich mich noch sehr gut erinnern. Wenn wir in jedem Jahr mit unserem Auto – einem kleinen Trabant 601 S – nach Prerow in den Urlaub fuhren, gehörte ein Besuch im nicht allzu weit entfernten Barth eigentlich immer dazu. Die Fahrt dorthin und wieder zurück ist mir bis heute unvergeßlich. Auf der Hinfahrt ging es immer über die Pontonbrücke, was mir stets ein gewisses Ruseln im Bauch bescherte. Was, wenn die schwimmende Fahrbahn unter unserem Gewicht und dem der anderen Autos plötzlich im Wasser versank? Das regelmäßige Rumpeln, wenn wir über die Fugen der einzelnen Brückensegmente fuhren, machte die Sache nicht angenehmer. Und wenn wir Pech hatten und gerade an der Brücke ankamen, wenn ein Schiff passieren wollte, dann mußten wir eine ganze Weile warten, bis wir hinüberfahren konnten, denn da die Pontonbrücke die Meerenge komplett blockierte, mußte sie erst ausgeschwommen werden, damit das Schiff hindurchfahren konnte. Bis das geschehen und die Brücke dann wieder an Ort und Stelle war, konnte schon einige Zeit vergehen. So war ich stets froh, wenn wir auf der Rückfahrt den Weg über die Meiningenbrücke nehmen konnten. Diese machte nicht nur einen bedeutend stabileren Eindruck, sondern mit ihren metallen Fachwerkträgern, die zu beiden Seiten den Blick auf die umgebende Landschaft in viele kleine Einzelbilder zerlegten, die wie ein Film am Autofenster vorbeizuziehen schienen, die Fahrt über die Meerenge zu einem überaus interessanten Ereignis.

Die Meiningenbrücke
Meiningen zwischen Festland und Zingst – keine Stadt, sondern eine Meerenge. Mit Brücke.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Dieser Zustand blieb bis 2011 erhalten. Ab 2012 konnte für den Straßenverkehr dann eine zweispurige Brücke genutzt werden, die die Meiningenbrücke endgültig vom Autoverkehr befreite. Die Schiffsdurchfahrt ermöglicht ein Klappmechanismus. Diese Brücke hatte ich auf meiner Fahrt von Barth nach Prerow am Tage meiner Ankunft passiert und dabei einen Moment der Enttäuschung erlebt, als ich feststellen mußte, daß mir das in meiner Jugend so spannende Erlebnis, die Landschaft als Film zu erleben, versagt bleiben würde. So ist auch die Drehbrücke heute nicht mehr in Betrieb. Aufgrund ihres Alters und weil die Meiningenbrücke nicht mehr für den Verkehr genutzt wird, läßt man sie heute ständig offen. Als wir mit unserem Schiff noch ein Stück in die Meerenge hinein- und auf die Brücke zu fahren, kann ich sie am linken Ufer sehen. In ihrer Mitte befindet sich an ihrem höchsten Punkt das aufgesetzte Häuschen für den einstigen Brückenwärter.

Heute will man, wie ich bereits weiß, die Darßbahn wiedererrichten, wodurch Prerow seinen Bahnanschluß zurückerhalten soll. Für die Meiningenbrücke hat man vorgesehen, sie als kombinierte Eisenbahn- und Straßenbrücke neu zu erbauen. Es bleibt allerdings zu hoffen, daß man die alte Brücke, die sich am rechten Ufer noch ein ganzes Stück ins Land hinein fortsetzt, um dort sich anschließende Sumpfgebiete zu überspannen, dennoch erhält. Zum einen dürfte sie durchaus einigen Wert als technisches Denkmal besitzen. Zum anderen, und das kann ich aus meinen eigenen Erinnerungen unmittelbar bestätigen, stellt sie für die hiesige Gegend durchaus ein Wahrzeichen dar, dessen Vernichtung sicher nicht nur ich als herben Verlust empfinden würde.

Der Kapitän hat mittlerweile nicht nur seine Ausführungen rund um die Meiningenbrücke beendet, sondern auch das Schiff gewendet, so daß wir nun zwischen den schilfbewachsenen Ufern wieder aus der Meerenge heraus- und zurück in den Bodden fahren. Wieder weht uns der Wind, der sich zuletzt eine kurze Pause gegönnt hatte, heftiger um die Ohren und ich ziehe mich wieder auf meinen Platz an der Reling in der Mitte des Schiffes zurück, wo die Aufbauten des Oberdecks ein wenig vor der Kraft des luftigen Gesellen schützen. Die Fahrt geht zurück zu der zwischen den Schmidtbülten gelegenen Mündung des Prerower Stroms. Als wir die ersten Ausläufer der kleinen Inselchen erreichen, erinnert uns der Kapitän freundlicherweise daran, den Blick auf den Schilfgürtel an Steuerbord, also zur rechten Seite unseres Schiffes, zu richten. Dort hatten wir, als wir zuvor in Richtung Bodden unterwegs gewesen waren, zwischen den dichten Halmen kurz eine Kegelrobbe gesichtet. Leider war sie erst recht spät zu entdecken gewesen, so daß wir schon fast an ihr vorbeigefahren waren, bevor wir sie richtig sehen konnten. Glücklicherweise ist unser Schiff groß und massiv genug, daß es nicht sofort kentert, als nun nahezu alle Passagiere zur Steuerbordseite stürzen, um zu schauen, ob die Robbe wohl noch im Schilf liegt. Da ich deren Vorhandensein im Schilf nicht vergessen und mich demzufolge bereits dort plaziert hatte, kann ich es nun ruhig angehen lassen und einfach nur nach dem Tier Ausschau halten, das dort entspannt am Ufer gelegen und es der Sonne erlaubt hatte, ihm den Pelz zu wärmen. Offenbar war dieser Platz derart gemütlich, daß es in der Zwischenzeit nicht in Erwägung gezogen hatte, ihn zu verlassen. So ist es uns vergönnt, es nun näher in Augenschein zu nehmen.

Kegelrobbe im Schilf am Prerower Strom
Auch Robben brauchen Entspannung… und finden sie an sonnigen Plätzchen im Schilf.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Still und ruhig liegt die Robbe im Schilf. Ob dort eine natürliche Lücke bestanden oder ob sie irgendwie die Halme niedergedrückt hatte, um sich den Liegeplatz zu schaffen, kann ich nicht so recht ausmachen. Ich bin aber sowieso mehr von ihrem niedlichen Gesicht fasziniert. Ruhig, doch interessiert blickt uns die Robbe mit ihren runden schwarzen Knopfaugen entgegen, regt jedoch keinen Muskel. Zu beiden Seiten ihrer Schnauze stehen ein paar Barthaare waagerecht ab und verleihen ihr irgendwie ein ehrwürdiges Aussehen. Der massive Körper ist von dichtem, braunem Pelz bedeckt. Ganz offensichtlich liegt das Tier auf der Seite, denn ich kann eine der Flossen erkennen, die es angewinkelt und am Körper angelegt hat. Das ausgewachsene Tier macht einen recht massiven Eindruck und ist so groß, daß sich das hintere Ende seines Leibs im Schilf verliert, so daß ich den Schwanz nicht sehen kann. Die ganze Zeit, die unsere Vorbeifahrt dauert, rührt es sich nicht und verzieht auch keine Miene. Wären nicht seine Augen, die uns unentwegt anschauen, ich fragte mich ernsthaft, ob es überhaupt noch am Leben sei. So aber habe ich keinerlei Veranlassung, daran zu zweifeln.

Kaum ist die Robbe aus unserem Blickfeld entschwunden, sind wir auch schon am Ende der kleinen Insel angekommen, deren Ufer ihr als Liegeplatz dient. Und hier an der Spitze des Eilands entdecke ich inmitten des Schilfs einen aus dessen Halmen aufgeschichteten kreisrunden Hügel, der allem Anschein nach auf dem Wasser zu schwimmen scheint. Vermutlich ruht er jedoch auf einem Fundament von abgeknickten Schilfhalmen, denn das schneeweiße Etwas, das auf ihm ruht und meine Aufmerksamkeit geweckt hatte, entpuppt sich beim Näherkommen als ausgewachsener Schwan, der es sich hier gemütlich gemacht, seinen Kopf zurückgelegt und auf das Gefieder seiner zusammengefalteten Flügel gebettet hat. Ich blicke direkt in das traute Heim eines Schwanenpaars, das sich hier, unzugänglich für jede Art von Landtier und damit insbesondere für räuberische Wesen, sein Nest gebaut hat, in dem es nun seine Jungen ausbrütet. Bald schon werden sie schlüpfen und von ihren Eltern liebevoll aufgezogen werden. Es wird eine ganze Zeit dauern, bis sie ihr anfänglich graues Gefieder gegen das strahlende Weiß erwachsener Schwäne werden tauschen können.

Schwanennest am Prerower Strom
Schwanensee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Bei dem Gedanken daran fällt mir unweigerlich Hans Christian Andersens Märchen vom häßlichen jungen Entlein ein, das als Außenseiter bei einer Schar Enten aufwächst, die es wegen seiner vermeintlichen Häßlichkeit verachten und hänseln, bis es vor ihnen in die Einsamkeit flieht. Nach einigen Abenteuern und dem Beinahe-Tod im eisigen Winter, den es nur durch die Hilfe eines Bauern übersteht, erkennt es sich eines Tages im Spiegel des Wassers als strahlend schöner Schwan. Ich habe die Geschichte schon als Kind gelesen und gemocht. Doch erst in späteren Jahren habe ich sie – auch durch eigene Erlebnisse – als Sinnbild auf die menschliche Gesellschaft begriffen, in der Außenseiter so oft von der Gemeinschaft verachtet und ausgeschlossen werden, einfach nur, weil sie auf die eine oder andere Weise anders sind. Und oft gibt es nur sehr wenige Menschen, die ihnen offen und unvoreingenommen begegnen und ihnen auf ihrem Weg helfen. Daran hat sich seit der Zeit, in der Andersen dieses Märchen schrieb, wie es scheint, nur wenig geändert.

Während ich noch meinen diesbezüglichen Gedanken nachhänge, dringt plötzlich lautes Geschnatter an mein Ohr, das, wie ich unschwer erkennen kann, nicht vom Schiff, sondern eindeutig von oben kommt. Ich hebe meinen Blick und entdecke ein Paar Graugänse, das in diesem Augenblick, die Hälse lang vorgereckt und die Flügel weit ausgebreitet und heftig schlagend, über das Schiff hinwegfliegt. Dabei stoßen die beiden Vögel unablässig schnatternde Geräusche aus – ein Verhalten, das ich in den vergangenen Tagen stets beobachtet habe, wenn ich die Gelegenheit hatte, Vögel wie diese an mir vorüberfliegen zu sehen. Und immer habe ich mich dabei gefragt, was diese Tiere wohl dazu veranlassen mag, ihre Flüge mit diesem ständigen Geschnatter zu begleiten. Ob sie sich wohl über die Richtung verständigten? War es ein Streit oder eine Unterhaltung? Wollten sie ihr Kommen ankündigen? Oder schnatterten sie einfach nur gerne? Ich weiß es nicht. Doch irgendwie mag ich diese kleinen Gesellen und finde sie witzig.

Die Fahrt zurück ist alles andere als langweilig. Normalerweise schätze ich es nicht sonderlich, wenn eine Wanderung, ein Ausflug oder gar eine Reise denselben Weg zurückführt, den ich gekommen bin. Es kommt mir dabei oftmals so vor, als würde ich Zeit verschwenden. Schließlich bin ich doch auf dem Weg, den ich dabei wiederholt nehmen muß, schon einmal unterwegs gewesen. Was soll denn daran interessant sein? Viel lieber möchte ich während der gesamten Unternehmung etwas Neues entdecken, mir Unbekanntes sehen. Jetzt jedoch, da ich den Weg, den wir nehmen, nun einmal nicht beeinflussen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dreinzufinden und das Beste daraus zu machen. Und das tue ich! Hatte ich auf der Hinfahrt meist den Erklärungen des Kapitäns gelauscht und war mit dem, worauf ich mein Augenmerk richtete, seinen Hinweisen gefolgt – warum auch hätte ich sie ignorieren sollen? -, so habe ich nun reichlich Gelegenheit, mir den jeweiligen Gegenstand meines Interesses selbst auszusuchen, denn da wir auf diesem Abschnitt des Prerower Stroms ja bereits unterwegs gewesen waren, beschränkt sich unser Schiffsführer nun im wesentlichen darauf, uns auf zu beobachtende Tiere hinzuweisen. Ich richte daher meine Aufmerksamkeit auf die zu beiden Seiten des Schiffes an uns vorüberziehende Landschaft. Und die erweist sich auf der Zingster, nun an Steuerbord gelegenen Seite oftmals als interessanter. Im Hintergrund der grüne, von Kiefern dominierte Wald, davor die noch nicht zu neuem Leben erwachten und daher vorwiegend braunen Felder, hier und da von kleinen und größeren Tümpeln durchzogen und im Vordergrund der mal mehr, mal weniger breite Schilfstreifen am Ufer – das ist gewissermaßen die Leinwand, auf der sich immer wieder wechselnde Bilder abzeichnen.

Am Prerower Strom
Toter Baum am Strom.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Das erste besteht in einem einzeln stehenden Baum, der sein Leben, wie es scheint, schon lange beendet hat. Übrig blieb davon nur das knorrige Gerippe toter Äste, die in alle Richtungen in die Gegend ragen. Anhand der sich bereits ablösenden weißen Rinde sind die Überreste unschwer als die einer Birke zu erkennen, deren Holz bereits Moos angesetzt hat. Einer der dickeren Hauptäste ist abgeknickt. Traurig hängt er zu Boden. Und obwohl klar ist, daß der Frühling noch nicht weit genug fortgeschritten ist, um die Birken bereits wieder ihr grünes Kleid überstreifen zu lassen, kann ich auf den ersten Blick erkennen, daß dieses Exemplar hier dieses nie wieder anziehen wird. Doch so ist der Kreislauf des Lebens. Und selbst im Tode noch erfüllt der alte Baum in der Natur seinen Zweck – als Lebensraum und Nahrung für die ihn zersetzenden Lebewesen, angefangen von dem auf ihm wachsenden Moos bis zu den sich meinen Blicken entziehenden Kleinstorganismen, die ganz sicher in seinem Holz Quartier bezogen haben.

Ein Stück weiter zeichnet die Natur, obwohl die Protagonisten dieselben sind, ein ganz anderes Bild. Wald, Feld, Schilf und Birken. Doch diesmal ist es nicht ein einzelner Baum, sondern es haben sich gleich mehrere am Ufer aufgereiht. Und obwohl auch sie keinerlei Blätter tragen, ist ihnen die innewohnende Lebenskraft schon von weitem anzusehen. Ihre weiße Rinde verleiht ihnen einen Schimmer, der aus der Ferne wirkt, als seien sie von Rauhreif überzogen. Es ist ein seltsamer Anblick, der mich mit seinem Kontrast beeindruckt. Das sich fröhliche wiegende Schilf mit dem sich sacht kräuselnden blauen Wasser davor, im Hintergrund das gelbbraune Feld mit dem sattgrünen Waldstreifen dahinter – und mittendrin diese wie vom Frost erstarrt wirkenden weißen Bäume, die aussehen, als hätte der Winter sie noch nicht freigeben wollen, wohl wissend, daß er es bald schon wird müssen. Die warmen Strahlen der Frühlingssonne lassen das mehr als deutlich spüren.

Am Prerower Strom
Winterbäume.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Kaum sind wir an den Birken vorüber und haben die nächste Biegung des Stroms hinter uns gelassen, malt die Natur auch schon das nächste Bild. Diesmal ist es jedoch kein Stilleben, das sich meinem Auge bietet, denn im Zentrum der Darstellung stehen drei niedliche Gesellen, die urplötzlich hinter dem dichten Schilfstreifen auftauchen, als unser Schiff sich ihnen nähert, und erschreckt in das sich anschließende Feld hineinlaufen. Doch so ganz entschieden, die Gegend am Strom zu verlassen, sind die drei Rehe, von denen die Rede ist, nicht, wie es scheint, denn schon nach wenigen Metern bleiben sie stehen, als seien sie unentschlossen, was sie nun tun sollen. Als ich genauer hinsehe, stelle ich fest, daß eines ein kleines Geweih auf dem Kopf trägt. Offensichtlich handelt es sich um einen Rehbock. Ob die drei vielleicht eine Familie sind? Oder Geschwister? Ich weiß es nicht, finde den Gedanken aber irgendwie sympathisch, so daß ich mir die drei fortan in eine solchen Beziehung zueinander vorstellen möchte.

Inzwischen hat auch unser Kapitän die drei Tiere am Ufer entdeckt und weist die Passagiere mit einer Durchsage darauf hin. Wieder stürmen alle unverzüglich auf die Steuerbordseite. Da die Rehe jedoch schnell hinter uns zurückbleiben und schließlich aus unserem Blickfeld verschwinden, verlieren die meisten Teilnehmer schon bald das Interesse an der Aussicht und zerstreuen sich wieder über das Deck. Ein Umstand, der mir sehr willkommen ist.

Ich verbringe die Zeit unserer weiteren Fahrt an der Reling, wobei ich hin und wieder einmal die Seiten wechsle, um auch einen Blick auf das andere Ufer und die dortige Landschaft werfen zu können. Ich beobachte weitere Schwäne, betrachte den Lauf des Stroms, wie er sowohl voraus als auch hinter uns liegt, schaue erneut über uns hinweg ziehenden Graugänsen hinterher und genieße einfach die Ruhe und Schönheit des Landes um mich herum. Schließlich durchmißt unser Schaufelraddampfer noch einmal den großen Bogen des Prerower Stroms, der ihn auf einhundert Meter an die hinter den Dünen liegende Ostsee heranbringt, die sich allerdings meinen Blicken entzieht. Und dann haben wir auch schon wieder den alten Bootshafen erreicht. Wir ziehen daran vorbei, der alte Bahnhof grüßt zu mir herüber, und kurze Zeit später legen wir auch schon am Kai des Prerower Hafens an. Langsam steige ich die Stufen der Treppe zum Unterdeck hinunter und begebe mich zum Ausgang, wo ich beobachten kann, wie die Leinen festgemacht werden und man den Landungssteg auslegt, über den ich, als der Weg vom Schiffspersonal schließlich freigegeben wird, das Schiff verlasse. Ein letzter Blick vom Kai zurück zum Schiff – mach’s gut, Baltic Star! – und das Land hat mich wieder.

Was nun? Der Tag ist noch relativ jung, zwei Uhr nachmittags ist noch nicht einmal erreicht. Nach der langen Zeit der Untätigkeit an Deck des Schiffes, in der ich nichts anderes zu tun hatte, als zu sitzen oder zu stehen und mir die an uns vorüberziehende Landschaft anzusehen, habe ich jetzt doch noch etwas Lust, mir ein wenig die Beine zu vertreten. Und bereits nach kurzem Überlegen habe ich auch eine Idee. Wenn ich schon einmal in dieser Gegend bin, dann kann ich mir doch die Hohe Düne und den Zingster Isthmus, also die Engstelle zwischen Prerower Strom und Ostsee, einmal aus der Nähe ansehen.

Gedacht, getan. Ich schlage den Weg entlang der Landstraße, die Prerow mit Zingst verbindet, ein und habe nach wenigen Minuten wieder den Alten Bahnhof erreicht, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet. Da ich ihn heute morgen bereits eingehend betrachtet habe und die Ankunft eines Zuges noch in weiter Ferne liegt, halte ich mich hier nicht weiter auf, sondern wandere weiter die Straße entlang. Gleich hinter dem Bahnhofsgebäude, an das sich ein kleiner Parkplatz anschließt, muß ich eine einmündende Straße überqueren, die die zweite Zufahrt zu dem mir bereits bekannten und als Kirchenort bezeichneten Teil Prerows bildet. Gleichzeitig läßt sich über sie aber auch die in Prerow ansässige Ostseeklinik erreichen, eine im Jahre 1998 hier eröffnete medizinische Rehabilitationseinrichtung, in der sowohl orthopädische als auch Atemwegs- und Hauterkrankungen behandelt werden. Ihr Haupteingang befindet sich unmittelbar am Beginn der abzweigenden Straße.

Mein Weg führt mich weiter die Landstraße entlang, verläuft hinter dem Abzweig jedoch erfreulicherweise ein Stück von dieser entfernt im Wald. Der Waldboden macht das Laufen angenehm. Auf der anderen Seite der Straße kann ich nun zwischen den Bäumen immer wieder das Glitzern einer Wasseroberfläche durchscheinen sehen. Dort hat sich der Prerower Strom bis auf wenige Meter der Straße angenähert. Der alte Bootshafen bleibt zurück, und kurz darauf mündet von links ein Weg, an dem einer der charakteristischen Prerower Wegweiser die Richtungen anzeigt. Da Prerow hier definitiv zu Ende ist, dürfte es der letzte seiner Art auf dieser Seite des Ortes sein. Bedauerlicherweise ist er nicht von einer bunten Schnitzerei gekrönt, wie sie andernorts in Prerow seine zahlreichen Geschwister zieren. Ob sie abhanden gekommen ist oder man ihm nie eine spendiert hat, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis. Aufgrund seiner etwas abgeschiedenen Lage scheint mir seine Aufgabe vordergründig darin zu bestehen, auf die benachbarten Orte Prerows hinzuweisen. Sowohl Zingst und Wieck als auch das weiter entfernt liegende Born finden sich auf seinen Richtungsanzeigern. Doch auch der nahegelegene Hafen und die Seemannskirche sind natürlich verzeichnet.

Um die Hohe Düne zu finden, brauche ich allerdings die Hilfe eines Wegweisers nicht. Ich folge einfach weiter dem Weg entlang der Straße. Und da dieser nun bereits mit einem kleinen Anstieg aufwartet, weiß ich, daß ich nicht fehlgehe. Ich bin bereits auf der Hohen Düne unterwegs. Den Ausführungen des Kapitäns während der Fahrt hatte ich entnehmen können, daß es hier einen Aussichtspunkt geben mußte, den zu suchen ich mir nun zum Ziel gesetzt habe. Das erweist sich als leichtes Unterfangen, denn ich habe gerade einmal fünfzig weitere Meter zurückgelegt – der Anstieg liegt inzwischen hinter mir -, da erreiche ich einen weiteren Abzweig, der nach links in den Wald und weiter auf den Hügel, an dem ich unterwegs bin, hinaufführt. Und richtig – kaum bin ich diesem Weg, dessen sandigen Untergrund man mit einer Art grobmaschigem Seilnetz befestigt hat, um die Düne davor zu schützen, förmlich zertreten zu werden, ein paar Meter gefolgt, da sehe ich ihn nach einer Biegung auch schon vor mir: den Aussichtspunkt. Es handelt sich um eine einfache, erhöhte, hölzerne Plattform, wie ich sie auch schon auf meiner Wanderung am Darßer Ort zu sehen bekommen hatte. Es führt eine steile Treppe hinauf, die zu beiden Seiten mit Geländern versehen ist, die den Aufstieg für jene erleichtern, die nicht mehr ganz so sicher und gut zu Fuß unterwegs sind.

Auf der Prerower Hohen Düne
Auch Aussichtspunkte sind nun in Plattformen organisiert.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Oben angekommen, blicke ich in die Runde. Wenn ich eine phänomenale Aussicht erwartet hatte, so werde ich etwas enttäuscht. Das liegt allerdings nicht an der falschen Wahl des Aussichtspunktes, denn dieser ist durchaus auf dem höchsten Punkt der Hohen Düne errichtet worden. Die Bäume des umliegenden Kiefernwaldes, die zwar alle keine Riesen sind, haben es jedoch mit der Zeit zu einer Höhe gebracht, die es schwer macht, über sie hinwegzublicken. Eigentlich gelingt das nur noch in zwei Richtungen. In der einen, der südöstlichen, kann ich die Windungen des Prerower Stroms erkennen, die dieser nach seinem Vorbeifluß am Zingster Isthmus in Richtung des Bodstedter Boddens vollführt und auf denen gerade wieder ein Schiff seine Bahn zieht. Es ist das modernere der beiden Ausflugsschiffe, das ich am Morgen hatte abfahren lassen, ohne an Bord zu gehen. Es ist offensichtlich zu seiner zweiten Tour an diesem Tag aufgebrochen. In der Ferne kann ich über einem dunklen Streifen, der den Horizont bedeckt, bei genauem Hinschauen wieder die Silhouette der Barther Sankt-Marien-Kirche erkennen. Sie ist wahrlich von weither zu sehen. Der ganz in der Nähe, sozusagen zu meinen Füßen gelegene große Bogen des Prerower Stroms entzieht sich hingegen aufgrund der Bäume rings um mich herum meinen Blicken. Wie so oft im Leben ist das Naheliegende wieder einmal nicht ohne weiteres zu sehen.

Auf der Prerower Hohen Düne
Von Prerow nach Barth – der Blick von der Hohen Düne reicht weit.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die andere Richtung, die mir etwas offenbart, ist die nördliche. Dort kann ich über den Baumwipfeln die gerade Linie des Horizonts verfolgen, vor der das tiefblaue Meer seine leicht gekräuselten Fluten ausbreitet. In wenigen Jahren wird aber wohl auch das nicht mehr möglich sein, denn bereits jetzt verschwindet der Horizont hier und da hinter einzelnen, hoch aufragenden Wipfeln.

Nachdem ich mich ausgiebig umgeschaut habe, steige ich die Treppe schließlich wieder hinab und gehe den Weg, der lediglich bis hierher führt und dann endet, zurück zur Straße. Ich folge ihr noch ein Stück in Richtung Zingst. Der Weg, der immer noch ein wenig abseits durch den Wald verläuft, senkt sich bereits langsam wieder ab. Hin und wieder verbreitert er sich ein Stück bis zum Rand der der Straße zuwandten Seite der Düne. An diesen Stellen hat man ein hölzernes Geländer angebracht und ein paar Bänke aufgestellt, von denen aus man wie von einem zwischen den Bäumen gelegenen Balkon über den Strom und das dahinterliegende Land schauen kann. Hier ist von der näheren Umgebung sogar etwas mehr zu sehen als von der höhergelegenen Aussichtsplattform auf der Hohen Düne, da sich vor mir nur noch die Straße und ein zwei bis drei Meter breiter Streifen bis zum Strom befinden. Ich setze mich kurz auf eine der Bänke, halte es jedoch angesichts des beständigen Verkehrs auf der Straße nicht allzu lange hier aus.

So folge ich dem Weg weiter, bis ich schließlich die Landenge erreicht habe. Leider bin ich hier bereits wieder so weit von der Düne herabgestiegen, daß ich Strom und See nicht gleichzeitig sehen kann. Genau an dieser Stelle befindet sich jedoch ein Dünenübergang, der zum Strand führt. Dahinter setzt sich der Weg direkt auf einem Deich fort, welcher von hier aus die Straße nach Zingst begleitet.

In der Hoffnung, vielleicht vom Kamm der Düne beide den Isthmus begrenzenden Gewässer noch einmal gleichzeitig sehen zu können, wende ich mich nach links und stapfe durch den Sand. Ich werde nicht enttäuscht. Oben angekommen erblicke ich vor mir die Weite des Meeres, während ich hinter mir auf den großen Bogen des Prerower Stroms hinunterschaue, von dem sich mir allerdings nur ein kleiner Ausschnitt zeigt. Dennoch bin ich zufrieden und begebe mich, da ich nicht denselben Weg zurücklaufen möchte, nun hinunter auf den Strand.

Auf den ersten Blick unterscheidet er sich nicht sehr von jenem, den ich angetroffen habe, als ich am Hauptübergang zur Ostsee hinuntergegangen bin. Hinter mir die Düne, unter meinen Füßen der breite Sandstreifen und vor mir das sacht ans Ufer plätschernde Meer. Noch immer ist nur wenig Wind zu spüren, so daß es wie in den Tagen zuvor keine hohen Wellen gibt. Menschen laufen nahe am Wasser den Strand entlang, andere sitzen weiter oben im Sand und genießen die Sonne, die aus dem strahlend blauen Himmel auf uns herablächelt und durchaus schon angenehme Wärme verbreitet. Was hier allerdings fehlt, sind die Strandkörbe. Und natürlich gibt es hier auch keine Baustelle.

Am Nordstrand der Halbinsel Zingst
Alles voller Pfosten – Buhnen am Strand zwischen Prerow und Zingst.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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In den Meeresboden hineingerammte Pfosten sind allerdings auch hier zu sehen. Im Gegensatz zu denen der gerade im Bau befindlichen Seebrücke bestehen diese hier jedoch aus Holz und ragen nur wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche. Dafür stehen sie dicht an dicht und bilden eine lange Reihe, in der sie weit ins Meer hinausragen, wo sie dann allerdings abrupt enden. Als ich den Strand hinauf- und hinunterblicke, stelle ich fest, daß sich derartige Reihen hölzerner Pfosten in regelmäßigen Abständen wiederholen. Während es in westlicher Richtung vielleicht noch fünf dieser Reihen sind, hören sie gen Osten hingegen nicht auf, sondern verlieren sich in der Ferne, wo ein Ende nicht abzusehen ist. Ganz offensichtlich hielt man es für notwendig, den Strand zwischen Prerow und Zingst mit diesen Buhnen vor Erosion zu schützen. Als ich mich der direkt vor dem Strandzugang liegenden Buhne nähere, bemerke ich in einiger Entfernung vom Ufer eine Möwe, die sich dort auf einem der Holzpfähle niedergelassen hat. Sie rührt sich auch nicht, als ich mich nähere, sondern schaut mir nur interessiert entgegen. Vermutlich weiß sie aus Erfahrung, daß die meisten dieser Zweibeiner, die Tag für Tag den Strand aufsuchen, es nicht wagen, so wie sie auf den Pfosten entlang hinaus auf’s Meer zu laufen. Und wenn ich einer von denen sein sollte, die es wagemutig doch versuchen, dann bliebe ihr immer noch genug Zeit, um die Flügel auszubreiten und davonzufliegen. Das würde ich ihr auf keinen Fall nachmachen können.

Nun, das habe ich auch nicht vor. An der Wasserlinie angekommen, entledige ich mich kurzerhand meiner Schuhe und Strümpfe, um an diesem schönen warmen Frühlingstag wenigstens einmal mit den Füßen ins Wasser zu kommen. Zur Sicherheit kremple ich meine Hosenbeine ein Stück hoch. Die Socken stecke ich in die Schuhe, die ich in der Hand behalte. Tatsächlich ist das Wasser gar nicht mal so kalt, wie ich befürchtet hatte. Bereits nach wenigen Minuten ist es ganz angenehm, mit den nackten Füßen auf dem Sand zu laufen und sie hin und wieder von einer besonders kecken Welle umspülen zu lassen. Die Möwe schaut meinem Treiben eine Weile von weitem zu, verliert jedoch schließlich das Interesse und blickt in eine andere Richtung. Sie unterscheidet sich ein wenig von den Exemplaren, die mir bisher so begegnet waren. Besonders fällt mir ihr schwarzer Kopf auf, der sie stark von jenen anderen Möwenarten abhebt. Ich erweise ihr die Ehre, ein Foto von ihr zu machen, das ich ihr allerdings nicht zeigen kann, da sie nicht geruht, sich mir einmal zu nähern. Dafür gelingt es mir später anhand dieser Aufnahme, sie als Lachmöwe zu identifizieren.

Jede Buhne endet, wie ich bei genauerer Betrachtung sehen kann, mit einem letzten Holzpfosten, der ein wenig weiter aus dem Wasser ragt als die anderen. Als ich auf meinem Weg den Strand entlang zur nächsten Pfostenreihe gelange, bemerke ich eine schwarze Silhouette an deren Ende. Mit bloßem Auge kann ich lediglich erkennen, daß es sich um einen schwarz gefiederten Vogel handelt, der sich dort niedergelassen hat. Erst mit der Hilfe meines Teleobjektivs – es ersetzt mir bei solchen Gelegenheiten stets das Fernglas, das ich so nicht zusätzlich noch mit mir herumtragen muß – kann ich ihn schließlich als Kormoran identifizieren. Ich muß gestehen, daß mir diese Vogelart, bevor sie mir hier an der Ostsee nun bereits zum zweiten Male begegnete, gar nicht so bekannt war. Natürlich hatte ich den Namen bereits gelesen, nicht zuletzt in Geschichten und Romanen, in denen er erwähnt wurde, doch wo Kormorane eigentlich lebten, entzog sich bisher meinem Wissen. So finde ich durch eigenes Erleben wieder einmal die alte Erkenntnis bestätigt, daß Reisen, bei denen man sich aufmerksam und interessiert in der Welt umschaut, eben doch bildet – oftmals mehr und nachhaltiger, als es jede Schule könnte.

Kormoran an der Ostsee
Ein Rabe am Meer.
Was zunächst ein Irrtum zu sein scheint, ist so falsch gar nicht, denn der Name Kormoran stammt aus dem Altfranzösischen und bedeutet Meer- oder Wasserrabe.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein Stück weiter westwärts – ich habe mich entschlossen, am Strand zurück in Richtung Prerow zu laufen – steigen die Dünen hinter dem Strand zu bedeutender Höhe an. Ich befinde mich jetzt etwa gleichauf mit der Hohen Düne. Und dort, am hinteren Ende des Strandes, entdecke ich etwas, das mein Interesse weckt. Und so wende ich mich für einen kurzen Abstecher vom Wasser ab und stapfe den Strand hinauf. Normalerweise geht dieser hier am Nordstrand an seinem hinteren Ende mit sanftem Anstieg langsam in die Düne über. Dünengras nimmt die Gelegenheit wahr, sich anzusiedeln, erst vereinzelt, dann dichter, bis der Strand schließlich in der grasbewachsenen Düne aufgegangen ist. Wenn der Wind sacht über die Halme streicht, beugen sich diese bereitwillig, richten sich dann aber wieder auf. Sie machen so die Luftbewegungen sichtbar, was, wenn man Gelegenheit hat, einen längeren Dünenabschnitt im Blick zu behalten, den Eindruck vermitteln kann, die Wellen des Meeres setzten sich auf der Düne fort. War ich diesen Anblick vom Prerower Nordstrand bereits von verschiedenen Stellen, an denen ich ihn aufgesucht hatte, gewohnt, bin ich nun einigermaßen überrascht, daß sich mir bei meinem Blick zur Düne ein völlig anderes Bild bietet. Hier, am östlichen Ende Prerows, nahe der Hohen Düne, bildet der Sand eine regelrechte Wand. Doch ist diese keineswegs glatt und lotrecht. Vielmehr bricht sie in mehreren Stufen ab, tritt hier hervor und dort zurück, bildet Vorsprünge, auf denen sich Muschelschalen abgelagert haben – wie sind die wohl dahin gekommen? – und zeigt eine Gliederung in feine und feinste Schichten, als bestünde die Düne aus unzähligen riesigen, doch hauchdünnen, übereinandergelegten Platten.

Sandkunstwerk an der Düne am Nordstrand der Halbinsel Zingst
Die Natur als Baumeister – eine Sandwand an der Düne.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Man könnte sagen, diese Sandwand zeigt im Kleinen durch die Witterung hervorgerufene Gestaltungsformen, die denen ähneln, die man im Großen in Sandsteingebirgen beobachten kann. Doch während sie dort infolge der steinernen Verfestigung eine große Stabilität erreicht haben, sind diese hier äußerst fragil. Unwillkürlich bin ich versucht, mit dem Finger die Festigkeit der Wand zu prüfen, doch als ich gewahr werde, daß ich gewissermaßen dabei zusehen kann, wie sich die Wand stetig verändert, lasse ich es bleiben. Bereits ein sacht auffrischender Wind wirbelt nämlich an ihrer Oberfläche Sandkörner auf und bringt kleine Abschnitte erst in Unordnung und dann ins Rutschen. Eine Berührung auch nur mit meinem kleinen Finger würde dieses von der Natur geschaffene Sandkunstwerk augenblicklich schwer beschädigen.

Fasziniert von diesen Beobachtungen kehre ich schließlich wieder ans Wasser zurück, wo ich meinen Weg in Richtung Prerow fortsetze. Dabei genieße ich noch einmal die Berührung des Wassers sowie das angenehme Gefühl, wenn meine nackten Sohlen den feuchten Sand berühren. Sie hinterlassen darin Abdrücke, die von der nächsten Welle bereits wieder ausgelöscht werden, so als sei ich nie hier gewesen. Und ein bißchen ist das ja auch so, denn für die Natur spielt meine Anwesenheit schließlich keine Rolle. Doch auch wenn ich hier an diesem Strand heute keine immerwährenden Spuren hinterlasse, in meinem Geist, meiner Erinnerung bleibt dieser Nachmittag erhalten. Jedesmal, wenn ich an ihn denke, spüre ich wieder den Sand zwischen den Zehen, wie sie sich mit jedem Schritt ein Stück hineingraben, fühle ich das Naß, wie es sanft meine Füße umspült, und vermeine ich wieder die salzige Meeresluft zu atmen, die tief in meine Lungen strömt. Ich spüre wieder die warme Sonne und den sanften Wind auf meiner Haut und fühle mich allein durch diese Erinnerung angenehm berührt und erfrischt. Und irgendwie ist es, als sei ein Teil von mir an diesem Strand geblieben, denn ich sehe mich dort selbst, blicke mir versonnen nach, schaue zu, wie ich mich weiter und weiter entferne, bis ich schließlich nicht mehr zu erkennen bin. Dann richtet sich mein Blick auf’s Meer hinaus und ich schaue versonnen in die Ferne…

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1 Zehn Jahre für den Bau einer Brücke! Was unglaublich klingt, ist leider Realität, wie die in diesem Jahr (2023) fertiggestellte Schiersteiner Straßenbrücke beweist.

Ein Ort auf dem Darß

Dieser Beitrag ist Teil 2 von 7 der Beitragsserie "Urlaub in Prerow 2023"

Rauh weht der Wind, von Westen über das Meer kommend, über die Dünen, auf denen die Halme des Strandhafers seinem Druck nachzugeben gezwungen sind und sich tief hinunterbeugen, so tief, daß sie mit ihren Spitzen fast den Sand berühren, auf dem sie stehen. Dicke graue Wolken jagen, vom Wind getrieben, über den Himmel und auf das Land zu, wo sie dem Wald, der hinter den Dünen starrsinnig dem Druck der Lüfte trotzt, eine düstere Aura verleihen. Doch auch den Kiefern mit ihren harten Stämmen bleibt angesichts der auf sie wirkenden Kräfte nichts anderes übrig, als diesen nachzugeben. Gemeinschaftlich wenden sie sich vom Meere ab, so als wollten sie sich tiefer ins Innere des windgepeitschten Landes zurückziehen, wo es vielleicht ein wenig ruhiger zugehen mag als hier an der rauhen Küste. Doch vergebens, sie kommen ja nicht vom Fleck. Einige ihrer ganz mutigen Vertreter haben sich ein wenig vor den Rand des Waldes gewagt und den dem Meer abgewandten Hang der Dünen erobert – ein Unterfangen, für dessen Verwegenheit sie nun bitter zu bezahlen haben, sind sie doch recht einsam und allein dem Ansturm des Windes ausgesetzt, der sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften schüttelt und zaust. Ihre Äste in Richtung des nahen Meeres auszustrecken, ist ihnen nicht gelungen, und so stehen sie nun da, mit stark landeinwärts gebogenen Stämmen, die Äste ausschließlich in die gleiche Richtung gestreckt, und wirken so, als wollten sie von dem Platz, den sie sich so mühsam erobert, doch lieber wieder flüchten, um dem Winde endlich zu entkommen. Doch sie müssen verharren und für ihren kecken Vorstoß auf die Dünen Zeit ihres weiteren Lebens Widerstand leisten, wollen sie es nicht vorzeitig beendet wissen.

Und das Meer? Es ist in Aufruhr. Ob seine Wut, mit der es an den Strand brandet, sich gegen den Wind richtet, der seine Wasser so unerbittlich dem Ufer entgegenpeitscht, oder ob es mit diesem gemeinsame Sache macht, um auf das unbeweglich-gleichmütige, düstere Land einzuschlagen, ist schwer zu entscheiden. Unermüdlich rollen seine hohen, schaumbekrönten Wellen dem Strand entgegen, wo sie sich, sobald sie ihm zu nahe kommen, überschlagen und brechen, ein wütendes Rauschen ausstoßend, das, sich mit dem Stöhnen des Windes verbindend, die Luft erfüllt. Der so heftig heimgesuchte sandige Strand ist über und über mit rundgeschliffenen Steinen bedeckt, viele klein wie Kiesel, andere so groß wie eine Faust und einige wenige von größerem Umfang. Doch alle rollen sie, von der unbändigen Kraft des Wassers getrieben, unablässig hin und her, sobald eine Welle sie trifft und überspült. Diejenigen, die erst in jüngerer Vergangenheit die Oberfläche des Strandes erreicht haben, ob vom Meere angeschwemmt oder aus dem Sand herausgespült, sind meist noch unregelmäßig geformt, mit eigenwilligen Ecken und Dellen, mittels derer sie der Kraft des Wassers zu widerstehen scheinen. Doch wie die Windflüchter auf den Dünen, die dem Winde trotzen wollten, müssen auch sie für ihre Widerborstigkeit bezahlen. Jede Welle prügelt auf sie ein, immer wieder werden sie aneinandergeschlagen, bis Teile von ihnen abplatzen oder sie zerbrechen. Andere Steine aber, die es schon vor langer Zeit hierher verschlagen hat, sind im Laufe der Jahre auf diese Weise rundgeschliffen worden, haben ihre Ecken und Kanten nahezu vollständig verloren und lassen sich bereitwillig hierhin und dorthin tragen, wohin auch immer das anbrandende Wasser sie schubst. Ihr Widerstand ist ihnen längst ausgetrieben worden.

Ein solches Bild habe ich in etwa vor Augen, als ich mich am Morgen meines zweiten Urlaubstages in Prerow – des ersten nach meiner gestrigen Ankunft – auf den Weg mache, um, wieder auf den Spuren meiner Erinnerung wandelnd, dem Weststrand entgegenzuwandern. Daß meine damit entsprechend verknüpften Erwartungen sich eventuell nicht gänzlich erfüllen werden, dafür gibt es angesichts des strahlend blauen Himmels und der freundlich vom Himmel lachenden Sonne bereits gewisse Anzeichen, doch denke ich zu diesem Zeitpunkt nicht darüber nach. Und so kann ich jetzt auch noch nicht wissen, daß mir dieser Tag gänzlich andere Erlebnisse bescheren wird, als ich mir, ausgehend von meinen Erinnerungen an unsere einstigen Besuche am Darßer Weststrand in den 1980er Jahren, momentan noch vorstelle.

Da ich mir denke, daß Weststrand wohl Weststrand, sprich es gleichgültig ist, an welcher Stelle ich ihn erreiche, habe ich beschlossen, eine Wanderung zum Darßer Ort zu unternehmen, wo es einen Leuchtturm geben soll. Der Darßer Ort ist der nördlichste Ausläufer der Darß genannten Halbinsel. Zu Zeiten meiner Kindheit war es schlichtweg unmöglich, dorthin zu gelangen, denn man hatte das gesamte Areal zum Sperrgebiet erklärt. Ohne es jemals weiter hinterfragt zu haben, hatte ich stets angenommen, das sei des Grenzschutzes wegen geschehen und daß sich dort wohl eine Basis der Grenztruppen der DDR befunden hätte. So bin ich doch einigermaßen überrascht zu erfahren, daß es die NVA, die Nationale Volksarmee des kleinen sozialistischen Landes, gewesen war, die hier einen Manöverhafen für die Volksmarine betrieben und daher das diesen umgebende Gelände weiträumig abgesperrt hatte. Mit dem Ende der DDR war der dann überflüssig und das Gelände somit freigegeben worden, so daß es heute zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gehört. Doch wie dem auch sei – für uns waren damals die Auswirkungen dieselben. Wir hatten nicht dorthin gekonnt. Für mich ist das Grund genug, die Reise in meine Erinnerungen mit der Entdeckung des für mich Unbekannten zu verbinden und als Ziel meiner Wanderung eben diesen Darßer Ort mit seinem Leuchtturm auszuwählen.

Der Weg, das weiß ich noch von früher her, würde mich hinter dem Ort in den Darßwald und auf der gesamten Strecke durch diesen hindurch führen. Ich freue mich also auf eine schöne Wanderung im Schatten des Waldes und mache mich auf den Weg. Nun ist, wenn man sich in Prerow befindet, der Darßwald nicht sonderlich schwer zu finden. Man geht einfach eine der nach Westen führenden Straßen des Ortes entlang, und zwar solange, bis man die letzten Häuser erreicht hat. Genau dort beginnt der Wald. Also ganz einfach.

Für mich ist es sogar noch bedeutend einfacher, denn man hat in Prerow jede Menge Wegweiser aufgestellt, die alle ganz einheitlich gestaltet und nicht zu übersehen sind. Und auf nahezu jedem ist der Leuchtturm am Darßer Ort verzeichnet. Ich bin mir ziemlich sicher, daß es diese Wegweiser damals in den Achtzigern noch nicht gegeben hat, würde mich darauf aber auch nicht festlegen wollen. Man hat sie meist an Weg- oder Straßenkreuzungen aufgestellt, wo ihre Arme die in den jeweiligen Richtungen liegenden Ziele anzeigen. Liegen diese an einem Gewässer oder haben mittelbar mit einem zu tun, leuchten die Richtungsanzeiger in tiefem Blau, andernfalls sind sie in Gelb gehalten. Für weiter entfernt liegende Orte hat man in der Regel eine Entfernungsangabe hinzugefügt. Ein jeder dieser Wegweiser ist mit einer Holzschnitzerei gekrönt, deren jeweilige Darstellung entweder auf seinen Standort Bezug nimmt oder aber etwas zeigt, das man im allgemeinen mit dem Meer oder im besonderen der Ostsee assoziiert. Der Wegweiser, den ich an der durch den Ort führenden Waldstraße dort antreffe, wo der Darßwald beginnt, zeigt in seiner Schnitzerei zwei sich vom Meer abwendende Windflüchter auf sandigem Untergrund. Ich bin untrüglich auf dem Weg zum Weststrand!

Wegweiser in Prerow
Zum Leuchtturm? Bitte rechts!
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ich muß, so bedeutet mir der freundliche Richtungsanzeiger, dem Bernsteinweg folgend noch ein wenig am Waldrand entlanggehen, bis ich ein Stück weiter auf seinen Gesellen treffe, der mich unmißverständlich in den Wald hineinbeordert. Ich folge bereitwillig dem gewiesenen Weg.

Bereits nach wenigen Schritten bin ich auf allen Seiten von Bäumen umgeben. Der Waldweg führt schnurgerade zwischen ihnen hindurch, was mich jedoch nicht verwundert, denn an diese Eigenart der hiesigen Waldwege erinnere ich mich noch gut von früher her. Es ist früher Vormittag und ich bin praktisch allein im Wald. Zumindest, was die Menschen betrifft. Von den Rothirschen und Rehen, die es hier geben soll, ist zwar auch weit und breit nichts zu sehen, dafür veranstalten die Vögel dieses Waldes ein lautstarkes Konzert. Eine Weile finde ich Gefallen an dem Gedanken, daß sie das allein für mich tun. Hier und da erhasche ich auch einen Blick auf einen der flinken Gesellen, die um mich herum zwischen den Ästen umherflattern, doch verharren sie kaum einmal lang genug irgendwo, daß es sich lohnte zu versuchen, sie auf ein Foto zu bannen. Das stört mich jedoch nicht, denn noch bin ich sowieso damit beschäftigt, die wunderbare Ruhe des Waldes zu genießen, in die sich das Konzert der Vogelstimmen ganz wundersam einfügt, ohne sie auch nur im mindesten zu stören. Rings um mich herum malt die Sonne bunte Lichtflecken auf das satte Grün des Waldbodens, der über und über mit niedrigen Sträuchern bestanden ist. In vollkommener botanischer Ahnungslosigkeit und nur auf meine Erinnerungen aus der Kindheit bezugnehmend, identifiziere ich sie kurzerhand als Blau- und Preiselbeersträucher, ohne genau zu wissen, ob das auch stimmt. Dort, wo keine von ihnen stehen, ist der Boden über und über mit Nadeln bedeckt, die die Kiefern, die hier im Wald recht reichlich vertreten sind, fallengelassen haben. An einigen der Bäume entdecke ich die markanten Einschnitte, mit denen man ihnen das Harz abgezapft hat. Dem Verwitterungs- und Alterungsgrad dieser Einschnitte nach zu urteilen, muß das aber schon eine ganze Reihe von Jahren her sein.

Nach einigen Minuten nähert sich von links ein anderer Weg, der sich kurz darauf mit dem meinen vereint, um dann weiter in direkt westlicher Richtung durch den Wald zu führen. Ich bin nun auf einer Art Waldstraße unterwegs, unbefestigt zwar, aber ungleich breiter als der Weg vorher. Wieder dauert es nicht lange, da gelange ich an eine Wegkreuzung. Zwei hölzerne Tafeln stehen auf je einer Seite des Weges. Die linke ruft mir ein freundliches „Willkommen“ zu, um mich gleichzeitig darauf hinzuweisen, daß ich mich hier im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft befinde. Außerdem erklärt sie mir mittels einer Reihe von Piktogrammen, was ich hier im Wald so alles doch bitte zu unterlassen habe. Ihr Gegenstück auf der rechten Wegseite informiert mich darüber, daß ich nun auf dem Leuchtturmweg unterwegs bin, und zeigt mir zwecks Orientierung eine Karte des Gebiets.

Auf der anderen Seite des hier kreuzenden Querwegs, über den von den beiden Tafeln nichts weiter verraten wird, führen zwei Wege weiter. Der eine bildet hinsichtlich Richtung und Beschaffenheit die direkte Fortsetzung meiner Waldstraße, der andere schlägt sich nach halbrechts zwischen die Bäume und ist ganz offensichtlich ein Waldweg wie der, auf dem ich anfangs unterwegs gewesen war. Finde ich allein das schon recht verlockend, hat er mich definitiv für sich gewonnen, als ich das Schild lese, daß man direkt an seinem Anfang aufgestellt hat. „Für Radfahrer nicht geeignet!“ lese ich darauf.

Kurz überlege ich, ob das auch wirklich der Leuchtturmweg ist oder ob ich es nicht doch lieber mit der Waldstraße versuchen soll, doch dann beschließe ich, mir darüber keine großen Gedanken zu machen und gehe los. Die Richtung stimmt in etwa und irgendwo am Weststrand werde ich schon rauskommen. Und wenn es nicht am Leuchtturm ist, kann ich ja immer noch am Strand entlang dorthin gelangen.

Der Weg führt mal auf, mal ab über den hügeligen Waldboden und windet sich mal links, mal rechts herum zwischen den Bäumen hindurch. Die Waldstraße links von mir ist schon bald nicht mehr zu sehen, da sich mein Weg immer weiter von ihr entfernt. Wieder umfängt mich die Ruhe des Waldes, in der mittlerweile die gefiederten Freunde ihr Konzert eingestellt haben, um nur noch vereinzelt hier und da vor sich hin zu zwitschern. Der Weg ist recht bequem zu gehen und, so denke ich bei mir, eigentlich auch mit dem Rad durchaus befahrbar. Wenn er nicht irgendwann später unwegsamer werden sollte, müßte man auf ihm doch eigentlich recht gut radeln können. Gerade will ich mich über das an seinem Anfang aufgestellte Schild freuen, weil es mir dennoch die Radfahrer vom Halse hält, da klingelt es auch schon herausfordernd hinter mir. Kaum daß ich einen Schritt zur Seite gemacht habe, kommt auch schon ein Radfahrer an mir vorbeigekeucht. Für ein „Danke“ fehlt ihm wohl die Luft. Meinen Fuß erhebend, um weiterzugehen, werde ich gleich wieder gestoppt, als eine Radfahrerin an mir vorüberfährt. Sie bleibt ebenso stumm. Mich vergewissernd, daß nun niemand mehr kommt, setze ich meinen Weg fort und vermeide nun jegliche voreiligen Danksagungen in Gedanken.

Auf dem Leuchtturmweg im Darßwald
Waldesruh.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nach einer Weile bemerke ich, daß der Weg langsam, doch kontinuierlich nach rechts strebt. Wenn das so weiter geht, denke ich, bin ich irgendwann in nördlicher Richtung unterwegs. Das wird mich dann aber nicht zum Weststrand bringen! Schon überlege ich, ob es nicht doch besser wäre, wieder zurückzugehen und den anderen Weg zu nehmen, da tritt der meine zwischen den Bäumen hervor und trifft auf eine weitere Waldstraße, die zwar tatsächlich zunächst direkt nach Norden führt, doch bereits wenige Meter voraus eine scharfe Linkskurve einschlägt. Weil das offenbar ganz in seinem Sinne ist, beschließt mein Weg, diese Waldstraße von nun an zu begleiten, was er zunächst rechterhand tut, bis er schließlich, sie kreuzend, die Seiten wechselt. Mir ist das ausgesprochen recht, denn die Waldstraße wird, ihrem Zustande nach zu urteilen, wohl recht häufig benutzt, so daß sie einen ziemlich zerfahrenen Eindruck macht. Auf ihr zu wandeln wäre in etwa so lustig wie das Stapfen in tiefem, lockerem Sand.

Während ich so dahinwandere, ändert der Darßwald immer wieder einmal sein Erscheinungsbild. Auf den Kiefernwald mit von Beerensträuchern bestandenem Boden folgt ein Mischwald, in dem sich Buchen und auch Eichen ausmachen lassen und wo es keinerlei Bewuchs auf dem Waldboden gibt. Der ist dafür dicht mit dem verwelkten Laub des Vorjahres bedeckt. Hier und da liegt auch der Stamm eines gefallenen Baumes quer oder ragt, wenn der Fall aus irgendeinem Grund nicht ganz abgeschlossen werden konnte, schräg in die Luft. Dann wieder passiere ich eine kurze Totholzstrecke, auf die ein Waldstück mit dichtem Unterholz folgt, durch dessen Gestrüpp ich mich nur ungern würde zwängen müssen, so daß ich froh über meinen doch recht gemütlich begehbaren Weg bin. Hin und wieder bemerke ich wieder einige Vertreter der fliegenden Zunft, die mich entweder neugierig beäugen oder aber ihren Tagesgeschäften nachgehen. Irgendwo hämmert ein Specht hingebungsvoll auf einen Ast ein. Er hört auch nicht damit auf, als ich direkt unter seinem Baum, auf dem ich ihn schließlich entdeckt habe, angekommen bin. Er weiß wohl sehr genau, daß er von mir nichts zu befürchten hat, weil ich es niemals in diesem Leben schaffen würde, zu ihm auf den Baum hinaufzukommen. Ich gönne ihm diese Gewißheit, bedinge mir dafür aber ein Foto von ihm aus, das er mir bereitwillig gewährt.

Bild 006.jpg
Waldarbeiter.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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So vergeht die Zeit, in der ich weiter und weiter in Richtung Westen wandere. Schnurgerade führt mich die Waldstraße und mit ihr mein sie begleitender Weg durch den Darßwald. Ich bin mittlerweile eine gute Stunde darin unterwegs, als ich schließlich an einen weiteren Querweg komme. Als ich ihn erreiche, passiere ich eine weitere Tafel wie die, die am Anfang meines Weges gestanden hatte, nur daß diese hier ihre Botschaft in die entgegengesetzte Richtung verkündet: „Für Radfahrer nicht geeignet!“ Nun gut. Jetzt weiß ich, daß dies nur der Abschreckung dient. Aber behalten wir das lieber für uns. Den Wanderern zuliebe…

Hinter dem Querweg führen Weg und Waldstraße direkt weiter. Letztere ist nun allerdings nicht mehr so sandig und zerfahren wie zuvor, sondern das glatte Gegenteil. Zwar weiterhin ungeteert und auch nicht betoniert, kann aber dennoch ein Auto bequem auf ihr fahren, wie ich kurz darauf auch unmittelbar feststellen kann, als eines an mir vorbeibraust. Die Uhr geht mittlerweile auf Elf zu, und ganz offensichtlich ist das die Zeit, zu der die Urlauber auf dem Darß endlich aufgestanden sind, denn auf der Straße ziehen nun in kurzen Abständen immer wieder Radfahrer an mir vorüber. Fußgänger sind hingegen weiterhin selten. Die sind wahrscheinlich erst kurz hinter dem Waldrand angekommen…

Als Straße und Weg eine Biegung machen, sehe ich plötzlich vor mir, worauf sie unmittelbar zulaufen und was mein erstes Ziel an diesem Tage ist: den Leuchtturm. Recht trutzig steht er da, wie er, so ganz aus roten Ziegeln erbaut, in die Höhe ragt. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die aus demselben Material errichteten Häuser, die sich, aus meiner Perspektive, vor ihm aufbauen, als seien sie seine kleine Burg. Eine den Raum zwischen den Häusern verschließende Ziegelmauer mit einem hölzernen, zweiflügeligen Tor rundet dieses Bild ab, das sich jedoch gleich wieder auflöst, als mir die ebenerdige Lage des Ganzen ins Bewußtsein dringt. Schön anzusehen sind die Bauten aber allemal. Um Schönheit allein geht es dabei allerdings gar nicht, denn den Leuchtturm hat man in den Jahren 1847 und 1848 einst errichtet, um die Schiffe auf der Ostsee vor den Untiefen der sogenannten Darßer Schwelle zu warnen. Gedanklich stolpere ich jedesmal ein wenig, wenn ich das Wort Untiefe lese, höre oder denke, gehört es doch mit seinen zwei Bedeutungen, von denen die eine das glatte Gegenteil der anderen ist, zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Sprache. Es kann sowohl eine besonders seichte Stelle in einem Gewässer bezeichnen als auch eine besonders tiefe. Wenn man jedoch extra einen Leuchtturm errichtet, um Schiffe vor einer Untiefe zu warnen, dann kann man mit großer Sicherheit davon ausgehen, daß es sich hier um eine besonders seichte Stelle wie beispielsweise eine Sandbank handelt. Die Darßer Schwelle ist nun allerdings nicht einfach nur eine Sandbank vor der Küste der Halbinsel, sondern eine Bodenerhebung in der Ostsee, die sich vom Darß bis zu den dänischen Inseln Falster und Mon hinüberzieht. Um die Mannschaften passierender Schiffe auf sie aufmerksam zu machen, nahm man im Jahre 1849 den Leuchtturm am Darßer Ort in Betrieb, was ihn zu einem der ältesten Leuchttürme an der deutschen Ostseeküste macht.

Der Leuchtturm am Darßer Ort
Lichtgestalt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
Creative Commons Lizenzvertrag

Ganze 35,4 Meter ist er insgesamt hoch. Anfangs wurde er von einem Leuchtturmwärter betrieben, der stets die 134 Stufen hinaufsteigen mußte, die zum Umgang hinaufführen, der sich in einer Höhe von etwa dreißig Metern befindet. Zum Leuchtfeuer auf dreiunddreißig Metern waren es noch ein paar mehr. Heute wird das nur noch nötig, wenn an der seit 1978 ferngesteuerten Anlage etwas zu warten oder gar zu reparieren ist. Oder wenn Touristen zum Umgang hinaufsteigen möchten, um von dort oben die Aussicht zu genießen. Doch die tun das ja dann freiwillig. Die den Leuchtturm umgebenden Gebäude beherbergten einst ein Lotsenhaus sowie Wohnung und Dienstzimmer des Leuchtturmwärter­s, den es heute hier aber nicht mehr gibt. So dient eines mittlerweile als Café, während die anderen den Ausstellungen des Natureums ein Domizil geben, das eine Außenstelle des Deutschen Meeres­museums in Stralsund ist und seinen Besuchern den Naturraum Darßer Ort und die Ostseeküste näherbringt und sie über die hier heimischen Tierarten informiert.

Irgendwie ist mir angesichts des phantastisch schönen Wetters an diesem Ostermontag allerdings nicht so recht nach einem Ausstellungsbesuch. Und die Ostsee sowie die Natur am Darßer Ort schaue ich mir lieber aus nächster Nähe als von oben an, so daß ich sowohl auf den Besuch des Natureums als auch auf die Kraxelei auf den Turm verzichte, mir das dafür nötige Eintrittsgeld spare und mich gleich auf den Weg am Leuchtturm vorbei zum nahen Weststrand mache.

Der Weg führt mich links an dem Leuchtturmgehöft vorbei und wird unmittelbar dahinter sofort sandig, so daß ich schwer zu stapfen habe. Zu beiden Seiten wachsen zunächst noch niedrige Kiefern, die jedoch das markante Erscheinungsbild der Windflüchter vermissen lassen, was mich etwas wundert, entspricht dies doch so gar nicht meiner Erinnerung an den Weststrand. Doch kann ich zunächst nicht weiter darüber nachdenken, denn ich werde durch ein kleines metallenes Modell abgelenkt, daß man auf der rechten Wegseite aufgestellt hat und das das hiesige Gelände von der Ostsee bis zum Leuchtturm zeigt. Eine Tafel erklärt mir, daß entlang der Küste, die den Weststrand des Darß bildet, und auch am südlich gelegenen Fischland von der Ostsee bis zum heutigen Tag beständig Land abgetragen und zur Nordspitze des Darß transportiert werde, wo sich die Sedimente wieder ablagerten und neues Land bildeten. Dort allerdings, wo ich mich gerade befinde, gehe jedes Jahr Land verloren, so daß davon auszugehen sei, daß es den Leuchtturm in etwa fünfzig Jahren wohl nicht mehr geben werde. Ui!! Da ist es ja gut, daß ich heute hierher gekommen bin. Wer den Leuchtturm also noch einmal sehen möchte – viel Zeit ist nicht mehr.

Ich stapfe weiter und lasse die Kiefern hinter mir. Der Sandweg führt mich jetzt über eine ganz klassische, mit Strandhafer bewachsene Düne, fällt dahinter ab und entläßt mich auf einen breiten, sonnenbeschienenen und nahezu windstillen Sandstrand, an den die spiegelglatte Ostsee – ein wenig lustlos, wie mir scheint – heranplätschert.

Am Weststrand des Darß
Ich suche den windgepeitschten, steinigen Weststrand. Bin ich hier richtig?
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nun, ich gebe es zu – das ist nicht so ganz das, was ich erwartet habe. Rauhe Winde, aufgewühltes Wasser mit hohen Wellen, einen von endlos vielen Steinen bedeckten und durchsetzten Sandstrand – das ist in meiner Erinnerung der Weststrand immer gewesen. Doch davon ist hier weit und breit nichts zu sehen. Stattdessen stehe ich hier an einem Stück Ufer, das sich kaum von dem unterscheidet, wie ich es vom Prerower Nordstrand kenne. Es fehlen eigentlich nur die Strandkörbe.

Links und rechts des hier endenden Weges haben sich Leute im Sand niedergelassen und genießen die Sonne. Andere wandern nahe am Wasser den Strand entlang, einige scheinen irgendetwas zu suchen, denn sie bücken sich immer wieder hinunter, nehmen etwas auf, prüfen es und lassen es wieder fallen. Muschelsucher vermutlich. Hinter den im Sand Lagernden – und das ist eigentlich der einzige Unterschied zum Strand vor Prerow – fällt die Düne in einer regelrechten Steilwand nahezu senkrecht ab. Allerdings ist diese nur etwa zwei Meter hoch und besteht vollkommen aus Sand. Vermutlich sieht sie nach jedem Tag mit rauherem Wind als heute etwas anders aus.

Als ich den Strand erst in nördlicher und dann in südlicher Richtung entlangblicke, muß ich endgültig einsehen, daß der Weststrand hier ganz anders geartet ist, als es meine Erinnerung mir sagt. Und das liegt nicht nur am Wetter. So vermisse ich ein wenig die wilde Urwüchsigkeit der zerzausten Dünen und der Windflüchter, von denen es hier wirklich keinen einzigen gibt. Auch von den so zahlreich vorhanden sein sollenden Steinen ist nur wenig zu sehen. Ich entdecke einen schmalen Streifen, als ich hinunter zum Wasser gehe, doch von dem Weststrand, in dessen breiten Steinfeldern ich als Kind so eifrig nach Hühnergöttern, versteinerten Meerestieren und Bernstein gesucht habe, ist das weit entfernt. Bernstein und Versteinerungen von Meeresbewohnern habe ich zwar nie gefunden, doch das Suchen hat mir immer Spaß gemacht. Und Hühnergötter – also Steine mit wenigstens einem Loch darin – gab es immerhin einige zu finden.

Ich bleibe ein wenig am Saum des Wassers stehen, das so leise an den Strand schwappt, daß ich mir kaum Sorgen machen muß, es könnte meine Füße überspülen. Draußen auf dem Meer, eine ganzes Stück vom Strand entfernt, ragt ein dickes, braunes Etwas aus dem Wasser, das sich leicht gen Süden neigt. Rund, vielleicht eineinhalb oder zwei Meter im Durchmesser, sieht es aus wie das Ende eines überaus mächtigen Pfahls, das etwa zwei Meter über die Wasseroberfläche reicht. Was das genau ist – ich weiß es nicht zu sagen. Auch nicht, aus welchem Material es wohl besteht. Von der Färbung her könnte es aus Holz sein. Aber dann hätte das Meer es sicher längst zerlegt. Ich grüble nicht weiter darüber nach, denn viel interessanter ist das, was sich auf diesem mysteriösen Ding befindet. Eine kleine Kolonie Kormorane hat es sich dort in der Sonne gemütlich gemacht und genießt den warmen Tag. Einige der Vögel, so scheint mir, blicken genauso interessiert zu mir herüber wie ich zu ihnen – mit dem Unterschied, daß sie jederzeit ohne weiteres den Abstand zwischen uns verringern könnten, wenn sie denn nachsehen wollten, wer sie hier vom Strand aus beäugt. Da sie jedoch bleiben, wo sie sind, ist ihr Interesse wohl doch nicht so groß.

Kormorane vor dem Darßer Weststrand
Wo Kormorane Urlaub machen.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Auch ich genieße das schöne Wetter, über das ich mich wirklich nicht beklagen kann. Wie ich jedoch so auf das Meer hinausschaue, dessen spiegelglatte Oberfläche in der Sonne glitzert, vermisse ich doch ein wenig den rauhen Wind und die von ihm an Land getriebenen hohen Wellen, an die ich mich aus meiner Kindheit so gut erinnere. Schmunzelnd denke ich an eine Begebenheit zurück, die sich in einem unserer damaligen Urlaube zutrug, als wir wieder einmal zum Weststrand gewandert waren, den wir nun entlanggingen. Es war ein ganzes Stück weiter südlich gewesen und der Weststrand präsentierte sich an diesem Tag von seiner wilden Seite. Graue Wolken trieben über den Himmel und gaben der Sonne nur ab und zu Gelegenheit, einen ihrer Strahlen zwischen ihnen hindurch zur Erde zu schicken; ein rauher Wind vom Meer warf die hohen Wellen vor sich her auf den Strand; unter unseren Schuhen knirschten die Steine, die wir mit jedem Schritt aneinanderpreßten und umherwarfen und zwischen denen sich Stränge grünen Seetangs verfangen hatten, der immer wieder versuchte, unsere Füße zu umschlingen und uns am Vorwärtskommen zu hindern. Ein Stück vom Wasser entfernt, dort wo die Steine Platz für den Sand ließen, hatten sich vor der Düne, über der hier und da die Kronen vereinzelter Windflüchter aufragten, einige Leute vereinzelt kleine Refugien inmitten nahezu kreisrund aufgeschichteter Sandwälle geschaffen, die sie leidlich vor dem Wind schützten. In einer dieser kleinen Sandburgen lag ein Pärchen mittleren Alters, beide splitterfasernackt wie all die anderen Leute auch, die hier am Weststrand ihrer Leidenschaft für die Freikörperkultur frönten, wofür sie bereit waren, dem Wetter und dem Wind zu trotzen, der doch gehörig blies. Das tat er so hingebungsvoll, daß es ihm gelang, die Temperatur, die an diesem Tag sowieso schon nicht sonderlich hoch war, in unserem Empfinden noch einmal gewaltig nach unten zu drücken, so daß wir uns nicht nur wetterfeste Jacken angezogen, sondern deren Kragen auch noch hochgeschlagen hatten, als wir so den Strand entlangstapften auf dem Weg zu einem der weiter nördlich gelegenen Dünenübergänge, hinter dem wir dann einen Weg zurück nach Prerow zu finden hofften. Dabei kamen wir auch an dem nackten Paar vorüber, das trotz des unfreundlichen Wetters gelassen in seiner Sandburg lag, das Leben genoß und uns Wanderer neugierig beäugte. Als wir genau auf ihrer Höhe angelangt waren, stieß die Frau dem neben ihr liegenden Mann ihren Ellenbogen in die Seite und sagte, als er sich leicht aufrichtete, um zu sehen, was es gäbe, in laut vernehmlichem Ton, der keine Rücksicht darauf nahm, ob wir sie hören konnten, zu ihm: „Guck mal da! Für die einen ist Sommer, für die anderen Winter!“

In der Tat war die gewaltige Diskrepanz zwischen ihrem und unserem Erscheinungsbild überaus skurril – so sehr, daß wir noch lange danach über diese merkwürdige Situation lachen mußten und der so überaus treffende Kommentar dieser Frau in unserer Familie zu einem geflügelten Wort wurde, das immer dann zum Einsatz kam, wenn uns eine vergleichbare Situation über den Weg unseres Lebens lief.

Der Weststrand am Darßer Ort
Keine Steine, keine Windflüchter, keine Wellen. Und doch der Weststrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Nun, hier und heute lagern keine Anhänger der Freikörperkultur am Strand, obwohl das sonnige Wetter mit dem strahlend blauen Himmel sehr dazu einlädt. Vielleicht ist es ihnen noch nicht warm genug.

Nachdem ich eine Weile auf das Meer hinausgesehen und die am Horizont vorbeiziehenden Schiffe beobachtet habe – hier am Weststrand ist das Meer glücklicherweise völlig windradfrei -, schließe ich mich den Leuten, die den Strand entlangwandern, an und laufe die Wasserkante entlang in nördlicher Richtung. Einen wirklichen Plan, wie es von hier an weitergeht, habe ich nicht, lediglich die vage Idee, daß ich versuchen könnte, über die Spitze des Darß‘ zum Nordstrand zu gelangen, um auf diesem dann zurück nach Prerow zu wandern. Nun, da ich den schmalen Streifen Steine in der Nähe des Wassers gesehen habe, vermute ich, daß die von mir zuvor bemerkten Sucher wohl eher auf Bernstein und Hühnergötter aus sind als auf Muscheln. Ich glaube allerdings nicht, daß sie hier viel Erfolg mit ihrer Suche haben werden. Dafür ist dieser Strandabschnitt mit dem nahen Leuchtturm einfach ein viel zu stark frequentiertes Ziel.

Langsam wandere ich den Strand entlang, wobei ich stets nah am Wasser bleibe, um es beim Gehen leichter zu haben. Nach und nach nimmt die Anzahl der Menschen, denen ich begegne ab – die meisten bleiben ganz offensichtlich in der Nähe des Dünenübergangs am Leuchtturm. Ein Stück voraus kann ich jetzt eine Art hölzernen Zaun erkennen, der von der Düne aus quer über den Strand und ein Stück ins Wasser hinein führt. Geht es dort etwa nicht weiter? Ich überlege kurz, ob ich umkehren soll, verwerfe den Gedanken jedoch wieder. Wenigstens will ich wissen, was das da soll.

Es ist tatsächlich eine Sperre, die Besucher davon abhalten will, den Strand nördlich von hier zu betreten. Ein Schild erklärt mir den Grund. Die Nordspitze des Darß‘ liegt in der Kernzone des Nationalparks, den die Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik in einer ihrer letzten Amtshandlungen am 12. September 1990 als Bestandteil des National­park­programms für den Osten Deutschlands ins Leben rief. Hier, so hat man es beschlossen, soll sich die Natur ohne Einfluß des Menschen entfalten dürfen, weshalb der gesamte nördliche Bereich des Darßer Ortes gesperrt ist. Niemand darf den Strand ab hier betreten, und auch das sich anschließende Landesinnere ist tabu. Weitestgehend jedenfalls. Das hat nicht nur die nach wie vor aktive Landbildung als Grund, sondern auch die zahlreichen Tier- und Pflanzenarten, die sich hier unbeeinflußt von menschlicher Aktivität entwickeln können sollen. Einige davon werden auf einer weiteren Tafel in Wort und Bild vorgestellt. Damit nun aber interessierte Menschen nicht gänzlich ausgeschlossen bleiben, hat man einen Rundwanderweg angelegt, der von hier aus in das Innere des Landes führt und über den man zu guter Letzt wieder zum Leuchtturm gelangt. Da ich keine große Lust verspüre, den Weg, der mich hierher geführt hat, einfach wieder zurückzulaufen, und überdies neugierig bin, wie die Landschaft in dem einstigen Sperrgebiet, in das wir früher nie hineindurften, beschaffen ist, gehe ich den Zaun entlang bis zur Düne und stapfe durch den hier recht tiefen Sand den steilen Anstieg hinauf, nicht ohne zunächst noch den Hinweis gelesen zu haben, daß ich doch bitte den Weg keinesfalls verlassen soll. Nun, das versteht sich von selbst.

In den Dünen am Darßer Ort
Rauh weht der Wind über die Dünen. Meistens jedenfalls. Heute jedoch nicht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Oben angekommen, sehe ich einen Sandweg vor mir, der jedoch bereits nach wenigen Metern wieder zu Ende ist. Damit niemand mit seinen Tritten die Dünen nachhaltig beschädigt, hat man sich die Mühe gemacht, den weiteren durch die Dünenlandschaft führenden Weg mit Bohlen auszulegen. Eine gewaltige Arbeit, wenn ich bedenke, daß ich die nächste halbe Stunde unausgesetzt auf diesem Bohlenweg unterwegs sein werde – was ich in diesem Augenblick allerdings noch nicht weiß.

Von der Anhöhe der Düne kann ich in südlicher Richtung noch einmal den Leuchtturm sehen, der allerdings von einem recht technisch aussehenden Metallungetüm weit überragt wird, das ich später als Marine-Funkturm identifiziere. Nun ja, der Fortschritt hat auch vor dem Darßer Ort nicht haltgemacht. Ich bin ja schon froh, daß hier keine Windräder die Landschaft verschandeln.

Es ist eine auf den ersten Blick karge Landschaft, in der ich nun unterwegs bin. Der Boden ist purer Sand, auf dem sich nur Gräser wie der allgegenwärtige Strandhafer halten können. Hier und da unterbrechen tief dunkelbraune Flecken die Grasfläche. Dort haben sich, wie mir scheint, bereits niedrige Pflanzen angesiedelt, die ich jedoch aus der Entfernung nicht genauer bestimmen kann. Später finde ich heraus, daß es sich um die kleinen Sträucher der Schwarzen Krähenbeere handeln könnte. Vereinzelt stehen auch einige Kiefern, die jedoch so klein sind, daß sie eher wie Büsche wirken. Erst weiter im Landesinneren werden sie nach und nach größer. Und dazwischen windet sich  – mal hierhin, mal dorthin – der Bohlenweg, auf dem ich nun unterwegs bin und dessen Verlauf ich ein weites Stück voraus bereits erkennen kann, weil kaum einmal ein Hindernis den Blick verstellt. Viel mehr ist eigentlich nicht zu sehen. Und doch ist diese Landschaft von einer wahrlich wilden Schönheit. Sanft steigt der grasbewachsene Boden an, um urplötzlich wie an einem Miniaturkliff abzubrechen und eine große Sandfläche freizulegen, die jedoch bereits wieder von vereinzelten Gräsern erobert wird. Praktisch aus nächster Nähe kann ich den Übergang von der direkt auf den Strand folgenden Weißdüne zur Grau- und dahinter zur Braundüne mitverfolgen. Mit jeder von ihnen nimmt die Artenvielfalt Stück für Stück zu. Sind auf der aus purem Sand bestehenden Weißdüne weitestgehend nur Gräser lebensfähig, die jedoch recht vereinzelt stehen, so daß der Sand noch deutlich hervortritt, so ist die Vegetationsdecke auf der Graudüne bereits recht geschlossen. Hier leben auch schon andere Pflanzen, die jedoch noch von recht niedrigem Wuchs sind. In der dahinterliegenden Braundüne, der ältesten der drei, gedeihen dann schon kleine Bäume wie die Waldkiefer. Wenn wie hier am Darßer Ort neues Land gebildet wird, schieben sich auch die Dünen mit der Zeit immer weiter in Richtung Meer und die Natur erobert die neuen Areale. Es dürfte interessant sein, in einigen Jahren wieder hierher zu kommen und zu sehen, wie sich das Land verändert haben wird[1]Mehr Informationen zu den verschiedenen Dünenarten finden sich in dem Blog marionsostsee.de..

In den Dünen am Darßer Ort
Unterwegs auf Bohlen durch Weißdüne, Graudüne und Braundüne. Und dahinter wieder Meer.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Als ich ein Stück auf dem Weg vorangekommen bin, kann ich in einer Lücke zwischen den niedrigen Bäumen, auf die mein Weg mit seinem Schlängelkurs zusteuert, wieder eine bis zum Horizont reichende Wasserfläche erkennen. Und weil das nur erneut die Ostsee sein kann, dürfte ich hier wohl direkt auf die andere Seite der Darßer Nordspitze blicken. Ich vermute daher, daß der Weg, dessen Ziel der in meinem Rücken gelegene Leuchtturm ist, hinter dieser Lücke einen Schwenk nach rechts machen wird – und behalte recht.

Als ich den Knick, den der Bohlenweg hier vollzieht, erreiche, schaue ich vor mir auf eine nahezu ebene Graslandschaft, die zunächst von einigen kleineren Wasserflächen durchbrochen wird, bevor sich dahinter die endlose See erstreckt. Diese Wasserflächen, deren Ufer von hohem Schilf eingerahmt werden, sind sogenannte Brackwasserseen. Die hier an der Nordspitze des Darß‘ immer noch stattfindende Landbildung führte durch die fortschreitende Sandablagerung zur Bildung von Nehrungen und – als diese sich schließlich schlossen – zur Abtrennung der umfaßten Wasserflächen von der Ostsee, den Brackwasserseen. Derzeit gibt es hier am Darßer Ort drei größere dieser Seen und einige kleinere.

Mich führt mein Weg als erstes zum Libbertsee, den es noch gar nicht so lange gibt. Er wurde erst in den 1950er Jahren von der Ostsee abgetrennt. Seitdem sinkt sein Salzgehalt stetig, und weil auch kein Frischwasser mehr in ihn einströmen kann, verlandet er zusehends. Irgendwann wird er möglicherweise sogar austrocknen. Doch noch ist es lange nicht soweit. Und so präsentiert sich mir der Libbertsee als ruhige, ausgedehnte Wasserfläche, eingerahmt von einem wogenden Meer von Schilf. Ein wahres Paradies für Wasservögel. Benannt hat man ihn übrigens nach Friedrich Libbert, einem Pflanzensoziologen und Darßforscher, der von 1892 bis 1945 lebte.

Am Darßer Ort
Ein See an der See. Der Libbertsee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Damit mittelgroße Darßwanderer wie ich einen besseren Ausblick auf die Landschaft haben mögen, hat man freundlicherweise eine hölzerne Aussichtsplattform eben dort aufgestellt, wo mein Bohlenweg nun unvermittelt endet. Um den Paradiescharakter der Landschaft für Wasservögel zu unterstreichen, hat man ihr den Namen „Entenplattform“ gegeben. Neugierig steige ich hinauf, doch die Enten unternehmen wohl gerade einen Ausflug. Ich kann jedenfalls weit und breit keine entdecken. Lediglich ein einzelner Schwan zieht auf der Weite des Libbertsees einsam seine Bahn.

Die Weite der Landschaft zieht mich jedoch in ihren Bann, und so bleibe ich eine ganze Weile hier oben stehen und schaue einfach nur über das Land. Ich spüre, wie sich eine angenehme innere Ruhe in mir ausbreitet. Hier gibt es keine Hast, keine Hektik, keine Eile, kein Sich-beeilen-müssen und kein Schnell-noch-irgendetwas-fertigbekommen. Hier gibt es nur die Beschaulichkeit im Winde sanft sich wiegenden Schilfs, das leichte Gekräusel der Wasseroberfläche und die langsam am Himmel entlangziehenden Wolken. Und natürlich den einsamen Schwan dort draußen auf dem See, der das Wort „Termine“ ganz sicher noch nie gehört hat. Ach, könnte ich doch einfach hier bleiben…

Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen ist, als ich schließlich wieder am Fuße der Treppe, die zur Aussichtsplattform hinaufführt, ankomme und meinen Weg fortsetze. Noch immer besteht der Boden aus Sand, doch man hat ihn nun mit einer Art sehr grober Holzspäne bestreut, auf denen es sich recht bequem laufen läßt, so daß ich zumindest nicht wieder anfangen muß zu stapfen. Da es nun keine Bohlen mehr gibt, hat man vorsichtshalber in regelmäßigen Abständen links und rechts des Wegs kleine Pfosten eingeschlagen, an denen entlang man zu beiden Seiten je einen Draht gespannt hat, damit auch wirklich der Unachtsamste unter den Menschen begreifen kann, daß man den Weg nicht verlassen soll. Nun ist es keineswegs so, daß man nicht mühelos darüber hinwegsteigen könnte, doch das erforderte schon mutwillige Mißachtung dieses nicht gerade dezenten Hinweises, die Landschaft außerhalb des Weges doch bitte nicht zu betreten.

Es sind nur wenige Meter, die ich gehen muß, da führt mich der Weg in ein kleines Kiefernwäldchen. Hier ist der Belag auf dem Sand nicht mehr erforderlich, denn dieser ist nun bereits so festgetreten, daß ich auf einem gut begehbaren Waldweg unterwegs bin. Kurz darauf erreiche ich eine Stelle, an der dieser einen Neunzig-Grad-Knick nach Süden macht und sich somit endgültig zurück in Richtung Leuchtturm wendet. Bevor ich ihm jedoch folge, ersteige ich eine weitere Aussichtsplattform, die man an dieser Stelle errichtet hat. Auch ihr hat man einen Namen gegeben, der sich auf Tiere bezieht, die man von hier aus sehr gut beobachten können soll: „Adlerplattform“. Nun, mit den Seeadlern habe ich genauso viel Glück wie mit den Enten zuvor – es sind weit und breit keine zu sehen. Das macht aber nichts, denn erneut werde ich mit einem phantastischen Landschaftspanorama dafür entschädigt.

Libbertsee am Darßer Ort
Libbertsee. Schilf. Ostsee. Und ein weiter Himmel.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Hinter den Bäumen rechts von mir kann ich gerade noch erkennen, daß dort ein weiterer Brackwassersee zu finden ist, der, wie ich später nachschlage, den Namen Fukareksee trägt. Auch er ist nach einem Forscher benannt, der sich eingehend mit der Naturkunde des Darß‘ beschäftigt hat. In diesem Fall handelt es sich um Franz Fukarek, der von 1926 bis 1996 lebte. An diesem See kann man die Veränderlichkeit der hiesigen Landschaft besonders gut studieren, wenn man genügend Zeit mitbringt. Von der Ostsee durch Sandablagerungen abgetrennt, ist der See erst in den 1980er Jahren entstanden. Vor einiger Zeit wurde jedoch an seinem Nordende wieder etwas Land abgetragen, so daß sich erneut ein Durchlaß zur Ostsee öffnete, der sich seitdem stetig vergrößert hat, wodurch der Fukareksee heute eigentlich gar kein See mehr ist, sondern eher eine Meeresbucht. Doch wer weiß, wie sich das angesichts der Dynamik, mit der hier an der Nordspitze des Darß‘ immer noch Land entsteht, sich verändert und gegebenenfalls auch wieder abgetragen wird, in der Zukunft entwickeln wird. So lange, daß ich das aus erster Hand feststellen kann, will ich allerdings nicht verweilen. Aber ich kann ja in ein paar Jahren noch einmal hier vorbeischauen…

Von der Adlerplattform setze ich meine Wanderung schließlich fort. Bereits nach wenigen Metern schwenkt der Weg weiter nach Südwesten und führt nun am Rand des kleinen Wäldchens entlang. Da ich jetzt die unmittelbare Nachbarschaft des Wassers verlassen habe und sich rings um mich hohe Bäume befinden, ist alsbald der Wind verschwunden und es wird mir im Lichte der strahlenden Sonne schnell recht warm. Nach all den fast schon winterlich kühlen Tagen, die es in diesem Frühjahr bisher gegeben hat, ist mir das durchaus angenehm. Und auch die Tiere des kleinen Waldes locken Licht und Wärme hervor. Direkt vor mir auf dem Weg gewahre ich unvermittelt eine schwarze gewundene Linie, die sich, als ich genau hinschaue, auch noch bewegt. Ich halte inne und beobachte, wie sich eine schwarze Kreuzotter gewandt von einer Seite des Weges zur anderen schlängelt[2]Ich bin zwar kein Experte, doch von einer Eidechse scheint mir das Tier weit entfernt zu sein. Nach einigen Vergleichen mit einschlägigen Bildern habe ich mich schließlich entschieden, die Schlange … [Weiterlesen]. Drüben angekommen, verschwindet sie gemächlich im hohen Gras.

Schwarze Kreuzotter am Darßer Ort
Schlangenlinie.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Ein paar Meter weiter passiere ich einen großen Ameisenhaufen, auf dem die unzähligen kleinen Tierchen ein mächtiges Gewimmel veranstalten, das sie in der näheren Umgebung fortsetzen. Obwohl – verglichen mit den Ameisen, denen man gewöhnlich in Städten so begegnen kann, sind diese hier doch recht groß. Ich halte sie für Rote Waldameisen, die es hier in der Gegend geben soll.

Schließlich verläßt der Weg den kleinen Wald und führt hinaus auf eine große Freifläche, die auf mich zunächst den Eindruck einer Mischung aus Wiese und Feld macht, bis ich registriere, daß das, was sich da so anmutig im nun erneut etwas auffrischenden Winde wiegt, schon wieder Schilf ist. Ein Stück voraus bemerke ich eine dritte Aussichtsplattform, die allerdings bei weitem nicht so hoch ist wie die beiden, die ich bisher passiert habe. Sie ist eher ein erhöhtes Podest, zu dem drei, vier Stufen hinaufführen und auf dem man mehrere Holzbänke aneinandergereiht hat. Da diese voller Menschen sind, die sich hier häuslich niedergelassen zu haben scheinen – jedenfalls machen sie keinerlei Anstalten, sich alsbald wieder zu erheben -, halte ich mich hier nicht allzulang auf. Dennoch gestatte ich mir ein paar Minuten für einen Rundblick. Über die in der Nähe des Weges wachsenden Wacholderbüsche hinweg habe ich einen schönen Blick über die weite, riesige Lichtung, auf der wahrlich ein Meer von Schilfrohren im Winde wogt. Das Schilf ist schon so hoch gewachsen, daß ich trotz meiner erhöhten Stellung den See, der einen beträchtlichen Teil dieser Fläche einnehmen soll, gar nicht sehen kann. So habe ich das einigermaßen merkwürdige Bild vor Augen, das mir die Aufbauten einiger Schiffe zeigt, die direkt auf dem Schilf zu schwimmen scheinen.

Auch dieses als Ottosee bezeichnete Gewässer ist ein einst von der Ostsee abgetrennter Brackwassersee, der seinen Namen zu Ehren von  Theodor Otto trägt, der von 1880 bis 1945 lebte und Geograph an der Universität Greifswald war. Da der See den sogenannten Nothafen am Darßer Ort beherbergt, besitzt er noch heute eine Verbindung zur Ostsee, die es allerdings schon längst nicht mehr gäbe, würde man sie nicht stets und ständig freibaggern. Dieser Hafen ist aus dem einstigen Manöverhafen der Nationalen Volksarmee der DDR hervorgegangen. Trotz der Einrichtung des Nationalparks hat man ihn beibehalten, um ihn als Nothafen nutzen zu können, weil zwischen Warnemünde und Barhöft bei Stralsund kein anderer solcher Ankerplatz existiert.

Im Sumpfgebiet am Darßer Ort
Der unsichtbare Ottosee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Die Aussichtsplattform, auf der ich nun stehe, ist mit ihrem Namen „Hirschplattform“ ebenfalls nach den Tieren benannt, die man von hier aus gelegentlich beobachten können soll. Es ist wohl müßig zu erwähnen, daß ich hier natürlich keine Hirsche zu sehen bekomme. Allerdings hätte mich das angesichts der vielen laut durcheinanderschwatzenden Leute um mich herum auch ehrlich gewundert. Und da ich es den Hirschen gut nachfühlen kann, verlasse ich die Plattform alsbald wieder und setze meinen Weg fort.

Der macht nach einigen Metern wieder einmal einen Knick nach rechts, hinter dem er unvermittelt als Bohlenweg mitten in das Schilf hineinführt. Und so soll die Holzkonstruktion diesmal auch keine sandigen Dünen schützen, sondern die Füße der Wanderer trockenhalten. Das Gelände ist hier nämlich plötzlich recht sumpfig. Stellenweise spaziere ich auf den Brettern über stehendes Wasser hinweg, das ich ohne sie hätte durchwaten müssen. Das wäre vermutlich kein so großes Vergnügen gewesen. So aber komme ich trockenen Fußes gut voran, bis ich mich nach einem weiteren Knick, den der Weg diesmal nach links vollzieht, recht unvermittelt vor einer hölzernen Brücke wiederfinde. Hier durchzieht ein kleines Fließ das Schilf, in dessen ruhigem Wasser sich der Himmel spiegelt.

Auf der anderen Seite der Brücke muß ich eine Entscheidung treffen, denn von hier führen zwei Wege weiter. Beide auf Holzbohlen. Nach rechts kann ich weiter dem Rundwanderweg folgen, der mich zurück zum Leuchtturm bringt, während es geradeaus, so verspricht es mir ein Wegweiser, zurück nach Prerow geht. Nun, beim Leuchtturm war ich schon. Und von dort denselben Weg zurück durch den Darßwald zu wandern, den ich am Vormittag gekommen war, dazu habe ich keine rechte Lust. Schon als Kind habe ich das einfache Hin und wieder Zurück gehaßt. Das war mir stets zu langweilig. Und so fällt mir die Entscheidung, welchen Weg ich nehmen soll, nicht schwer. Es geht geradeaus, mitten hinein in eine Allee aus dünnen Bäumchen, die dem Frühling noch nicht so recht trauen und daher bisher davon abgesehen haben, ihr Laub sprießen zu lassen. So stehen sie mir auf meinem weiteren Weg als kahle Baumgerippe Spalier.

Während ich weitergehe, kommen mir nun mehr und mehr Leute entgegen. Offenbar kommen jetzt die Fußgänger, die sich erst am späten Vormittag auf den Weg hierher gemacht haben, so langsam an. Nach einiger Zeit hört der Bohlenweg wieder auf. Das Spalier der dünnen Bäumchen tut es ihm gleich.

Weiter geht es immer am Rande des Sumpfes entlang, bis der Weg sich plötzlich scharf nach links wendet und wieder direkt in diesen hineinführt. Prompt sind auch die Bohlen wieder da. Zum Glück, möchte ich sagen, denn nun geht es wirklich ununterbrochen mitten durch im Wasser stehendes Schilf. Angesichts der mir beständig entgegenkommenden Leute heißt es nun gut aufpassen, denn wir müssen auf dem nur mäßig breiten, geländerlosen Steg aneinander vorbeikommen, ohne daß einer von uns ins Wasser fällt. Schließlich habe ich aber das Ende des hölzernen Pfades erreicht und wieder uneingeschränkt festen Boden unter den Füßen.

Der Weg hat mich bis hierher teils um, teils durch das Sumpf- und Seegebiet des Ottosees geführt, so daß ich nun auf dessen gegenüberliegender Seite angekommen bin und mich nicht allzu weit entfernt vom Nothafen befinde. Dennoch kann ich diesen immer noch nicht sonderlich gut sehen, da nun zahlreiche Bäume zwischen mir und der freien Wasserfläche des Sees aufragen. Diesen komme ich im folgenden näher und näher, bis ich das freie Gelände schließlich verlasse und mich wieder im Wald befinde. Kurz darauf trifft mein Weg auf einen anderen, der jedoch ungleich breiter ist und durchaus als Waldstraße bezeichnet werden darf. Dieser folge ich nun in südöstlicher Richtung, die die einzig mögliche ist, denn in der anderen hindert ein Zaun mit einem geschlossenen Tor jeden Wanderer am Weiterkommen. Das ist wohl die Zufahrt zum Nothafen.

Darüber nachsinnend, ob ich denn wohl doch noch irgendwie einen Blick auf diesen Ankerplatz erhaschen könnte, bin ich noch nicht weit gekommen, als sich auf der linken Seite plötzlich ein Weg ins Gebüsch schlägt, an dem ein Schild verkündet, daß es sich nicht lohne, ihm zu folgen, da er in einer Sackgasse enden würde. Für mich ist das allerdings Grund genug, ihn genau deswegen interessant zu finden. Den was sonst sollte diesem Weg ein abruptes Ende bereiten als das Wasserbecken des in dieser Richtung liegenden Nothafens? So bin ich wenige Augenblicke später bereits ein gutes Stück von meiner Waldstraße entfernt, als ich die Richtigkeit meiner Annahme auch schon bestätigt finde. Meine Schritte haben mich an’s Ufer eines Gewässers geführt, das anhand der darin ankernden Schiffe unzweifelhaft als Hafen identifiziert werden kann.

Am Nothafen Darßer Ort
Der sichtbare Ottosee.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Zwei dieser schwimmenden Gefährte machen auf mich einen überaus merkwürdigen Eindruck. Jedes von ihnen besitzt eine rechteckige Grundform, was für ein Schiff schon einmal recht ungewöhnlich ist. Auf beiden sind diverse Aufbauten zu sehen sowie jeweils ein großer Baukran. Daß es sich also um Bauschiffe handelt, ist nicht so schwer zu erraten. Doch wozu die jeweils vier hohen dunkelbraunen Stangen dienen könnten, die meterhoch an jeder Ecke der rechteckigen Schiffsbasis aufragen und deren obere Enden orangefarbenen angepinselt worden sind, so daß sie wie große aufgesetzte Hauben wirken, darauf kann ich mir keinen rechten Reim machen.

Viel mehr ist dann allerdings auch schon wieder nicht zu sehen. Die Ausfahrt aus dem Hafen befindet sich von mir aus gesehen offenbar hinter den Schiffen, so daß sie vor meinen Blicken verborgen bleibt. So wende ich mich wieder um und kehre zur Waldstraße zurück, der ich dann allerdings nur ein kleines weiteres Stück folge, denn schon nach wenigen Metern erreiche ich einen weiteren nach links führenden Abzweig. Diesmal gibt es hier anstelle eines von der Benutzung abratenden Schildes einen eben diese empfehlenden Wegweiser. Als Ziel gibt er eine am Nothafen befindliche Aussichtsplattform aus. Na, wenn das nichts ist…

Einen Fußmarsch von etwa einem halben Kilometer später bin ich am Ende der befestigten Straße angekommen, die mich unmittelbar am einzigen Kai des Hafens entlanggeführt hat und nun vor einem mit einem Tor abgesperrten Gelände ablädt, hinter dem die beiden Bauschiffe im Wasser liegen – das eine bereits in dem Verbindungskanal, der den Nothafen mit der Ostsee verbindet. Hier ist die Welt zu Ende. Oder sie wäre es, gäbe es da nicht den mit Geländern versehenen Holzsteg, der neben der Hafenzufahrt auf die Düne hinaufführt. Ob dort oben wohl die Aussichtsplattform zu finden ist?

Am Nothafen Darßer Ort
Wald, Düne, Strand und Meer – der Nordstrand des Darß.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Sie ist es. Der Ausblick, den ich von hier oben nun genießen kann, ist allerdings ein wenig nüchtern. Links verläuft die Hafenzufahrt, die, das liegt in der Natur der Sache, den Strand unterbricht. So ist es auch nicht verwunderlich, daß dieser hier mit einem ebensolchen Holzzaun abgesperrt ist, wie ich ihn zuvor am Weststrand bereits angetroffen hatte. Auf der anderen Seite des Zufahrtskanals ist nicht sonderlich viel zu sehen, da das Gelände dort ebenso hoch ist wie hier und Bäume den Blick in die Ferne behindern. So bleiben also nur die Aussicht nach Westen auf’s Meer hinaus und nach Südwesten über die Düne den Strand entlang. Dieser beschreibt eine weite Kurve vom nördlichen Ende des Darß, an dem ich mich derzeit befinde, hinüber nach Prerow, wo er dann genau von West nach Ost verläuft, wie es sich für einen Nordstrand gehört. Da der Ort vom Strand jedoch durch den Dünenwald getrennt ist, kann ich ihn von hier aus nicht sehen. Das vor mir liegende Bild beschränkt sich also im wesentlichen auf vier aufeinanderfolgende Streifen, die von mir weg in einem weiten Bogen zum Horizont führen: der Wald, die Düne, der Strand und das Meer. Unendliche Weite…

Wie ich das Meeresufer so entlangschaue, kommen mir doch leise Zweifel daran, ob die Idee, auf dem Nordstrand nach Prerow zurückzulaufen, wirklich so gut ist. Das könnte auf die Dauer dann vielleicht doch etwas eintönig werden. So entschließe ich mich, den Weg durch den Wald zu nehmen, und kehre um. Auf dem Rückweg bemerke ich am Hafenkai eine Rettungsstation, die die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger hier unterhält, und mache mir die gedankliche Notiz, daß der Hafen damit also noch einen weiteren Zweck erfüllt als nur den, in Bedrängnis geratenen Schiffen ein kurzzeitiges Refugium zu bieten.

Ich habe etwa die Hälfte der Strecke zurück zur Waldstraße zurückgelegt, als ich einen kleinen Weg bemerke, der in westlicher Richtung in den Wald hineinführt. Angesichts der vielen Urlauber, die mittlerweile hier unterwegs sind und die ich auch zuvor auf der Waldstraße ständig um mich hatte, erscheint es mir sehr verlockend, die Straßen gänzlich hinter mir zu lassen und auf einem ruhigen Waldweg zurück nach Prerow zu laufen. Gesagt, getan. Einen Schwenk und ein paar Schritte später bin ich unter den Bäumen verschwunden und von herrlicher Waldesruh umgeben.

Doch die Freude währt nicht allzulang. Denn wie ich schon nach relativ kurzer Zeit feststellen muß, führt mein stiller Waldweg direkt auf den riesigen Zelt- und Campingplatz zu, der sich von hier mehr als eineinhalb Kilometer bis zum Ortseingang von Prerow erstreckt. Und so laufe ich alsbald an einer endlosen Reihe von Campingwagen, Caravans und Zelten vorüber, die jedoch alle mehr oder weniger verlassen wirken, denn ich begegne lange Zeit keiner Menschenseele. Erst als ich mich in dieser provisorischen Stadt deren Zentrum nähere, zeigen sich dann doch ein paar ihrer Bewohner. Sie streben der einzigen Attraktion entgegen, die es heute hier zu geben scheint: ein mit lauter Musik die Gegend beschallendes Imbiß-Etablissement, das im Freien ein paar Tische und einen Grill aufgestellt hat. Daß der Lebensmittelladen und die anderen möglicherweise noch vorhandenen Geschäfte an diesem Montag hingegen alle geschlossen haben, finde ich merkwürdig, bis mir schließlich wieder einfällt, daß gerade Ostern und damit heute Feiertag ist.

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, daß wir in einem unserer damaligen Urlaube einmal eine Wanderung den Nordstrand entlang unternommen hatten und dabei bis hierher zum Zeltplatz gekommen waren, wo wir den Strand schließlich verlassen hatten, um von hier aus irgendwie nach Prerow zurückzukommen. Auf dem Weg zwischen den Zelten und Wohnwagen hindurch hatte es uns auch zum Zentrum des Zeltplatzes verschlagen. Ob das damals schon an dieser Stelle oder irgendwo anders gewesen war, weiß ich heute nicht mehr zu sagen. Daß es dort allerdings ein sogenanntes Zeltplatzkino gegeben hat, das ist mir sehr deutlich in Erinnerung geblieben. Denn dieses Kino, das es heute nicht mehr zu geben scheint – ich kann jedenfalls keines entdecken -, hatte mich damals sofort in seinen Bann gezogen. Neugierig war ich an jenem frühen Nachmittag stehengeblieben und studierte die aufgehängten Filmplakate mit den Ankündigungen, wann welcher Film laufen würde. Eines fand ich besonders lustig. Auf ihm waren drei drollig aussehende Typen zu sehen, von denen der kleinste und älteste eine Melone auf dem Kopf und einen Zigarrenstummel im Mund hatte. Bekleidet mit einem Anzug, sah er so aus, als nähme er sich überaus wichtig. Der zweite, etwas größere Mann wirkte überaus freundlich, machte aber einen etwas einfältigen Eindruck. Er trug eine Schiebermütze mit einem kurzen Schirm sowie eine Brille und war mit einer weiten Hose und einer braunen Jacke bekleidet. Unter den Arm hatte er eine abgewetzte Ledertasche geklemmt, die wie die altmodische Tasche eines Landarztes aussah. Der Dritte im Bunde war der Größte. Mit seinem Hut und seinem karierten Jackett hätte er vielleicht elegant gewirkt, wären im nicht seine Hosen deutlich zu kurz gewesen. Der Titel des Films verriet, daß die drei Figuren, denen man irgendwie ansah, daß sie alles versuchen, aber nichts auf die Reihe kriegen würden, in dem Streifen damit beschäftigt sein würden, Weichen zu stellen. Das klang skurril.

Nun war ich damals als angehender Teenager noch nicht in einem Alter, in dem ich besonders häufig ins Kino gegangen wäre. So war ein Kinobesuch für mich schon etwas absolut Besonderes. Da stand ich nun also vor diesem Filmplakat, las den Filmtitel und die Angaben mit den Spielzeiten – und war auf einmal ziemlich aufgeregt. Ich hatte gerade entdeckt, daß eben dieser Film, der seinem Plakat zufolge ganz sicher wahnsinnig lustig sein mußte, in wenigen Augenblicken anlaufen würde. Und so bekniete ich meine Eltern umgehend, ob wir nicht bitte bitte gleich jetzt in diesen Film gehen könnten. Nun, ich mußte nicht lange bitten, denn dankenswerterweise waren sie sofort einverstanden, spontan einen Kinobesuch einzulegen – und so kam es hier in Prerow, in eben diesem Zeltplatzkino zu meiner allerersten Begegnung mit – der Olsenbande. Ich könnte heute nicht mehr sagen, wann, wo und unter welchen Umständen ich die anderen Filme dieses Trios Infernale gesehen habe, aber dieser eine, der für mich der erste war, ist mir in Erinnerung geblieben.

Daß es das Kino von damals heute nicht mehr gibt, ist eigentlich nicht verwunderlich, denn es war eine recht provisorische Anlage. Im Grunde bestand es vollständig aus Wellblech und wirkte in seinem äußeren Erscheinungsbild so, als hätte man eine riesige Tonne der Länge nach in der Mitte aufgeschnitten und eine Hälfte dann auf den Boden gelegt. Blechbüchsenkino nannten die Urlauber das damals, und genauso sah es auch aus. Daß das heute natürlich den Ansprüchen an ein Kino nicht mehr genügt, ist wohl klar. Schade ist aber, daß man es einfach wegrationalisiert hat, anstatt den Zeltplatzgästen ein besseres Filmhaus hinzustellen. Nun ja, es rechnet sich wohl nicht. So müssen filmverrückte Camper heute nach Prerow hineinfahren, um das dortige Kino zu besuchen.

Vom Zentrum des Zeltplatzes setze ich meinen Weg am landseitigen Rand des riesigen Areals fort, und als ich zu guter Letzt doch noch dessen östliches Ende erreiche, habe ich nur noch etwas mehr als einen und einen halben Kilometer zu laufen, bis ich wieder in meiner Pension angelangt bin und meine Wanderung endet.

Zwar bin ich, der in der zurückliegenden Winterzeit nicht sonderlich viele größere Strecken am Stück zurückgelegt hat, nun doch ganz anständig geschafft, doch wirkt eine kleine Erholungsphase von ein, zwei Stunden wahre Wunder. Und so bin ich am frühen Abend bereits wieder fit genug, um auf der Suche nach einem Restaurant, das mir ein anständiges Abendbrot serviert, noch einen kleinen Bummel durch den Ort zu machen.

Am Gemeindeplatz mitten im Zentrum des Ortes entdecke ich in einer kleinen Grünanlage ein Denkmal, das an Einwohner des Ortes erinnert, die im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Eine kleine daran angebrachte Plakette verrät mir, daß es bereits am 16. Oktober 1921 durch den damals im Ort ansässigen Kriegerverein eingeweiht worden ist. Nun, von kriegerischen Traditionen hatte man wohl nach dem darauffolgenden Zweiten Weltkrieg erst einmal die Nase voll, so daß es diesen Verein dann vielleicht nicht mehr gegeben hat. Zur Stiftung eines weiteren Denkmals für die aus dieser Apokalypse nicht mehr heimgekehrten Einwohner scheint er jedenfalls nicht gekommen zu sein, denn ein solches gibt es in Prerow nicht.

Denkmal für den I. Weltkrieg in Prerow
Prerower Gedenken. Sie zogen begeistert in den Krieg und kamen nie zurück. Heute sind sie nurmehr Namen auf einem Stein.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Am nördlichen Ende des Gemeindeplatzes, auf dem sich Grünanlage und Denkmal befinden, finde ich die Touristeninformation des Ortes, die im alten Gemeindeamt untergebracht ist. Ich meine, mich zu erinnern, daß sich zu Zeiten unserer damaligen Urlaube hier die Kurverwaltung befand, die wir nach der Ankunft immer als erstes aufsuchen mußten, um dort unsere Kurtaxe zu entrichten. Dort erfuhren wir dann auch, in welchem der hiesigen FDGB-Heime wir uns täglich einfinden konnten, um unser Mittagessen einzunehmen. Denn auch für Urlauber, die privat ein Zimmer gemietet hatten, boten diese vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR betriebenen Heime mittägliche Urlaubsverpflegung zu moderaten Preisen an. Allerdings konnten wir dort nicht einfach erscheinen, wann wir dazu Lust hatten. Und schon gar nicht war vorgesehen, daß wir jeden Tag in einem anderen Heim zu Mittag aßen. Nein, für den Mittagstisch gab es klare Regeln. Wir meldeten uns in der Kurverwaltung an und bekamen dann vom Feriendienst eines der im Ort ansässigen Heime zugewiesen – oder wurden einem zugeteilt, je nachdem, wie man das sehen möchte. Und damit auch alles seinen geregelten Gang nähme, erhielten wir Essenmarken, die uns als im entsprechenden Ferienheim zum Essen Berechtigte auswiesen. Natürlich hätte wir uns dieser Prozedur nicht unbedingt unterziehen müssen. Es wäre auch möglich gewesen, sich selbst um den Erhalt eines Mittagessens zu kümmern, indem man beispielsweise ein Restaurant besuchte. Angesichts der großen Zahl an Urlaubern wäre das aber stets mit längeren Wartezeiten verbunden gewesen, die man am Eingang des jeweiligen Etablissements zu verbringen hatte, bis man plaziert wurde. Da war es keine Frage, was uns lieber war.

Ist es nicht interessant, welche Erinnerungen plötzlich aus den Tiefen des eigenen Geistes an die Oberfläche aufsteigen, an die man jahrzehntelang keinen einzigen Gedanken verschwendet hat, nur weil man sich nach all der Zeit wieder einmal an einem Ort befindet, an dem man einst gewesen? Bis zu diesem Augenblick habe ich nicht einmal geahnt, was ich aus der Zeit von damals alles noch weiß. Vielleicht sollte ich öfter solche Reisen in die eigenen Erinnerungen unternehmen…

Die Touristeninformation in Prerow
Das alte Gemeindeamt von Prerow – ein Haus wie für den Darß gemacht.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Das Gebäude, das heute die Touristeninformation beherbergt, stammt bereits aus dem Jahr 1931 und ist, so erzählt mir ein ebensolches orangefarbenes Schild, wie ich es tags zuvor bereits an der Bäckerei Koch studiert hatte, im sogenannten Darß-Stil errichtet worden. Für diesen charakteristisch sind das schilfgedeckte Dach und die bunt bemalte Eingangstür. Nun, das kann ich bestätigen. In Prerow und überhaupt auf dem Darß findet man viele solcher Häuser. Dafür fehlen Bauten der sogenannten Bäderarchitektur, wie man sie beispielsweise in Binz, Sellin und den anderen Seebädern auf Rügen so häufig antrifft, hier völlig. Prerow und die anderen Orte auf dem Darß waren eben immer Siedlungen, in denen die einfachen Leute wohnten, die ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdienen mußten. Und als solche waren sie, auch wenn sie Urlauber stets anzogen, nie das Ziel der Reichen und Mondänen. Die einfachen Leute aber, die hier lebten, drückten ihren Stolz auf ihre Heimat und ihre Arbeit dadurch aus, daß sie begannen, ihre Türen mit geschnitzten Motiven zu verzieren und diese zu bemalen. Diese Sitte entwickelte sich mit der Zeit zu einem wahren Charakteristikum für den Darß, so daß die „Darßer Tür“ heute als Markenzeichen der Halbinsel gilt. Besonders oft sind in den Verzierungen Sonnen, Tulpensträuße und Blüten zu finden, was keineswegs Zufall ist. Es handelt sich dabei um alte Darßer Motive.

Ich habe schnell herausgefunden, daß Prerow kein Ort ist, in dem es an jeder Ecke ein anderes Restaurant gibt. Insbesondere der in dieser Hinsicht verwöhnte Großstädter dürfte möglicherweise die Abwechslung vielfältiger internationaler Küchen hier vermissen. Lasse ich jegliche Form von Imbißstand außer Acht, habe ich im Zentrum des Ortes – den Hauptweg zum Strand eingeschlossen – bisher nur zwei Arten fremdländische Küche anbietender Restaurants gefunden: spanisch und italienisch. Letztere scheint hier allerdings überaus beliebt zu sein, denn es gibt gleich drei davon. Desweiteren bin ich an einem Brauhaus mit eher rustikaler und sehr fleischlastiger Küche, einem Fischrestaurant, einem Café sowie drei Etablissements vorübergekommen, die eine gewisse Vielfalt auf ihrer Karte bevorzugen, die von Fisch über Steaks bis zu vegetarischen Gerichten reicht. Wer erwartet, noch mehr Restaurants zu finden, dürfte wohl enttäuscht sein. Nicht so ich. Mir genügt das Angebot vollkommen, und für meine Zeit hier ist auch für genug Abwechslung gesorgt. Außerdem möchte ich, wenn ich irgendwohin reise, auch lieber die dortige lokale Küche probieren als die internationale. Von letzterer habe ich in meiner Heimatstadt Berlin bereits ausreichend zur Verfügung. Eine gewisse Schwierigkeit stellt allerdings die Tatsache dar, daß die hiesigen gastronomischen Einrichtungen ihre Öffnungszeiten in hohem Maße an den von ihnen erwarteten Gästezahlen ausrichten, das heißt danach, ob gerade Urlaubssaison ist oder nicht. Und da wir gerade April haben, uns also noch in der Vorsaison befinden, öffnen einige Restaurants erst um 17 Uhr, während andere an gewissen Werktagen ganz geschlossen bleiben. Das mag hinsichtlich des erwarteten Umsatzes angemessen sein, stellt mich aber vor das Problem, das ich nicht in jedem Restaurant zeitnah einen Platz bekommen kann, wenn ich das gerade möchte. Wie es aussieht, befinden sich bereits genügend Urlauber im Ort, um das zur Verfügung stehende Angebot auszureizen. Letztlich gelingt es mir heute aber doch, genau wie am Vortag, ein Abendessen zu ergattern.

Danach ist es immer noch hell genug, um noch einmal den Weg hinunter zum Strand einzuschlagen. Ich wähle diesmal nicht den Hauptweg, sondern den, der den Prerower Strom über die östlich benachbarte Holzbrücke überquert. Als ich sie hinter mir gelassen habe und den sich anschließenden Dünenwald durchwandere, stoße ich hier auf einige Reste des sumpfigen Geländes, das ich tags zuvor am Hauptweg vermißt hatte. Die dem Horizont bereits entgegenstrebende Sonne sorgt hier für einige schön anzusehende Lichteffekte und im Wasser für interessante Spiegelungen.

Tümpel im Prerower Dünenwald
Der Wald der Gegenwelt.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Am Strand hat jemand nah am Wasser eine Sandburg gebaut. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Kleckerburg. Sie besteht aus einer Ansammlung von Türmen und Türmchen, die sich aneinanderreihen und ein Rechteck bilden, dessen Inneres mit weiteren Türmen angefüllt ist. An den Außenseiten hat der Wind bereits sein Zerstörungswerk begonnen, denn dort sind die Kleckerfassaden schon recht brüchig geworden, so daß ihr Zerfall bereits eingesetzt hat. Doch wird dieser sicher bald beschleunigt werden, wenn auch das Wasser der Ostsee seinen Weg zu der nah an seinem Rand errichteten Burg gefunden haben wird. Noch ist es nicht so weit, doch die Ausläufer der Wellen kommen näher und näher…

Ich erinnere mich noch gut, wieviel Arbeit mit der Errichtung einer solchen Burg verbunden war, denn als Kind habe ich damals an so gut wie jedem Tag eine gebaut, den wir am Strand verbrachten. Dafür braucht man eigentlich nur einen Baustoff: Sand. Weil man aber unter normalen Umständen damit nichts errichten kann, da er einem in trockenem Zustand nur so durch die Finger rieselt, muß noch etwas anderes her: Wasser. Um das zu bekommen, gibt es drei Möglichkeiten. Die erste besteht in der Errichtung der Burg direkt am Wasser. Das hat den Vorteil, daß man kurze Wege hat. Mir machte das allerdings stets wenig Freude, denn zum einen ist die Wassergrenze an einem Strand voller Urlauber immer überlaufen, weil es sich dort bequemer auf dem Sand gehen läßt, zum anderen besteht stets die Gefahr, daß eine mächtigere Welle ein großes Stück den Strand hinaufschwappt und die gerade in Bau befindliche Burg gleich wieder niederreißt. Da war es mir immer lieber, die Burg dort zu bauen, wo wir am Strand gerade lagerten, also nahe an unserem Strandkorb. Da wir auch meist einen Windschutz um unseren Lagerplatz errichteten, hatte das an windigeren Tagen auch den Vorteil, daß die Burg nicht gleich wieder niedergeweht werden konnte. Möglichkeit zwei besteht also darin, weiter oben, gegebenenfalls sogar nah an der Düne mit dem Burgenbau zu beginnen und sich das dafür nötige Wasser mittels Eimern vom Meer zu holen. Weil man jedoch eine ganze Menge Wasser benötigt, bedeutet das ganz schön viel Lauferei. So griff ich stets zu Möglichkeit drei. Die besteht darin, an Ort und Stelle zunächst ein Loch zu graben, und zwar so tief, bis das Grundwasser erreicht ist. Dann hat man Wasser, soviel man benötigt. Je näher an der Düne wir uns befanden, um so tiefer mußte ich graben.

Hatte ich nun also Sand und Wasser, konnte es losgehen. Zunächst galt es, einen halbwegs glatten Untergrund zu bekommen. Also mußte erst einmal jede Menge lockerer Sand – ich nannte ihn immer Zuckersand, weil er im Sonnenlicht so schön glitzerte, wie es Zuckerkörner auch tun – beiseitegeschafft werden. War das getan, begann die Errichtung der Burgwälle und Mauern. Standen diese schließlich, konnte es an den Bau der Türme gehen. Diese wurden, wie es sich für eine Kleckerburg gehört, mittels Kleckertechnik Stück für Stück aufgeschichtet. Dazu mußte ich tief in mein gegrabenes Loch greifen, um aus der Grundwasserschicht mit Wasser durchtränkten Sand heraufzuholen, denn nur dieser ließ sich aus der geschlossenen Faust heraustropfen – also kleckern. Das war an der breiten Basis des Turms immer noch relativ leicht, weil man einfach so draufloskleckern konnte. Doch je höher er wurde, desto schmaler mußte er werden, bis er schließlich in einer schönen Spitze auslief. Das erforderte, da meine Ansprüche an die Ästhetik der Burggestaltung ausgesprochen hoch waren, viel Geschick und Geduld, besonders, wenn es zum Schluß um die Spitze ging, die ihrem Namen natürlich Ehre machen und möglich spitz zulaufen sollte. Aber ich hatte ja Zeit.

Doch was ist eine Burg, die nur aus Burgwällen und Türmen besteht? Da fehlte doch was. Also mußte ein Burgtor her, vor dem sich eine Zugbrücke befand. Und damit die auch über etwas hinüberführen konnte, brauchte die Burg natürlich einen Wassergraben. Um den zu füllen, war viel mehr Wasser nötig, als das gegrabene Loch hergab, so daß ich nun doch mehrmals hinunter zum Meer laufen mußte. Aber was tat ich nicht alles für eine schöne Sandburg. Natürlich ließ sich die Ziehbrücke nicht wirklich hochziehen. Um sie aber möglichst gut aussehen und stabil werden zu lassen, brauchte ich nun noch einen dritten Baustoff: Holz. In Form von Stöcken – oder Stöckern, wie der Berliner sagt. Die konnte ich im nahen Dünenwald sammeln. Aber auch am Strand lag meist genug herum. Ich war schließlich nicht das einzige Kind, das anspruchsvolle Sandburgen baute. Im Inneren der Burg errichtete ich meist weitere Mauern, damit es mehrere Höfe gab. Die konnte ich dann wieder mit Durchfahrten in den Mauern verbinden. Kleine Gebäude in den Höfen zu plazieren, war dann schon wieder eine vergleichsweise leichte Übung.

Und wenn ich mal keine Lust hatte, wieder eine Sandburg zu bauen, dann baute ich Straßenlandschaften. Mit Kreuzungen, Brücken, Bergen und Tunneln. Es gab immer was zu tun.

Sandburg am Prerower Ostseestrand
Kleckerburg am Meeresstrand.
Fotograf: Alexander Glintschert (2023)
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Hatte man zwecks Wasserbeschaffung ein Loch gegraben, mußte man natürlich dafür sorgen, daß dieses später nicht zur Falle für ahnungslose Strandwanderer wurde. Wenn wir also abends unser Lager am Strand auflösten, bestand meine Aufgabe darin, daß am Tag gegrabene Loch wieder mit Sand aufzufüllen. So konnte nichts passieren. Leider wurde mir mein Wasserloch aber einmal selbst zum Verhängnis. Wieder einmal hatte ich eines gegraben und eine prächtige Sandburg gebaut. Mittlerweile war ich dafür schon ganz prächtig ausgestattet und hatte einen kleinen Kinderspaten dabei, der über ein Metallblatt verfügte, mit dem sich in Windeseile ein Wasserloch graben ließ. Als wir des Mittags unser Strandlager für eine Weile verließen, um zum Mittagessen in das uns zugewiesene FDGB-Heim zu gehen, stellte ich, besorgt um meinen Spaten, diesen in das Loch und legte unsere aufgepumpte Luftmatratze darüber. So konnte niemand das Loch und den Spaten darin sehen, geschweige denn entwenden. Eine Gefahr für andere stellte das nicht dar, denn da wir unser Strandlager für den Gang zum Mittagessen nicht extra auflösten, blieb es mittels der Windschutze abgesteckt und niemand konnte hindurchlaufen. Als wir, nach der Nahrungsaufnahme gestärkt, wieder zurückkehrten, hatte ich allerdings das Loch und den Spaten darin völlig vergessen. Da ich etwas lesen wollte, hob ich die Luftmatratze auf, um sie in den Schatten des Windschutzes zu legen. Dabei trat ich unversehens in das darunter zum Vorschein kommende Loch und versank bis zum Knie darin. Ach was, kein Problem. Zog ich den Fuß halt wieder heraus. Da ich nichts spürte, ahnte ich auch nichts Böses und ging weiter, legte die Luftmatratze ab, drehte mich um… und gewahrte plötzlich rote Flecken im Sand! Gerade wollte ich mich fragen, wo die wohl auf einmal herkamen, da spürte ich plötzlich einen stechenden Schmerz am Ballen meines linken Fußes. Weil der eine Weile hatte auf sich warten lassen, war mir völlig entgangen, daß ich beim Tritt in das Loch mit dem Ballen auf das Blatt meines kleinen Spatens geraten war und mir ein Stück Haut aus diesem herausschnitten hatte. Jedoch nicht ganz, denn es war noch dran. Aber der Schnitt war immerhin tief genug, um nun unausgesetzt zu bluten. Ach herrje…

Das Nächste, das ich noch weiß, ist, daß ich im Turm der Rettungsschwimmer am Dünenübergang war. Wie ich dort hingekommen war, hat sich in meiner Erinnerung nicht erhalten. Nun saß ich auf einer Liege – oder war es ein Stuhl? – und sah zu, wie einer der Sanitäter die Wunde an meinem Fuß säuberte und anschließend mit einer Spraydose etwas darauf sprühte. Dieses Etwas erwies sich, als es getrocknet war, als eine Art Pflaster, das nun die Blutung zum Stillstand brachte. Ich war beeindruckt. Flüssiges Pflaster. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Für einen Moment vergaß ich sogar, daß mir der Fuß immer noch wehtat.

Doch was nun? Laufen ging einigermaßen, wenn ich nicht gerade direkt mit dem Fußballen auftrat. Doch an Spielen im Sand oder Badengehen, so schien es, war nun für den Rest des Urlaubs nicht mehr zu denken. Doch auch dafür gab es eine Lösung. Meine Mutter stülpte einfach eine große Plastiktüte über meinen verbundenen Fuß, den sie mit einem Bindfaden festband, und so konnte ich, wenn ich aufpaßte, nicht zu tief hineinzugehen, immerhin im Wasser der Ostsee herumpatschen, wenn auch nicht untertauchen. So wurde es, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, doch noch ein schöner Urlaub.

Diese Kindheitserlebnisse kommen mir eines nach dem anderen in den Sinn, als ich hier am Meeresufer stehe und auf die Kleckerburg hinabblicke, die jemand – möglicherweise ein Kind – an diesem Tag mit Hingabe hier errichtet hat. Morgen wird sie wohl schon wieder im Sand des Strandes versunken sein. Doch heute bringt sie mir einige Erinnerungen an meine Kindheit zurück, und dafür bin ich den kleinen oder vielleicht auch großen Baumeistern dankbar.

Die Sonne ist dem Horizont in der Zwischenzeit wieder ein Stück nähergekommen, und so beschließe ich, den Rückweg anzutreten. Über die Düne, durch den Dünenwald und über den Prerower Strom, an dem ich noch ein wenig verweile, um einen Schwan zu beobachten, der allein auf der ruhigen Wasseroberfläche umherschwimmt, spaziere ich langsam wieder zurück zu meiner Pension. Ein Tag voller schöner Naturerlebnisse und Erinnerungen geht zu Ende…

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Referenzen

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1 Mehr Informationen zu den verschiedenen Dünenarten finden sich in dem Blog marionsostsee.de.
2 Ich bin zwar kein Experte, doch von einer Eidechse scheint mir das Tier weit entfernt zu sein. Nach einigen Vergleichen mit einschlägigen Bildern habe ich mich schließlich entschieden, die Schlange für eine schwarze Kreuzotter zu halten. Wer mich sachkundig eines Besseren belehren kann und möchte, kann mich gerne kontaktieren.