Um so schneller eilt die Zeit, je mehr wir wünschen, daß sie sollt‘ verweilen.
Dieser Erfahrung, die sich zwar physikalisch nicht belegen läßt, doch trotzdem von kaum jemand bestritten werden dürfte, der auch nur über ein Mindestmaß an Lebenserfahrung verfügt, muß auch ich mich an diesem siebten Tag meines Urlaubs in Prerow stellen, denn er ist bereits der letzte meines kleinen Ausflugs, der mich nicht nur hierher auf den Darß geführt hat, sondern auch zu einer Reise zurück in die Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit und Jugend geworden ist, als ich gemeinsam mit meinen Eltern jedes Jahr hier im Urlaub gewesen bin.
Nachdem ich meine gestrige Fahrt nach Barth des ausgesprochen hartnäckigen Regens wegen schließlich hatte abbrechen müssen, ist das Wetter heute wieder zur Ruhe gekommen. Zwar ziehen nach wie vor dicke, mal mehr, mal weniger graue Wolken über den Himmel, wobei sie nach meinem Eindruck eine recht beachtliche Geschwindigkeit an den Tag legen, doch behalten sie die Wasser, die sie in ihrem Inneren tragen mögen, für sich, so daß es heute weidlich trocken bleibt. Allerdings hatte ich mir nach der Erfahrung vom Vortage für heute noch keinen rechten Plan für eine Unternehmung zurechtgelegt, hatten sich doch die einschlägigen Wettervorhersagen samt und sonders geweigert, einen regenfreien Tag zu garantieren. Daher wird sich mein heutiges Programm mehr oder minder spontan gestalten müssen. Doch das muß ja nichts Schlechtes sein…
Meine gestrige ausgiebige Besichtigung der großen Barther Sankt-Marien-Kirche hatte mir etwas wieder in Erinnerung gerufen, das noch auf meiner Wunschliste steht, für das ich aber im Zuge der Ausflüge der letzten Tage noch keine Zeit gefunden hatte: ein Besuch in der alten Seemannskirche von Prerow. Und mangels anderweitiger konkreter Planungen habe ich heute definitiv genug Zeit, diesen Besuch abzustatten.
Gleich nach dem Frühstück mache ich mich auf den Weg. Da ich keinesfalls Gefahr laufen möchte, wieder vor verschlossener Tür zu stehen, wie es nach meinem Prerower Rundgang am späten Nachmittag einige Tage zuvor der Fall gewesen war, ziehe ich es diesmal vor, bereits am Vormittag an der Kirche zu erscheinen. Auf dem vor dem Prerower Strom gelegenen Deich wandere ich zum östlichen Ende des Ortes. An der kleinen Märchenhütte vorbei erreiche ich den Abzweig des Weges, der mich in den Kirchenort hineinführt, wo sich der alte Friedhof befindet, in dessen Mitte sich die Seemannskirche erhebt. Wieder öffne ich das schmiedeeiserne Tor, wieder quietscht es leicht, und wieder gewährt es mir ohne weiteres den Zugang zum Friedhof. Und doch ist, wie ich fasziniert bemerke, die Atmosphäre, die mich dahinter umfängt, heute anders als einige Tage zuvor. Zwar verspüre ich auch heute das Empfinden, eine Welt der Ruhe, der Andacht und der Erinnerung zu betreten, doch wirkt sie jetzt irgendwie zurückgezogener, melancholischer. Ob das an den grauen Wolken liegt, die noch immer über den Himmel jagen? Vielleicht. War bei meinem letzten Besuch der Himmel strahlend blau gewesen und von der abendlichen, dem Horizont entgegenstrebenden Sonne hell erleuchtet worden, die die Kirche und den Friedhof mit seinen Bäumen, Büschen und Hecken in bunte Farben hüllte, so wirken diese heute gleichförmig düster. Von bunten Farben keine Spur. Eher dominieren Grau- und Brauntöne. Melancholie und Traurigkeit scheinen die Atmosphäre zu bestimmen.
Auch die Kirche ist davon nicht ausgenommen. Auch sie scheint heute eher gedrückter Stimmung zu sein. Der hölzerne Turm wirkt dunkel, von dem freundlichen Rot, mit dem das Dach einige Tage zuvor im Licht der untergehenden Sonne so hell leuchtete, ist heute keine Spur zu sehen. Einzig die gelben Ziegel des Hauptweges bringen etwas Farbe in die Szenerie. Schnurgerade führen sie auf die kleine Tür zu, die sich in der Seite des Kirchenschiffes befindet und, wie ich erfreut bemerke, einen Spaltbreit offensteht. Dort angekommen, schiebe ich sie zur Gänze auf und trete ein.
Ich finde mich in einem kleinen Vorraum wieder, nicht viel größer als eine Kammer. Ein Aufsteller präsentiert eine Reihe von Faltblättern mit Informationen zur Kirche, zu stattfindenden Veranstaltungen und vielem mehr, das mich angesichts meiner bevorstehenden baldigen Abreise allerdings nicht sonderlich interessiert, so daß ich meine Aufmerksamkeit alsbald der zweiten Tür zuwende, die auf der gegenüberliegenden Seite des Vorraums weiter in das Kircheninnere hineinführt. Sie gibt meinem Druck nach und gestattet mir einzutreten[1]Leider kann ich auch hier aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Auch wenn ich in der Prerower Seemannskirche kein solches Verbotsschild wie tags zuvor in der Barther … [Weiterlesen].
Nach dem etwas düsteren Eindruck, den die Kirche mit ihrem dunkelbraunen, hölzernen Turm und den rötlich-braunen Backsteinmauern von außen hinterlassen hatte, bin ich ein wenig von der strahlenden Helligkeit überrascht, die mich in ihrem Inneren empfängt. Große Fenster, die ich von außen in den Mauern gar nicht recht wahrgenommen hatte, lassen reichlich Licht einfallen, das eine zusätzliche Beleuchtung des Kirchenschiffes weitestgehend unnötig macht. Lediglich an dessen westlichem Ende, wo sich aufgrund des sich anschließenden Turms keine Fenster befinden, verbreiten ein paar Lampen freundliches gelbes Licht.
Meine Aufmerksamkeit gilt jedoch zunächst dem Ostende des Schiffes und dem dort aufragenden Altar. Auch er sorgt bei mir für einige Überraschung, ist er doch weit von der Schlichtheit entfernt, die man sonst für gewöhnlich in evangelischen Gotteshäusern antrifft. Gut, auch der Altar der Barther Sankt-Marien-Kirche war mit seinem einen Sternenhimmel imitierenden Baldachin nicht gerade ein Ausbund an Schlichtheit gewesen, doch jene Kirche war immerhin im Auftrag eines preußischen Königs gestaltet worden. Bei der Prerower Seemannskirche handelt es sich jedoch um eine reine Dorfkirche, wenn auch eine mit ausgeprägter Tradition, wie ich bei meinem Rundgang feststellen werde. Dies drückt sich auch in dem Altar aus, der nicht nur ausgesprochen schön ist, sondern überdies eine kleine Besonderheit darstellt. Er ist nämlich Altar und Kanzel in einem. Der Altartisch, den eine vor ihm aufgestellte niedrige hölzerne Barriere zum Kirchenraum hin abschließt, befindet sich vor einer hohen Rückwand, die in die Ostwand des Kirchenschiffs integriert ist, an die sich die als Sakristei genutzte Apsis des Gotteshauses anschließt. Diese Rückwand wird nach oben hin von einem Rundbogenaufsatz und zu beiden Seiten von runden Säulen abgeschlossen, zwischen denen sich in etwa eineinhalb Metern Höhe die Kanzel befindet. Auf dem sie bekrönenden Baldachin ist eine kleine Statue zu sehen, deren Kopf ein Strahlenkranz umgibt. Da die Kanzel über keinen sichtbaren Zugang verfügt, muß dieser sich in der Apsis befinden, die durch zwei Türen zugänglich ist, die sich je eine zu beiden Seiten des Altars befinden. Dieser sogenannte Kanzelaltar wurde im Jahre 1728 von dem Stralsunder Meister Elias Keßler geschaffen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß von dieser Kanzel auch der hier von 1813 bis zu seinem Tode im Jahre 1825 tätige Pastor Joachim Gottfried Danckwardt seine Predigten unter das Volk brachte, der ein Lehrer des berühmten Lyrikers und Historikers Ernst Moritz Arndt gewesen ist.
Auf der rechten Seite des Kirchenschiffs, ebenfalls direkt an seinem östlichen Ende, befindet sich der Taufstein der Kirche. Und ebenso wie der Altar ist auch dieser eine Besonderheit, die ich so noch nirgendwo zu sehen bekommen habe. Das liegt allerdings weniger daran, daß es sich gar nicht um einen Stein, sondern vielmehr um ein Taufbecken handelt, das sich auf einem kunstvoll geschnitzten Ständer befindet. Nein, das allein wäre noch nichts sonderlich Außergewöhnliches. Diesen Status erlangt das Taufbecken jedoch durch sein sogenanntes Taufgehäuse. Ich würde es am ehesten als kleinen Pavillon beschreiben, der am Boden von einer umlaufenden Brüstung umgeben ist, die in vier große und acht kleine ornamental durchbrochene Felder unterteilt ist. Vier Pfeiler, an denen sich ebenso viele Figuren befinden, die Engelhermen darstellen, tragen das Dach des Gehäuses, auf dem kleine, allerliebst anzusehende Engelputten sitzen, die Inschriftkartuschen halten und in deren Mitte eine Jesus-Figur steht. Die üppige Vergoldung der Figuren und Brüstungsfelder kontrastiert sehr hübsch mit dem tiefen Blau der Pfeiler, des Daches und des Rahmens der Brüstung. Im Zentrum des Gehäuses befindet sich der geschnitzte Taufständer. Geschaffen wurde dieses beeindruckende Kunstwerk, dessen Positionierung vor zwei großen Eckfenstern es im hellen Tageslicht erstrahlen läßt, im Jahre 1740 von dem Stralsunder Meister Michel Müller.
Nachdem ich mir diese beiden außergewöhnlichen Kunstwerke eingehend angesehen habe, wobei ich über die Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer und die Schönheit der Gestaltung angemessen beeindruckt bin, wende ich mich nun dem Kirchenschiff zu, das rund dreißig Meter lang und etwa halb so breit ist. Und hier finde ich nun auch die Schlichtheit vor, die ich in einer evangelischen Kirche erwartet habe. Obwohl die Seemannskirche ein eher kleines Gotteshaus ist, schließen sich links und rechts an das von einem Tonnengewölbe nach oben hin abgeschlossene Mittelschiff zwei kleine Seitenschiffe an. Sie besitzen jeweils eine flache Decke und werden vom Hauptschiff durch schlanke, mit breiten Rundbögen verbundene Holzpfeiler getrennt. Eine auf schlichten Pfosten aus demselben Material ruhende Empore umläuft das Kirchenschiff an den Längs- und der Westseite. Sie nimmt der Länge nach etwa das halbe Schiff ein. Daß sich auf ihr an den Seiten weitere Sitzplätze befinden, kann ich nur vermuten, denn von hier unten ist von dem, was sich auf der Empore befindet, lediglich die am westlichen Ende des Kirchenschiffs aufgestellte kleine Orgel des Gotteshauses zu sehen.
Der gesamte untere Raum der drei Schiffe wird dort, wo sich an den Seiten die Empore befindet, vom Kirchengestühl eingenommen. Während sich dieses im hinteren Teil auf einfache Kirchenbänke beschränkt, ist es im vorderen, dem Altar zugewandten Bereich als Kastengestühl ausgeführt. Hier befinden sich offenbar die besseren Plätze, die in der Vergangenheit wohl den höhergestellten Mitgliedern der Prerower Einwohnerschaft vorbehalten gewesen sein mögen. Sowohl Gestühl als auch Empore sind in einem hellen Grau gestrichen, wobei in die Begrenzungswände des Kastengestühls ebenso wie in die Brüstung der Empore verzierende Felder eingelassen wurden, deren Innenfläche jeweils in einem hellen Blau gehalten ist und von einem dunkelblauen Rahmen eingefaßt wird. Diese doch recht einfache Farbgestaltung verleiht dem Innenraum eine helle, freundliche Atmosphäre von ausgeprägter Schlichtheit, in der ich mich jedoch ausgesprochen wohlfühle. Abgerundet wird dieser Eindruck durch die dazu passenden Sitzauflagen auf den Kirchenbänken, die das Blau der Felder in Empore und Gestühleinfassungen aufnehmen.
Als ich meinen Blick nach oben hebe und ihn von der Orgel die Empore entlang in Richtung Altar gleiten lasse, entdecke ich in der Mitte des Kirchenschiffs, direkt über den vorderen Reihen der Bänke, ein großes Schiffsmodell, das von der Gewölbedecke herabhängt. Es stellt ein Dreimast-Segelschiff mit Bug- und Hecksegel dar. Votivschiffe wie dieses gibt es in der Kirche mehrere. Und nicht nur hier. Sie repräsentierten in evangelischen Kirchen des Ostseeraumes den Berufsstand des Schiffers beziehungsweise Seemanns und wurden der jeweiligen Kirche gewöhnlich aus Dankbarkeit für die Rettung aus Seenot gestiftet. Das gilt auch für das Schiff, das ich hier im Mittelschiff vor mir sehe und das das größte der drei ist, die die Kirche heute besitzt. Dem Segler Napoleon nachempfunden, wurde es um das Jahr 1850 von einem Kapitän an die Kirche übergeben.
Zu erwähnen sind noch die beiden Kronleuchter, die ebenfalls im Mittelschiff der Seemannskirche aufgehängt sind. Im westlichen Teil des Innenraums entdecke ich einen sechsarmigen, aus Messing bestehenden Leuchter, während vor dem Altar ein – wenn ich mich nicht verzählt habe – zehnarmiger Leuchter aus Kristallglas zu sehen ist. Beide fanden als Stiftungen ihren Weg in die Kirche. Der Messingleuchter wurde 1733 von Prerower Bauern und Fischern übergeben, während um 1800 eine Mannschaft, deren Schiff vor der Küste Prerows strandete und gerettet wurde, den Kristallglasleuchter in die Kirche brachte.
An all diese Kunstwerke und Gegenstände habe ich ebenso wie an den gesamten Innenraum der Kirche keinerlei Erinnerungen aus der Zeit meiner Kindheit und Jugend, als wir uns des öfteren hier in Prerow aufhielten. Wenn wir dabei auch einmal der Seemannskirche einen Besuch abgestattet haben sollten – was ich für durchaus wahrscheinlich halte -, so habe ich mich damals allerdings nicht sonderlich dafür interessiert, weshalb kein bleibender Eindruck entstehen konnte, an den ich mich heute noch erinnern würde. Um so froher und zufriedener bin ich, daß es mir heute möglich war, den Besuch nachzuholen, denn ich bin durchaus der Meinung, daß mir andernfalls etwas Wertvolles und Interessantes entgangen wäre.
Mit diesem Gedanken wende ich mich wieder der Tür zu, durch die ich die Kirche zuvor betreten hatte, und verlasse Gotteshaus und Friedhof auf demselben Wege, auf dem ich gekommen bin.
Und nun? Einen Moment stehe ich unschlüssig auf dem Platz vor dem Friedhof und überlege, was ich als nächstes unternehmen soll. Da die Sonne es mittlerweile schafft, immer wieder einmal durch die nach wie vor recht schnell über den Himmel ziehenden Wolken zu lugen, lenke ich meine Schritte zum nahegelegenen Prerower Hafen. Vielleicht, kommt es mir in den Sinn, könnte ich ja zum Abschluß des Urlaubs noch eine kleine Wanderung durch die von Prielen und Fließen durchzogenen Wiesen und Felder unternehmen, durch die der Prerower Strom seine vielfach gewundene Bahn zieht, die ihn hinüber zum Bodstedter Bodden führt. Das könnte doch eigentlich ganz schön sein, und vielleicht schaffe ich es ja tatsächlich bis hinüber zum Bodden und in das an diesem gelegene Örtchen Wieck. Von dort ließe es sich dann am Nachmittag ganz bequem mit dem Bus nach Prerow zurückkehren.
Je länger ich auf meinem Weg hin zum Hafen über diese Idee nachdenke, desto verlockender erscheint sie mir. So schenke ich dem heftigen Wind, der mich plötzlich von der Seite her umweht, als ich gerade den Prerower Strom überquere, keine große Beachtung. Doch das soll sich kurze Zeit später ändern. Kaum habe ich den Hafen hinter mir gelassen und den kleinen, parallel zum Strom verlaufenden Deich erreicht, auf dem ich die ersten Meter meiner Wanderung zurückzulegen gedenke, muß ich feststellen, daß der Wind durchaus kein Ereignis eines einzelnen Moments zu bleiben gedenkt, sondern hier, wo er durch den Strom und die nahen Wiesen über ausreichend freie Fläche verfügt, nicht nur ausgesprochen beständig weht, sondern sich auch als recht steife Brise entpuppt, die dem Wanderer einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen in der Lage ist. Doch noch will ich mich nicht geschlagen geben. Als ich das Ende des Prerower Ortsteils Krabbenort erreicht habe, wo mich ein Schild recht bestimmt darauf hinweist, daß das Weitergehen auf dem Deich von hier an untersagt ist, folge ich einer kleinen Straße, die zwischen die Häuser hineinführt und mich hoffen läßt, über sie auf deren anderer Seite die Wiesen und einen über jene hinwegführenden Weg zu erreichen. Kaum befinde ich mich zwischen den Häusern, ist der Wind verschwunden. Als die Straße sich nach wenigen Schritten – der Krabbenort ist hier an seinem nahen Ende nur noch zwei bis drei Grundstücke breit – schließlich als Sackgasse erweist, von deren Ende kein Weg in die Wiesen weiterführt, muß ich wohl oder übel umkehren, um mir eine andere Möglichkeit des Weiterkommens zu suchen. Irgendwo wird hier schon ein Weg in die Wiesen zu finden sein.
Kaum habe ich den Deich wieder erreicht, ist auch der Wind wieder da. So langsam wird mir klar, daß der Grund dafür, daß ich ihn bisher nur gelegentlich zu spüren bekommen hatte, wohl darin zu suchen ist, daß mich mein Weg durch Prerow hierher praktisch nie über größere Freiflächen, sondern immer zwischen Häusern und kleinen oder größeren Waldstücken hindurchgeführt hatte. Dabei waren doch die geschwind über den Himmel ziehenden Wolken die ganze Zeit ein recht deutlicher Hinweis auf die Wetterlage und die mit ihr verbundenen Luftbewegungen gewesen. So komme ich zu guter Letzt zu dem Schluß, daß ich wohl, sollte ich bei meinem Vorhaben einer Wanderung über die Wiesen bleiben, mit dem Wind als ständigem Begleiter, wenn nicht gar Gegner würde rechnen müssen. Angesichts der am heutigen Tag nicht allzu hohen Temperaturen, die ich auf höchstens acht Grad Celsius schätze, kommt mir die Aussicht darauf auf einmal gar nicht mehr so verlockend vor wie noch vor etwa einer halben Stunde. Bereits bei dem Gedanken an eine Wanderung in unablässig wehendem steifen Wind vermeine ich ein leichtes Frösteln zu spüren. Dem wäre mit einem dickeren Pullover sicher abzuhelfen, nur liegt dieser im Schrank meines Zimmers. Ihn jetzt von dort zu holen, bedeutete, den ganzen Weg hierher erst zurück- und dann wieder herlaufen zu müssen. Und dazu verspüre ich dann doch eher weniger Lust.
Nachdem ich mich ein wenig für meine unzureichende Tagesplanung gescholten und mich über mich selbst geärgert habe, was mir für eine kleine Weile eine gewisse Mißstimmung beschert, stelle ich schließlich fest, daß das am Ende auch nichts bringt außer schlechte Laune. Und weil ich die nicht haben will, beschließe ich, mit dem zufrieden sein, was ich habe. Und das ist nicht nur der Besuch, den ich der kleinen hübschen Seemannskirche am Vormittag abgestattet hatte, sondern auch die Tatsache, daß mir immer noch ein ganzer Nachmittag zur Verfügung steht. Und da ich mich nun von der Idee freigemacht habe, an diesem letzten Tag noch irgendeine größere Unternehmung in Angriff nehmen zu müssen, ist mir auf einmal völlig klar, was ich mit der verbleibenden Zeit wirklich tun möchte.
Genau wie mir das Begrüßen des Meeres noch am Tage meiner Ankunft eine liebe Tradition geworden ist, die ich aus der Zeit meiner Kindheit und unseren damaligen Urlauben hier in Prerow übernommen habe, so ist auch der Abschied am letzten Tag zu einer solchen geworden. Egal, welches Programm für diesen letzten Tag auch immer vorgesehen war, am Ende gingen wir stets noch einmal an den Strand, um der Ostsee Lebewohl zu sagen – bis zum nächsten Mal. So will ich es auch diesmal halten.
Und so mache ich mich langsamen Schrittes auf den Weg zurück in den Ort, um mich zu verabschieden. Langsam spaziere ich durch die mir inzwischen wieder vertrauten Straßen, komme vorüber an den vielen neuen Häusern und an jenen, die ich noch von damals kenne, wandere ein Stück den Deich und den dahinterliegenden Prerower Strom entlang, den ich auf einer der schmalen Brücken überquere, die hinüber in den Dünenwald führen, in dem sich der altvertraute Ziegelweg unter meine Füße legt. Schließlich gelange ich noch einmal zum Hauptübergang mit seinen zahlreichen Buden, an denen alles verkauft wird, was der geneigte Tourist und Strandbesucher vielleicht brauchen oder zumindest haben wollen könnte, von Souvenirs über Kleidung und Schmuck bis hin zu Bratwurst und Crêpes. Dann stehe ich wieder auf der Düne, wo ich überrascht feststelle, daß man inzwischen die Aussichtsplattform, von der ich vier Tage zuvor noch auf die Pfeiler der Seebrücke und bis hinüber nach Hiddensee geblickt hatte, abgerissen hat. Von ihr ist keine Spur mehr zu sehen.
Hier oben ist natürlich auch der Wind wieder da, von dem während meines Spaziergangs durch den Ort und den Dünenwald so gut wie nichts mehr zu spüren gewesen war, so daß ich ihn inzwischen völlig vergessen hatte. Doch hier, wo die weite Wasserfläche des Meeres ihm keinerlei Hindernis in den Weg stellt, geht er nun voller Inbrunst zu Werke. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen für die in den letzten Tagen so überaus friedliche See. Bereits von hier oben ist deutlich zu erkennen, daß von der spiegelglatten, wellenlosen Meeresoberfläche, die sie mir stets präsentiert hatte, wann immer ich in den vergangenen Tagen zu ihr gekommen war, heute keine Rede sein kann. Zwar wäre es auch völlig übertrieben, davon zu sprechen, daß sich das Meer in Aufruhr befände – so stürmisch ist der Wind dann auch wieder nicht -, doch lassen sich heute immerhin die Wellen sehen, die ich bisher stets hatte vermissen müssen.
Ich stapfe durch den Sand den Strand hinunter zum Wasser, das in heftiger Bewegung ist. Mutwillig dringt es auf den Strand vor und versucht, möglichst große Areale des weißen Sandes zu bedecken, bis ihm die Puste ausgeht und es sich widerwillig wieder zurückziehen muß, nur um sofort einen neuen Anlauf zu wagen. Weiter draußen, wo die Oberfläche des Wassers stark gekräuselt ist und wabernd hin- und herwogt, rollen Wellen auf das Ufer zu, die sich urplötzlich überschlagen und weiße Schaumkronen bilden, wo sie auf Sandbänke treffen, die sich im Meeresboden angehäuft haben und sie in ihrem Vorwärtsdrängen aufhalten. Wirken sie hier noch vergleichsweise harmlos, zeigen sie kurz darauf, wieviel Energie sie tatsächlich in sich tragen. Da sich die Bauschiffe am heutigen Sonnabend wieder in den Nothafen am Darßer Ort zurückgezogen haben, ist der Weg entlang der Pfeilerreihe der im Entstehen begriffenen neuen Seebrücke für die Wellen frei, bis sie auf die aus irgendeinem Grund in den Meeresboden gerammten metallenen und parallel zum Ufer verlaufenden Spundwände treffen. Als wären sie über das unverhoffte Hindernis unvermittelt in Wut geraten, setzen die Wellen von einem Moment auf den anderen die ihnen innewohnende Energie frei, als wollten sie versuchen, es aus dem Weg zu räumen. Doch die metallene Front ist hartnäckig und weicht keinen Zentimeter, so daß den Wellen keine andere Wahl bleibt, als sich in hoch aufspritzenden Gischtfontänen über sie hinwegzusetzen. Das ist jedesmal ein phantastischer Anblick. Keine dieser Fontänen ist wie die andere und eine jede scheint die Höhe ihrer Vorgänger noch überbieten zu wollen. Nicht jeder gelingt es, doch alle versprühen sie Myriaden großer und kleiner Tröpfchen, die über die Spundwände spritzen und auf die dahinterliegende Wasseroberfläche aufschlagen. Doch die Macht der Welle ist gebrochen. Hinter der Spundwand findet sie sich nicht wieder und das Wasser ist ungleich ruhiger. Dieses sich ewig wiederholende Spiel der Wellen entfaltet, je länger ich ihm zusehe, eine schon fast hypnotische Wirkung, die durch das es begleitende rhythmische Rauschen des Wassers noch verstärkt wird.
Am Ende weiß ich gar nicht, wie lange ich hier gestanden und dem Meer in seiner endlosen Bewegung, mit der es, getrieben vom Wind, unverdrossen gegen das Land anbrandet, zugesehen habe. Mir ist, als erblickte ich darin ein Stück der Ewigkeit. Wir kommen in diese Welt und müssen sie irgendwann wieder verlassen, doch das Meer wird auch dann noch dem Spiel seiner Wellen frönen und sie unverdrossen in Richtung Land schicken, wenn wir und Generationen nach uns schon längst nicht mehr sind. Und aus irgendeinem Grund hat dieser Gedanke, obwohl er mich an meine eigene Endlichkeit erinnert, nichts Bedrohliches, sondern etwas sehr Beruhigendes.
Im Geiste verabschiede ich mich von der See und verspreche ihr – und auch mir selbst -, bald einmal wiederzukommen. Vielleicht schon im nächsten Jahr. Vielleicht wird es nicht in Prerow sein, sondern irgendwo anders. Usedom vielleicht. Oder Rügen. Und vielleicht – sicher bin ich mir im nachhinein darüber nicht – spreche ich diese Abschiedsworte auch laut aus und lasse sie vom Wind davontragen.
Mach’s gut, Ostsee. Es war schön. Bis bald mal wieder…
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Leider kann ich auch hier aus dem Inneren der Kirche keine Fotos präsentieren. Auch wenn ich in der Prerower Seemannskirche kein solches Verbotsschild wie tags zuvor in der Barther Sankt-Marien-Kirche vorfinde, bin ich mir nicht sicher, ob ich dies rechtlich als Freifahrtschein für die Veröffentlichung meiner Fotos ihres Innenraums ansehen darf. So muß auch in diesem Falle das Wort genügen, um einen Eindruck des Kircheninneren zu vermitteln.
Ringsum ist kein Laut zu hören. Das ist zumindest mein erster Eindruck, als ich hier, mitten im Dünenwald, für ein paar Minuten innehalte und lausche. Gerade ist die zehnte Stunde des Tages abgelaufen, und auf dem namenlosen Waldweg inmitten der zahllosen Kiefern läßt sich keine Menschenseele entdecken.
Stille.
Wie bereits zwei Tage zuvor malt die Sonne wieder helle Lichtflecken auf den von niedrigen Sträuchern bestandenen Waldboden. Und der Himmel über den Wipfeln der Bäume erstrahlt in einem satten tiefen Blau.
Stille.
Das ist zumindest das, was meine die Großstadt gewöhnten Ohren, geeicht auf deren nahezu ununterbrochenen Lärm, der des Nachts lediglich ein wenig abflaut, doch nie ganz verschwindet, mir zunächst übermitteln. Es dauert seine Zeit, bis sie wahrzunehmen beginnen, daß da mehr ist. Zunächst dringt ein sachtes Rauschen in mein Bewußtsein, zwar nur leise, aber doch vorhanden; mal anschwellend, dann wieder abflauend; eben noch säuselnd und weit entfernt, so daß ich es für das Rauschen des hinter den Dünen gelegenen Meeres halten könnte, ist es plötzlich direkt über mir und um ein Vielfaches lauter, läßt mich unwillkürlich den Blick zu den Kronen der Kiefern heben, die sich sanft hin- und herwiegen. Und gleich entfernt es sich wieder, wird leiser und leiser, bis es schließlich kaum noch zu vernehmen ist. Doch da scheint es auch schon zurückzukehren, nimmt wieder zu und dringt erneut an mein Ohr. Nein, das sind nicht die Wellen des Meeres, das ist der Wind, der an diesem Morgen gemächlich über den Dünenwald streicht, mit den Baumwipfeln spielt und sie gewissermaßen zum Klingen bringt. Und auch die Stämme der Bäume stimmen ein, denn auf einmal nehme ich ein tiefes Knarren und Knarzen wahr, das, so scheint es mir, irgendwie zufrieden klingt, so als ob die Bäume glücklich darüber wären, sich hin- und herwiegen zu können, sich dabei zu strecken und zu dehnen. Und irgendwie verstärken diese Töne des Waldes in mir den Eindruck absoluter Ruhe, die sich für mich nun allerdings nicht mehr als Geräuschlosigkeit ausdrückt, sondern als die Abwesenheit jeglichen unkontrollierten Lärms und Stresses.
In dieser Stimmung angekommen, nehme ich plötzlich auch andere Geräusche wahr. Von irgendwo ertönt der fröhliche Ruf eines Vogels, der um so stärker in mein Bewußtsein dringt, als das Federvolk an diesem Morgen offenbar beschlossen hat, kein lautstarkes Konzert zu veranstalten, sondern ebenfalls die Ruhe des Waldes zu genießen; eine Ruhe, die der irgendwo auf einem Ast sitzende kleine Piepmatz mit seinem fröhlichen Zwitschern nur unterstreicht. Und was war das?! Hat da nicht eben etwas hinter mir geraschelt? Da! Schon wieder! Je länger ich hier innehalte und lausche, desto mehr Geräusche dringen an mein Ohr und überschreiten die Schwelle meiner Wahrnehmung. Geräusche, die ich sonst im Lärm der Großstadt nie zu hören in der Lage bin. Regungslos stehe ich noch eine ganze Weile mitten im Wald und höre zu…
Daß ich mich um diese Zeit bereits hier im Dünenwald aufhalte, hat seinen Grund. Ich bin unterwegs zu einer Verabredung, die ich allerdings nicht mit einer Person, sondern mit einer Unternehmung habe, die für den heutigen Vormittag geplant ist und für die das Wetter gar nicht besser sein kann. Mein Ziel ist der im Prerower Strom gelegene Hafen. Als ich am gestrigen Abend dort vorübergekommen war, hatte ich herausgefunden, daß man Schiffstouren durch den Strom anbot, die bis in den Bodstedter Bodden führen. Und nach all der Lauferei in den letzten drei Tagen hatte ich spontan beschlossen, daß mir für heute ein Ausflug ganz gut täte, bei dem ich es etwas ruhiger würde angehen können. Und so bin ich nun unterwegs zur Anlegestelle, wobei ich mir anstelle des Weges durch den Ort, die Hauptstraße entlang einen kleinen Umweg gönne, der mich den Hauptübergang entlang zum Strom und darüber hinweg hierher in den Dünenwald geführt hat.
Nach der morgendlichen Andacht im Wald innerlich zur Ruhe gekommen, setze ich schließlich meinen Morgenspaziergang fort. Der Weg, in den ich vom Hauptübergang eingebogen bin und dem ich nun folge, verläuft in östlicher Richtung durch den Dünenwald, bis er eine scharfe Biegung nach Südosten macht und kurz darauf den großen Deich erreicht. Ich treffe dort an genau der Stelle ein, wo ich tags zuvor zur Seemannskirche abgebogen war. Geradeaus über den Deich hinweggehend, folge ich auch heute dieser Route, lasse jedoch, als ich sie erreicht habe, die kleine Kirche und den sie umgebenden Friedhof hinter mir und gehe weiter zur Straße, die Prerow hier verläßt und hinüber nach Zingst führt. Dort angekommen, sind es nur noch ein paar Meter bis zum Hafen. Da ich jedoch trotz meines Verweilens im Wald bis zur Abfahrt meines Schiffes noch mehr als eine Stunde Zeit habe, wende ich mich anstatt nach rechts in die entgegengesetzte Richtung, wo, wie ich weiß, der alte Prerower Bahnhof zu finden ist. Wenn ich schon einmal in dieser Gegend bin, dann will ich doch auch einmal einen Blick darauf werfen.
Es sind nur wenige Meter bis dorthin. Die Straße macht einen kleinen Schwenk nach links und gibt so den Platz frei für ein Gelände, das von einem großen roten Ziegelbau dominiert wird, der seine Herkunft eines alten Bahnhofsgebäudes kaum verleugnen kann. Da er parallel zur Straße ausgerichtet ist, wendet er mir seine westliche Schmalseite zu, die von sechs großen Bogenfenstern dominiert wird, deren fünf unmittelbar nebeneinander liegen, während das sechste sich in einigem Abstand zu diesen an der abgeschrägten Hausecke befindet. Bei genauerem Hinsehen stelle ich fest, daß es sich bei einem der fünf Fenster eigentlich um eine Tür handelt. An dieser bemerke ich auch den ersten deutlichen Hinweis auf die Eisenbahnvergangenheit des Gebäudes, denn in dem über ihr befindlichen oberen Bogenfeld ist der Flügel eines einstigen Formsignals zu sehen. Der zweite untrügliche Hinweis besteht in der ebenfalls bogenförmigen Aufschrift, die an der Ziegelwand zwischen dem abgesetzten Fenster und den anderen fünf angebracht worden ist. Alter Bahnhof steht dort weithin sichtbar. Und darunter: Restaurant. Wahrscheinlich ist es hinter den aneinandergereihten Bogenfenstern zu finden, die den Eindruck vermitteln, zu einem größeren Saal zu gehören.
Über diesem Erdgeschoß türmt sich bereits das schwarze Dach des alten Gebäudes, das in mehreren Abstufungen schräg nach oben aufragt und wenigstens einer weiteren Etage unter sich Platz gewährt. Tatsächlich ist es höher als die Ziegelwand und die Fenster, die das zu ebener Erde gelegene Geschoß bilden. Als ich der Straße weiter folge, um neben das Gebäude zu gelangen, kann ich nach und nach seine gesamte, dieser zugewandte Längsseite in Augenschein nehmen und dabei weitere Hinweise auf die mit der Eisenbahn in Verbindung stehende Geschichte des Hauses entdecken – wie die aus der Hauswand ragende kreisrunde Bahnhofsuhr mit ihrem schwarzen Rahmen, die sich, wie es sich für eine gute Bahnhofsuhr gehört, beharrlich weigert, die korrekte Zeit anzuzeigen. Am davor verlaufenden Zufahrtsweg steht ein dreieckiges Verkehrsschild mit rotem Rand, auf dem eine schwarze Dampflokomotive zu sehen ist. Der unbeschrankte Bahnübergang, vor dem es warnt, ist allerdings nirgends zu finden.
Die Mitte des Gebäudes wird von einer nach oben hin spitz zulaufenden Giebelwand gebildet, in der sich unzweifelhaft der Haupteingang befindet, über dem sich der bogenförmige Schriftzug Alter Bahnhof wiederholt. Der Zusatz Restaurant fehlt hier zwar, doch gibt es eine andere Ergänzung. Denn mag man früher auch als Reisender durch diese Tür den Bahnhof betreten haben, so verkündet die Aufschrift auf dem der Tür vorgelagerten Baldachin in großen Lettern nun, wohin man heute gelangt, wenn man sie durchschreitet. HOTEL ist dort zu lesen. Die drei Sterne über dem Buchstaben in der Mitte des Wortes machen deutlich, daß es sich durchaus um ein Etablissement mit Anspruch handelt. Unmittelbar vor diesem Haupteingang sind auch die beiden deutlichsten Hinweise darauf zu finden, daß dies hier einst ein Bahnhof war: ein intaktes Formsignal mit einem schräg nach oben ragenden Flügel, der der darunter auf einem Gleisfragment aufgestellten kleinen Diesellokomotive vom Typ Kö II des Herstellers Krupp freie Fahrt anzeigt – ein Hinweis, der angesichts des direkt vor der Lok aufgestellten Prellbocks etwas ironisch wirkt.
Ein Hotel also. Da ergeht es diesem alten Bahnhofsgebäude definitiv besser als manch anderem seiner Geschwister an den Bahnstrecken in ganz Deutschland, die man mittlerweile stillgelegt hat, um lieber die Kosten und Profite zu optimieren als die der Bevölkerung zur Verfügung gestellten Verkehrsverbindungen. Und selbst an Bahnstrecken, die noch in Betrieb sind, verfallen viele der einst stolzen Bahnhofsgebäude, weil ihre Erhaltung Geld kosten und so die genannten Profite schmälern würde. Dieser alte Bahnhof hingegen sieht ausgesprochen gepflegt und gut erhalten aus.
Daß hier ein Zug hielt, ist schon viele Jahre her. Die Geschichte der hiesigen Eisenbahn begann im Jahre 1888, als man zwischen Velgast und Barth eine neu geschaffene Zugverbindung in Betrieb nahm. Weil jedoch die Zahl der Badegäste, die des Sommers in die hiesigen Ostseebäder strömten, stetig zunahm, entschloß man sich zwanzig Jahre später, die Strecke über Zingst bis nach Prerow zu verlängern. Bereits nach nur zwei Jahren Bauzeit ging die sogenannte Darßbahn in Betrieb. Sie war ein überwältigender Erfolg. In kürzester Zeit mußten die Dampfschifflinien, die bis dahin das Monopol auf die Verkehrsverbindung zum Festland hatten, ihren Betrieb einstellen. Mit der Eisenbahn und deren unbestreitbarem Vorteil, ihren Betrieb auch im Winter uneingeschränkt aufrechterhalten zu können, waren sie nicht in der Lage zu konkurrieren. Jahr für Jahr erreichte die Darßbahn steigende Fahrgastzahlen.
Das Sturmhochwasser von 1913, das die Strecke beschädigte, und der kurz darauf Europa verheerende Erste Weltkrieg sorgten dann jedoch für einen großen Einbruch, von dem sich die Bahn auch in den 1920er Jahren nicht so recht erholen konnte, als Deutschland von verschiedenen ökonomischen Krisen heimgesucht wurde. Erst die dreißiger Jahre brachten wieder einen Aufschwung, mit dem die Darßbahn an ihre einstige Bedeutung, die sie vor dem Ersten Weltkrieg hatte, anknüpfen konnte.
Der Zweite Weltkrieg brachte mit seinen Folgen schließlich das Ende der Darßbahn. Zwar überstand die Strecke die Kriegshandlungen weitestgehend unbeschädigt, doch wurde der Abschnitt zwischen Prerow und Bresewitz kurz nach Kriegsende abgebaut. Die Gleise hatten als Reparationsleistung für die Sowjetunion zu dienen. Seitdem ist in Prerow kein Zug mehr gefahren. Nur wenige Jahre später kam dann auch der Zugverkehr zwischen Barth und Bresewitz endgültig zum Erliegen, als dieser Streckenabschnitt das Schicksal des ersten teilte. Seitdem können Fahrgäste mit der Eisenbahn nur noch bis Barth fahren, so wie auch ich es bei meiner Anreise vor einigen Tagen getan hatte. In den 1960er Jahren baute man zwar die Strecke bis Bresewitz wieder auf, doch blieb sie der Nationalen Volksarmee der DDR vorbehalten, die sie zur Versorgung ihres Stützpunktes auf der Halbinsel Zingst nutzte. Das Ende der DDR bedeutete dann allerdings das endgültige Aus jeglichen Eisenbahnverkehrs ab Barth.
Heute besteht die Trasse der einstigen Darßbahn noch immer, wenn auch auf den verschiedenen Abschnitten in stark unterschiedlichem Zustand. Teils liegen noch Gleise, teils wird sie als Radweg genutzt. Zwischen Zingst und Prerow ist sie hingegen kaum noch wahrnehmbar. Die Bahnhofsgebäude wurden in den 2000er Jahren saniert. Dies diente jedoch nicht etwa einer Wiederinbetriebnahme der Strecke, sondern lediglich der Vorbereitung des anschließenden Verkaufs an Privatleute. Aus diesem Grunde ist der alte Bahnhof Prerow heute ein Hotel.
Wie lange dieses noch Bestand haben wird, ist heute allerdings durchaus fraglich. Im Jahre 2002 hatte nämlich die Usedomer Bäderbahn den Personenverkehr zwischen Velgast und Barth übernommen. Seitdem haben Überlegungen zur Wiederherstellung der Darßbahn mehr und mehr an Gestalt gewonnen. Doch wie bei so ziemlich allem, was im heutigen Deutschland unter Beteiligung der öffentlichen Hand in Angriff genommen wird, mahlten die Mühlen der Bürokratie unendlich langsam. Es dauerte bis zum Jahr 2020, daß die Wiedererrichtung der Strecke von Barth über Zingst nach Prerow schließlich wenigstens beschlossen wurde. Man rechnet momentan mit einer Bauzeit bis 2028. Ich vermute jedoch, daß es wesentlich länger dauern wird, denn auf meiner Busfahrt von Barth nach Prerow im Zuge meiner Anreise, die ein großes Stück parallel zur einstigen Trasse der Darßbahn vonstattenging, konnte ich absolut nirgends auch nur den kleinsten Anschein von im Gange befindlichen Bauarbeiten erkennen. Wahrscheinlich hat man bisher noch nicht einmal damit begonnen. So wird wohl auch das Hotel im Alten Bahnhof von Prerow noch einige Jahre vor sich haben.
Zwar liegt die Abfahrt meines Schiffes noch immer in komfortabler zeitlicher Entfernung, doch gibt es hier nicht viel mehr Interessantes zu sehen. So mache ich mich auf den Weg zum Hafen. Vielleicht kann ich mich ja dort noch ein wenig umschauen. Im Weggehen werfe ich noch einen Blick hinter das alte Bahnhofsgebäude, wo sich einst der Bahnsteig mit den Gleisen befunden haben muß. Nach meinem Eindruck ist er noch vage zu erkennen, auch wenn das Gelände heute vollständig grasbewachsen und mit einem Spielplatz versehen ist. Sollte hier in Zukunft jemals wieder ein Zug verkehren, werde ich ganz sicher einmal an diesem Bahnhof aus einem aussteigen. Vorausgesetzt natürlich, das geschieht noch zu meinen Lebzeiten. In Deutschland weiß man ja nie…
Gute fünf Minuten später bin ich am Hafen angekommen. Gerade als ich von der Straße abbiege, um zu dem kleinen Kai zu gelangen, an dem zwei Schiffe angelegt haben, wird bei dem ersten der beiden der Zugangssteg eingezogen. Langsam setzt es sich in Bewegung, wobei sich zwischen Schiffsrumpf und Kai eine stetig größer werdende Lücke auftut. Um dort mitzufahren, bin ich definitiv zu spät dran. Glücklicherweise hatte ich das gar nicht vorgehabt. Genaugenommen hatte ich nicht einmal damit gerechnet, dieses Schiff hier noch anzutreffen, denn meinen am Abend vorher in Erfahrung gebrachten Informationen zufolge sollte es eigentlich bereits seit gut zehn Minuten unterwegs sein. Offenbar läßt man sich hier Zeit. Doch warum auch nicht? Schließlich geht es ja nur um eine Ausflugsfahrt und nicht um einen Fährbetrieb.
Das Schiff entfernt sich zusehends vom Ufer, wendet und nimmt, als es die Mitte des Stroms erreicht hat, Fahrt auf. MS Ostseebad Prerow kann ich an seiner Seite lesen. Dem Aufsteller neben seinem Liegeplatz am Kai entnehme ich, daß es von der Reederei Rasche betrieben wird. Von moderner Bauart, macht es einen durchaus schnittigen Eindruck. Als Passagier hat man, soweit ich es von hier aus sehen kann, die Wahl, ob man im unteren Fahrgastraum oder oben auf dem Sonnendeck sitzen möchte. Wie es scheint, haben sich die meisten der an Bord befindlichen Fahrgäste für die zweite Möglichkeit entschieden, was angesichts des momentan absolut wolkenlosen blauen Himmels und der strahlenden Sonne nicht verwundert. Eine Fahrt auf diesem Schiff wäre sicher angenehm gewesen, doch hatte ich mich bereits am Abend zuvor für die Tour mit der MS Baltic Star entschieden, die eine Stunde später abfahren soll. Der Grund ist ebenso einfach wie kitschig: bei der Baltic Star, die von der Konkurrenzreederei Poschke betrieben wird, handelt es sich um einen Schaufelraddampfer.
Nun ist es nicht so, daß Schaufelraddampfer im Stil nordamerikanischer Flußschiffe hier in Prerow eine besonders ausgeprägte Tradition hätten. Genaugenommen ist der Prerower Strom, wie ich bereits weiß, nicht einmal ein Fluß. Auch findet man heute auf vielen Flüssen in Deutschland, die Schiffahrt ermöglichen und wo man sich mit Urlaubern ein gutes Geschäft versprechen darf, derartige Schaufelraddampfer mit ihren übereinanderliegenden, mit balustradenartigen Geländern versehenen charakteristischen Oberdecks und den beiden nach oben hin in gezackten Kronen auslaufenden Schornsteinen, aus denen man jedoch kaum einmal Rauch aufsteigen sieht, denn das Heizen mit Kohle wäre in heutigen Zeiten kaum noch wohlgelitten, erst recht nicht in einem Nationalpark wie dem hiesigen Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Und doch sind diese historisierenden Schiffe bei den Urlaubern stets außerordentlich beliebt, muß man doch auf diese Weise nicht bis nach Amerika und erst recht nicht in der Zeit zurückreisen, um sich einmal wie auf einem großen Flußdampfer auf dem Mississippi in den Südstaaten der USA des 19. Jahrhunderts zu fühlen. Ich bilde da keine Ausnahme. Unwillkürlich kommen mir die Digedags in den Sinn, jene von Hannes Hegen erdachten Helden der Mosaik genannten Comicreihe, die mich in meiner Kindheit und Jugend begleitet haben und in deren ersten Ausgaben der Amerika-Serie ich ein Wettrennen zwischen zweien dieser Mississippi-Dampfer hautnah miterleben konnte. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft ich diese Geschichten schon gelesen habe. Auch heute noch nehme ich sie immer wieder einmal aus dem Schrank und vertiefe mich für einen Abend oder zwei in die Welt der Digedags, die in den verschiedensten Teilen der Erde zu den unterschiedlichsten Perioden der Weltgeschichte, ja sogar in der Zukunft im Weltraum ihre Abenteuer erleben – und damals wie heute meine Phantasie beflügeln. So ist es für mich kein Wunder, daß ich, als ich tags zuvor von diesem Dampfer erfuhr, ohne groß nachzudenken entschied, daß meine heutige Ausflugsfahrt in den Bodden mit ihm stattzufinden hätte.
Doch noch habe ich eine gute Dreiviertelstunde Zeit bis zur Abfahrt. Die nutze ich nun, um mich ein wenig im Umfeld des Hafens umzusehen. Über ihn selbst ist nicht allzu viel zu sagen. Betritt man so wie ich den Hafenbereich von der Straße aus, gelangt man unmittelbar an den Kai für die Fahrgastschiffe. Von hier aus brechen die Schiffe zu den Boddenfahrten auf, doch auch Fähren legen hier an, die Prerow zu Wasser mit Born und Bodstedt verbinden. Während man ersteres noch gut auch per Straße erreichen könnte, erforderte dies für letzteres schon eine recht weite Umfahrung des Bodstedter Boddens. Auf der dem Kai gegenüberliegenden Seite des Stroms ist dessen Ufer dicht mit Schilf bestanden. Dort stehen drei alte Holzhäuser mit charakteristischen Reetdächern, in deren Rücken die Straße vorüberführt. Den ihnen beigegebenen Stegen mit den daran vertäuten Ruderbooten nach zu urteilen, sind diese kleinen Fischerhütten heute noch in Benutzung.
Das Ende des Kais bedeutet jedoch nicht das Ende des Hafens, wie ich feststellen kann, als ich dort angekommen bin. Vor mir sehe ich nun die ausgedehnte Wasserfläche des Stroms, der, so liest man häufiger, hier am Hafen endet. Tatsächlich stimmt das, wie ich bereits weiß, nur zum Teil, war doch der Prerower Strom einst mit der Ostsee verbunden und wurde erst nach der großen Sturmflut des Jahres 1872 von dieser getrennt. Reste des Stroms sind allerdings auch heute noch jenseits der am Hafen vorüberführenden Straße vorhanden, wo sie wie kleine, aneinandergereihte Seen wirken. Die beiden Gewässer links und rechts des Hauptübergangs, die das Zentrum des Ortes vom Dünenwald trennen, gehören dazu.
Die vor mir liegende Wasserfläche wird zu beiden Seiten von schilfbewachsenen Ufern eingefaßt, von deren rechtem – dasjenige, an dem ich mich befinde – drei große Stege bis fast zur Mitte des Stroms hinausragen, die von jeder Menge Pfählen gesäumt werden. Sie markieren die fast sechzig Liegeplätze für jede erdenkliche Art von Booten. Jetzt in der Vorsaison ist jedoch noch kein einziger belegt, was mir einen ungehinderten Blick auf die Landschaft rings um den Strom gewährt. Nur ganz hinten, nahe dem Horizont, zieht ein Schiff einsam seine Bahn den Strom entlang. Es ist eben jenes, das seine Fahrt begonnen hatte, als ich am Hafen eintraf.
Ich wandere ein Stück den vom Kai wegführenden Uferweg entlang, der mich hinter dem Schilf zu den Stegen bringt. Dabei entdecke ich eine hier aufgestellte große Informationstafel, die sich vornehmlich an die Wassersportler und -wanderer richtet, denen sie Verhaltensregeln und Hinweise für die Befahrung der Boddengewässer vermittelt. Für mich ist sie jedoch trotzdem interessant, da sie auch eine Karte der gesamten Boddenlandschaft des hiesigen Nationalparks zeigt und die einzelnen Gewässer, die bis hinüber zur Insel Rügen reichen, näher beschreibt. So erfahre ich beispielsweise, daß die Fischland, Darß und Zingst vom Festland trennenden Wasser von insgesamt vier verschiedenen Bodden gebildet werden. Ganz am Ende der Kette liegt der Saaler Bodden, an dessen südlicher Spitze sich die Stadt Ribnitz-Damgarten befindet. Mit seinen ausgedehnten Sandbänken bietet er wichtige Nahrungsgründe für viele Arten von Entenvögeln. Brandgänse, Löffelenten und Krickenten sind nur einige der Artenbezeichnungen, die ich noch nie zuvor gehört habe.
Auf den Saaler Bodden folgt, mit ihm durch den sogenannten Koppelstrom verbunden, der Bodstedter Bodden, der das Ziel meiner heutigen Fahrt sein soll. Die Tafel verrät mir, was ich zu sehen bekommen werde: Bülten und Haken. Und bevor ich beginnen muß zu rätseln, was das wohl sein möge, wird es mir auch erklärt. Bülten sind Inseln, Haken Halbinseln. Beide sind sie flach, bestehen aus Torf und säumen die Randbereiche des Boddens. Hier haben sie Salzgras und Brackwasserröhricht die Möglichkeit geboten, sich im Übergangsbereich vom Land zum Wasser anzusiedeln, so daß sich Moore gebildet haben, die teilweise schon recht alt sind – ein einzigartiger Lebensraum, in dem eine Vielzahl verschiedener Arten Wasservögel seine Brutgebiete gefunden hat.
Der Bodstedter Bodden hatte einst eine direkte Verbindung zur Ostsee – den Prerower Strom. Über die Meerenge Meiningen gelangt man vom Bodstedter Bodden in den Zingster Strom und zum östlich gelegenen Barther Bodden. Dieser ist vergleichsweise flach und reich an Fischen, was sowohl Wasservögeln als auch Menschen eine gute Lebensgrundlage gewährt. So ist es kein Wunder, daß die beiden Boddeninseln Kirr und Barther Oie sich zu regelrechten Vogelbrutgebieten entwickelt haben. Über sechzig verschiedene Arten sollen es sein, die hier nisten. Darüberhinaus dient dieses Gebiet Kranichen auf ihren Zügen als Rastplatz. Besonders im Herbst, wenn sie mit ihren Nachkommen unterwegs sind, halten sich die Kraniche hier länger auf und können zu dieser Zeit sehr gut beobachtet werden.
Die Kavelnrinne führt vom Barther Bodden in den Grabow, der sich noch weiter im Osten befindet und das einzige dieser flachen Gewässer ist, das auf den Begriff Bodden in seinem Namen verzichtet. Vielleicht liegt der Grund darin, das er der Ostsee am nächsten gelegen ist und so den Übergang zu ihr bildet. Dieser wird von zwei größeren Inseln, dem Großen und dem Kleinen Werder, versperrt, die den Kranichen auf ihrem Herbstzug als Rastplatz dienen. Zehntausende dieser Vögel übernachten dann hier, die es zu würdigen wissen, daß sie auf diesen Inseln vor dem Zugriff von Füchsen sicher sind. Der Grabow ist mit vier Metern in seinem Zentrum recht tief, seine Randbereiche weisen allerdings ausgedehnte Areale auf, in denen das Wasser recht flach ist. Sie wurden von Salzwasserfischen wie dem Hering zu ihrem Laichgebiet erkoren. Wegen des geringen Salzgehalts der Boddengewässer haben jedoch auch Süßwasserfische wie Hechte und Zander hier Räume für ihre Fortpflanzung gefunden.
Zur Boddenlandschaft im Nationalpark gehören der Tafel zufolge auch der Wieker und der Kubitzer Bodden, die sich jedoch schon im Einzugsgebiet der Insel Rügen befinden und somit nicht mehr Teil der Fischland, Darß und Zingst vom Festland trennenden Wasserlandschaft sind.
Ich spaziere weiter am Ufer entlang, inspiziere die Stege des Hafens aus nächster Nähe und stoße auf ein kleines Häuschen, in dem die Besitzer der im Hafen anlandenden Schiffe solch wichtige Einrichtungen wie ein WC, eine Dusche oder eine Waschmaschine finden können. Zu dieser Zeit des Jahres scheint es allerdings geschlossen zu sein, was aber nicht weiter schlimm ist, denn es liegt ja auch kein Boot im Hafen vor Anker. Über das Schilf hinweg kann ich zur anderen Seite des Stroms blicken, wo ich nun das Gebäude des alten Prerower Bahnhofs mit seiner Bahnsteigseite direkt vor mir habe. Ich stelle mir die rauchende und fauchende Dampflok an der Spitze eines Zuges vor, wie sie dort mit den hinter ihr aufgereihten Waggons am Bahnsteig steht und ungeduldig darauf wartet, daß es endlich losgeht. Vielleicht ist es ja in nicht allzu ferner Zukunft wieder soweit. Nur eine Dampflokomotive wird es dann wohl nicht mehr sein, die die Waggons hinter sich herzieht…
Als der Weg an einem geschlossenen Bootsverleih schließlich endet, wende ich mich landeinwärts, wo hinter einer Wiese ein vergleichsweise niedriger Deich verläuft, hinter dem sich ein paar Häuser befinden. Es ist dies der einzige östlich der Landstraße, die die Orte von Fischland, Darß und Zingst verbindet, gelegene Ortsteil Prerows, der den schönen Namen Krabbenort trägt. Wie mir scheint, besteht er vornehmlich aus Einfamilien- und Ferienhäusern.
Ein Blick auf die Uhr belehrt mich, daß ich mich nun besser auf den Rückweg machen sollte, will ich die Abfahrt nicht verpassen. So wandere ich den schmalen Pfad auf der Deichkrone entlang zurück zum Kai. Dort angekommen, stelle ich fest, daß der Zugangssteg zum Dampfer bereits ausgelegt ist. So zögere ich nicht länger, gehe hinüber und betrete das Schiff.
Gleich am Eingang steht ein Mann neben einem Tisch, auf dem er eine kleine Kiste stehen hat, die sehr an das Aufbewahrungsbehältnis erinnert, das in Piratenfilmen gewöhnlich für Schätze verwendet wird. Sollte ich mich über dieses Utensil gewundert haben, wird mir sein Zweck sofort klargemacht, denn um weiter in das Schiffsinnere vordringen zu dürfen, muß ich erst einmal den Fahrpreis entrichten. Das von mir dafür übergebene Geld landet – wie sollte es auch anders sein – unverzüglich in der Schatzkiste. Dafür erhalte ich ein kleines Stück Papier, dessen Besitz es mir gestattet, mich frei auf dem Schiff zu bewegen. Das nutze ich auch gleich weidlich aus, um die nächstgelegene Treppe aufzusuchen und ins obere Deck hinaufzusteigen. Dort gibt es im Heckbereich einige Bänke, doch halte ich mich nicht weiter auf, denn mein Ziel liegt noch eine Etage höher. Eine weitere Treppe bringt mich hinauf. Auf dem obersten Deck angekommen, schaue ich mich um. Zwei Reihen Tische und Bänke, aufgereiht an den die Längsseiten des Decks begrenzenden Geländern, dazwischen ein langer schmaler Gang – das ist alles. Das hintere Ende bildet die Treppe, am vorderen ragen die beiden großen Schornsteine mit ihren Zackenkronen in die Höhe. Zwischen ihnen spannt sich ein bogenförmiges Schild, dessen roter Grund blaue, weiß umrandete, in Westernschrift gehaltene Buchstaben zeigt, die den Namen des Schiffes verkünden: Baltic Star. Darüber prangt in der Mitte das Logo der diesen Ostsee-Stern betreibenden Reederei Poschke, eine an einen schwarzen Stab geknüpfte blaue Flagge mit vier weißen Sternen in jeder Ecke und einem in der derselben Farbe gehaltenen Anker in der Mitte, über dem die ebenfalls weißen Buchstaben R und P zu sehen sind. Von den Schornsteinen bis zum hinteren Ende des Decks hat man entlang dessen Längsseiten jeweils eine Kette gespannt, die aus Glühlampen besteht, zwischen denen blaue und weiße Wimpel fröhlich im Winde flattern.
Die Tische sind nahezu alle noch leer. Nur ganz vorn hat sich bereits ein Pärchen plaziert, das jedoch völlig mit sich selbst beschäftigt ist und mich gar nicht beachtet. Ich suche mir einen Tisch auf der linken Seite und zwänge mich auf eine der beiden Bänke, die man, um möglichst viele Plätze auf dem Deck unterbringen zu können, recht nah am Tisch positioniert hat. Glücklicherweise bin ich schlank genug, um ohne größere Probleme dorthin zu passen. Ich lege meinen Rucksack auf die Bank neben mich, lehne mich zurück und harre der Dinge, die da kommen mögen.
Das sind zunächst ein paar weitere Leute. Nach und nach treffen sie ein, suchen sich einen Platz und setzen sich. Trotz der Vorsaison sind es doch schon ansehnlich viele, auch wenn das Schiff noch weit entfernt davon ist, mit Fahrgästen gefüllt zu sein. Ich beachte sie jedoch nicht weiter, denn ich bin damit beschäftigt, mir von hier oben die Gegend anzusehen und die Sonne zu genießen, die ihre wärmenden Strahlen zu uns herunterschickt. Es ist so warm, daß ich die Jacke ablegen kann.
Minute um Minute vergeht, die Abfahrtszeit rückt näher und näher – und ist schließlich vorüber. Auch auf meinem Schiff hat man es offensichtlich nicht sonderlich eilig. Mich stört das allerdings wenig, denn mir geht es nicht anders. Gute zehn Minuten später ist es dann endlich soweit. Die Maschinen werden angeworfen, was eine Welle der Erschütterung durch den Schiffskörper schickt, die bis hier oben hin zu spüren ist und mir einen wohligen Schauer der Erwartung durch den Körper laufen läßt. Ich kann förmlich spüren, wie sich das am Heck befindliche Schaufelrad in Bewegung setzt und das Wasser aufwühlt. Langsam entsteht wieder eine Lücke zwischen Schiff und Kai, die größer und größer wird, und als unser Dampfer genug Abstand zwischen sich und das Ufer gebracht hat, nimmt er schließlich Fahrt auf und steuert den vom Hafen wegführenden Strom an. Wir sind unterwegs.
Zunächst geht es in einem Bogen ein Stück in Richtung Norden. Links ziehen Wiesen vorüber, auf denen sich einige Graugänse tummeln. Dahinter liegt der alte Bahnhof. Gerade als wir ihn passiert haben, gewahre ich neben uns eine weitere Wasserfläche, die sich ein Stück voraus mit dem Strom, auf dem wir unterwegs sind, vereinigt. Freundlicherweise erhalten wir Fahrgäste vom Schiffsführer über die Lautsprecheranlage Erklärungen zu dem, was wir an den beiden Ufern zu sehen bekommen. Aus diesen überaus unterhaltsam vorgetragenen Informationen erfahre ich, daß ich den alten Bootshafen vor mir sehe. Da dieser mit der Zeit zu klein geworden war, hat man vor einiger Zeit den neuen errichtet, an dessen Ufer ich vorhin entlangspaziert war.
Wir haben die erste große Kurve unserer Fahrt nahezu vollendet und sehen vor uns eine bewaldete Erhebung, einen Hügel, der angesichts des hiesigen sonst sehr flachen Landes ausgesprochen hoch wirkt. Es handelt sich um die Hohe Düne. Die auffällige Höhe wirkt, wenn man sie mit einer Zahl benennt, gar nicht mehr so beeindruckend, sind es doch gerade einmal dreizehn Meter, die sie mißt. Und doch, verglichen mit der Umgebung hat die Hohe Düne ihren Namen redlich verdient. Und tatsächlich handelt es sich um eine Ausformung der dem Ostseestrand vorgelagerten Sanddünen.
Wir sind jetzt wirklich genau in Richtung Norden unterwegs, und angesichts der sich nähernden Dünen könnte man tatsächlich meinen, wir wollten auf direktem Wege in die Ostsee fahren. Doch der Prerower Strom nähert sich ihr hier nur an und beschert so der einstigen Insel und heutigen Halbinsel Zingst ihre schmalste Stelle, an der das Land zwischen Strom und Ostsee gerade einmal einhundert Meter breit ist.
Der Prerower Strom beschreibt nun einen weiten Bogen, zuerst in Richtung Osten und dann zurück nach Süden, bis wir wieder auf der Höhe des Prerower Hafens angekommen sind. Nun geht es, sieht man einmal von gelegentlichen Schlenkern ab, ununterbrochen in südöstlicher Richtung gen Bodden.
Die Fahrt verläuft ruhig und lädt dazu ein, sich zurückzulehnen und einfach nur nach links und rechts über das weite Land zu schauen. Allerdings ist es, seit wir unterwegs sind, nun nicht mehr so warm wie noch im Hafen. Obwohl unser Schiff gewiß nicht mit rasender Geschwindigkeit unterwegs ist, macht sich der Wind deutlicher bemerkbar. Das mag auch daran liegen, daß wir nun nicht mehr Häuser neben uns haben, die ihn bremsen könnten, sondern sich zu beiden Seiten des Stroms unbebautes Land erstreckt, das ihm kaum einmal ein Hindernis entgegenstellt. Schnell wird es, da ich mich selbstredend kaum bewege, kühl, ein Umstand, dem ich jedoch mit dem Wiederanziehen meiner zuvor abgelegten Jacke abhelfen kann.
Die Landschaft um mich herum ist wunderschön. Links zieht das Ufer der Halbinsel Zingst an mir vorüber. Es wird nahezu ununterbrochen von einem breiten Schilfstreifen gesäumt, hinter dem uns ein kleiner Deich begleitet, der jede Biegung des Stroms nachvollzieht. Vereinzelt ragen einige Bäume auf, die jetzt im April noch keine Blätter hervorgebracht haben und daher schwarz und kahl in die Luft ragen; ein deutliches Zeichen der noch anhaltenden Winterruhe. Hinter dem Deich dehnen sich weite Wiesen und Felder, die von Waldstreifen begrenzt und immer wieder von Prielen und Fließen durchzogen werden. Einige davon mögen natürlichen Ursprungs sein, viele jedoch hat man im Laufe der Jahrhunderte künstlich angelegt. Dafür spricht allein schon ihr teils sehr regelmäßiger Verlauf. Soweit ich das erkennen kann, sind viele dieser Gräben beeindruckend parallel zueinander angelegt. Weil jetzt, im beginnenden April, der Frühling zwar schon angebrochen ist, aber sein wiederbelebendes Werk in der Natur noch nicht so recht begonnen hat, sind die vorherrschenden Farbtöne alle mehr oder minder Schattierungen von Braun, sieht man einmal von den Wasserflächen ab. Der Schönheit der Landschaft tut das jedoch keinen Abbruch.
Auf der rechten Uferseite, die zum Darß gehört, sieht es ganz ähnlich aus. Da hier jedoch der begrenzende Wald fehlt, reicht der Blick beeindruckend weit in die Ferne. Dort ist hinter dem Land eine große Wasserfläche zu sehen – der Bodstedter Bodden, das Ziel unserer Fahrt. Auch hier sind immer wieder Gräben zu erkennen, die teils wie mit dem Lineal gezogen wirken. Und da ich mich hier auf dem zweiten Oberdeck doch beträchtlich weit über dem Bodenniveau befinde, kann ich bei einem Blick voraus bereits weitere Schleifen des Stroms, auf dem wir unterwegs sind, ausmachen. Über all dem wölbt sich ein strahlend blauer Himmel, der hier und da mit weißen Wölkchen getupft ist und an dem die Sonne hell leuchtet. Ihre Strahlen spiegeln sich in der vom Wind gekräuselten Oberfläche des Stroms, die sie zum Glitzern bringen. Und die Wasserfläche des noch weit entfernten Boddens gleißt und blitzt, als bestünde sie aus flüssigem Silber. Die Luft ist ausgesprochen klar, was ein ausgesprochenes Glück ist, weil sich daraus eine überaus gute Fernsicht ergibt. Bis zum Horizont sind jegliche Konturen von Landschaft, Gewässern und auch Ortschaften gestochen scharf umrissen.
Gerade durchmessen wir eine weitere Schleife des Stroms, da teilt uns der Kapitän unseres Schiffes mit, daß wir auf der linken, der Zingster Seite nun an der Hertesburg vorüberfahren. Es war dies im Mittelalter eine burgähnliche Befestigungsanlage, die die Rügenfürsten hier hatten errichten lassen, um das Gebiet und insbesondere den Prerower Strom als Zugang von den Boddengewässern zur Ostsee militärisch kontrollieren zu können. Natürlich war Geld die maßgebliche Motivation, denn hier wurden Zölle erhoben. Die Hertesburg diente den Rügenfürsten auch als Jagdschloß und Vogteisitz. Später übernahmen sie die pommerschen Herzöge. Die Anfänge der Anlage reichen bis in das späte 13. Jahrhundert zurück. Auf einem Hügel gelegen, besaß sie einen Durchmesser von etwa dreißig Metern. Ihre Befestigungen sollen etwa zwei Meter hoch gewesen sein. Davor lag ein sechzehn Meter breiter Ringgraben, auf den ein Wall folgte. Weitere Schutzwälle schlossen sich an. Natürlich gab es auch einen Turm. Im sechzehnten Jahrhundert sollen seine Mauern sagenhafte drei Meter dick gewesen sein. Der Sage zufolge soll der Seeräuber Klaus Störtebeker hier mit seinen Gefährten einen Unterschlupf besessen haben. Das wird allerdings von vielen Orten an der Ostsee behauptet, so daß es fraglich ist, ob es wirklich stimmt. Daß hier allerdings Seeräuber ihr Unwesen trieben, gilt als sicher. Kriege haben der Anlage zugesetzt. Im sogenannten Rügenschen Erbfolgekrieg belagerten mecklenburgische Truppen sie gleich mehrfach, bis ihnen schließlich die Einnahme gelang. Der Dreißigjährige Krieg bedeutete schließlich das Ende der Burg. Danach waren ihre über der Erde gelegenen Bauten weitestgehend verschwunden. Nur der Wall und der Graben blieben übrig. Da der Hügel, auf dem sich die Burg einst befand, heute weitgehend mit Bäumen bewachsen ist, läßt sich außer diesen vom Schiff aus nichts erkennen. Lediglich eine hölzerne Kapelle mit Reetdach, errichtet im Jahre 1927, steht heute noch auf dem Gelände, ist aber von hier aus natürlich ebenfalls nicht zu sehen.
Wir lassen die Hertesburg links liegen und fahren weiter. Rechts von uns zieht etwas abseits vom Prerower Strom ein kleines Gewässer vorüber. Es wirkt auf mich ein wenig wie das Überbleibsel der letzten größeren Überschwemmung oder der Rest vom letzten Starkregen. Damit liege ich falsch, denn die übergroße Pfütze, wie ich sie in Gedanken etwas despektierlich nenne, hat sogar einen Namen: Lychensee. Viel mehr läßt sich über ihn allerdings nicht sagen. Die in dieser Gegend heimischen Wasservögel finden ihn und seine unmittelbare Umgebung jedoch durchaus ansprechend, wie mir scheint, denn zwischen ihm und dem Strom, auf dem wir unterwegs sind, tummelt sich eine erheblich Anzahl Graugänse.
Bereits eine Weile schon ist mir, wenn ich in Richtung des Bodstedter Boddens blicke, am Himmel ein dort kreisender Schwarm aufgefallen. Aus der großen Entfernung war allerdings bis dato nicht zu erkennen gewesen, um welche Tiere es sich dabei handeln könnte. Zwar spricht in dieser Gegend einiges dafür, daß wir es sicher mit Vögeln zu tun haben würden und nicht etwa mit Heuschrecken, doch welcher Art diese Vögel sind, hatte ich bisher nicht feststellen können. Nun allerdings, da wir uns dem Bodden immer weiter genähert hatten, beschließen die den Schwarm bildenden Tiere offenbar, sich einmal genauer anzusehen, was sich denn da auf dem Strom für ein merkwürdiges Etwas nähert, und kommen zu uns herübergeflogen.
Leider behalten sie dabei ihre relativ große Flughöhe bei, so daß es mir trotzdem verwehrt bleibt, sie zu identifizieren. Einem Ornithologen mag es möglicherweise anhand der Silhouette der Flügel oder mittels des Flugbildes ohne weiteres gelingen, das zu bewerkstelligen, mir jedoch fehlt dazu dann doch das erforderliche Fachwissen. So begnüge ich mich damit, den Schwarm eine Weile zu beobachten. Es ist bewundernswert zu sehen, wie sich in dem anfangs recht chaotisch wirkenden Gebilde bei aller Bewegung doch eine gewisse Ordnung bemerkbar macht. Kein Vogel kreuzt unbeabsichtigt eines anderen Flugbahn, und alle orientieren sie sich aneinander und fliegen letztendlich trotz gelegentlicher Abweichungen und einer steten Veränderung der Gestalt des Schwarms in die gleiche Richtung.
Der Kapitän nimmt dies zum Anlaß, seinen Passagieren ein wenig über die hiesige Vogelwelt zu erzählen. Ich kann mir die vielen verschiedenen Arten, die er im Laufe seiner Ausführungen aufzählt, so schnell gar nicht alle merken. Allerdings bleibt mir zumindest eine im Gedächtnis, da wir das große Glück haben, einen ihrer Vertreter kurz darauf unmittelbar über unserem Schiff beobachten zu können: einen Seeadler. Und obwohl auch er in großer Höhe fliegt, bin ich von seinen mächtigen Flügeln, mit denen er mühelos eine Spannweite von mehr als zwei Metern erreicht, angemessen beeindruckt.
Kaum habe ich schließlich meinen Blick wieder vom Himmel ab- und der Erde um mich herum zugewandt, werden wir von unserem wachsamen Kapitän, der nicht nur den Strom und die Fahrrinne, sondern auch die Umgebung stets im Auge behält, um uns auf Interessantes hinweisen zu können, darauf aufmerksam gemacht, daß es sich lohne, einmal nach links auf die sich dort dehnenden Wiesen zu schauen. Ich folge seiner Aufforderung und – entdecke zunächst nichts. Angestrengt suche ich das Ufer ab, kann jedoch weiterhin nichts ausmachen, was der eingehenderen Beobachtung lohnt. Erst als ich mich erinnere, daß ich ja nicht auf den Rand des Stroms, sondern auf die dahinterliegenden Wiesen schauen sollte, werde ich gewahr, was es dort zu sehen gibt: einen Kranich! Seelenruhig und völlig unbeeindruckt von uns und unserem stampfenden Schiff stolziert er mit seinen langen, staksigen Beinen auf dem Feld herum. Sein Gefieder, dessen Färbung von tiefem Schwarz am Schwanz über dunkleres und helleres Grau am Körper bis zu strahlendem Weiß am Hals reicht, hebt sich in scharfem Kontrast von dem Grün-Braun der noch nicht so recht wieder zu neuem Leben erwachten Felder ab. Ein kleines Weilchen bewegt er sich in die gleiche Richtung wie wir. Ob es ihm schließlich zu bunt wird, von so vielen Leuten angestarrt zu werden, oder ob er voraus irgendetwas ihn Interessierendes entdeckt hat, ist für mich nicht recht erkennbar, als er plötzlich beginnt, in schnellem Tempo loszurennen, um sich kurz darauf, mit den Flügeln schlagend, in die Luft zu erheben und in niedriger Höhe über dem Feld davonzufliegen. Es dauert nicht lange, da ist er meinen Blicken entschwunden.
Der Prerower Strom, der seit seiner letzten Schleife ein ganzes Stück mehr oder weniger stur geradeaus geführt hat, legt sich nun in eine große S-Schleife, deren beide Bögen fast perfekte 180-Grad-Wenden vollführen. Mit dem Ende des ersten Bogens haben wir dabei das Mündungsgebiet des Stroms in den Bodstedter Bodden erreicht, das die Form eines Deltas mit mehreren kleinen Inseln angenommen hat, die als Schmidtbülten bezeichnet werden. Als die Verbindung zur Ostsee noch bestand, strömte bei starken, vom Meer zum Land wehenden Winden Wasser durch den Strom, das viele Sedimente mit sich führte, die hier abgelagert wurden und im Laufe der Zeiten die Inseln aufschütteten. Mit der Trennung des Prerower Stroms von der Ostsee ist dieser Prozeß allerdings vollständig zum Erliegen gekommen.
Die kleinen Inseln mit ihren reichhaltig mit Schilf bewachsenen Ufern bilden für die zahlreichen hier ansässigen Wasservögel den idealen Lebensraum, was ich sozusagen mit eigenen Augen wahrnehmen kann, denn nirgends sonst habe ich zuvor derart viele Schwäne, Enten, Möwen, Bleßhühner und andere Arten des gefiederten Volkes versammelt gesehen. Sie schwimmen munter in den verschiedenen Seitenarmen, die der Strom hier ausgebildet hat, herum, haben aber offenbar gelernt, den Hauptarm, in dem Schiffe wie unseres verkehren, zu meiden.
Vielfach scheinen die kleinen Inselchen kaum einen Zentimeter über die Wasseroberfläche hinauszuragen, was dort, wo das Schilf einzelne Abschnitte ihrer Ufer einmal freigibt, dazu führt, daß es so aussieht, als würden sie nahtlos ins Wasser übergehen. Auf keinem dieser Eilande findet sich auch nur ein einziger Baum oder Busch. Lediglich Gräser haben sich hier angesiedelt.
Als wir die Schmidtbülten schließlich passiert und den Prerower Strom damit hinter uns gelassen haben, setzen wir unsere Fahrt auf den Wassern des Bodstedter Boddens fort. Nun, da die Ufer weiter und weiter zurücktreten und wir uns auf der weiten Fläche des großen Gewässers befinden, zieht der Wind tüchtig an und zaust mich kräftig an den Haaren. Obwohl ich fest davon überzeugt bin, daß sich die Temperatur überhaupt nicht wesentlich verändert, fühlt es sich innerhalb weniger Augenblicke so an, als sei es plötzlich empfindlich kühler geworden. Zwar friere ich nicht, da meine Jacke warm genug ist, doch wird es mir angesichts des nun ununterbrochen um meine Ohren wehenden Windes hier auf dem Oberdeck zu ungemütlich, und so gebe ich den Platz an meinem Tisch auf, steige die Treppe zum tiefer liegenden Zwischendeck hinab und stelle mich dort an die Reling. So kann ich immer noch die Aussicht rings um das Schiff genießen und bewundern, bin den Luftströmungen aufgrund der Aufbauten des Schiffes aber nicht mehr so unmittelbar ausgesetzt wie zuvor.
Während ich versuche, dem Wind wenigstens etwas zu entgehen, sind die Möwen hier in ihrem Element. Begeistert schwingen sie sich in die Lüfte und stürzen sich in die Böen. Und da sie sehr daran interessiert sind, was wir wagemutigen Menschlein auf unserem kastenartigen Ungetüm hier in ihrem Revier wohl so treiben mögen, begleiten sie uns mit ausgebreiteten Schwingen ein Stück, was mir die Gelegenheit gibt, sie in ihrem Fluge zu beobachten. Hin und wieder stoßen sie ihre charakteristischen Schreie aus, als wollten sie sich gegenseitig auf irgendetwas Sehenswertes im Zusammenhang mit uns und unserem Schiff hinweisen. Oder sie haben im Wasser einen Fisch entdeckt, den zu verfolgen und zu fangen sich lohnen mag. Jedenfalls wenden sie sich, nachdem sie uns eine Weile gefolgt sind, wieder ab und anderen Dingen zu.
Ich schaue über die glitzernde Wasserfläche des Boddens, die mir etwas aufgewühlter als die des Stroms erscheint, auf der jedoch trotzdem keine wirklichen Wellen zu sehen sind. So stark ist der Wind dann doch nicht. So zieht auch das kleine Boot mit den roten Segeln, das in einiger Entfernung vorüberfährt, ruhig und gelassen seine Bahn.
Als sich mein Blick auf die im Süden gelegenen Ufer des Boddens richtet, bemerke ich etwas weiter östlich und ein ganzes Stück landeinwärts gelegen die Silhouette einer großen Kirche. Gerade, als ich mich frage, ob in dieser Richtung wohl Barth liegen mag, meldet sich unser Kapitän wieder über die Lautsprecheranlage zu Wort und gibt mir die Bestätigung. Ja, das was ich da vor mir sehe, ist der Umriß der Barther Sankt-Marien-Kirche. Etwa um 1250 herum hatte man mit ihrem Bau begonnen, der dann etwa zweihundert Jahre später mit der Fertigstellung des Turmes abgeschlossen war. Mit seiner beindruckenden Höhe von 86 Metern ist er, wie ich mich selbst überzeugen kann, derart weit in der Umgebung sichtbar, daß er einen idealen Orientierungspunkt sogar für die auf der Ostsee fahrenden Schiffe abgibt. So diente er denn lange Zeit auch als solcher. Und auch, wenn er heute angesichts moderner Navigationstechnik nicht mehr die Bedeutung von einst besitzt, gilt er doch bis zum heutigen Tag immer noch als Seezeichen.
Während ich die entfernte Kirche beziehungsweise ihre Silhouette bewundere, bemerke ich nicht sofort, daß sich das Schiff in eine weite Kurve gelegt hat und nun auf das östliche Ufer des Boddens zuhält. Interessiert, was es denn dort wohl zu sehen gibt oder ob wir einfach nur eine Wende vollführen, gehe ich ein Stück die Reling entlang nach vorn. Als ich die voraus gelegene Aussicht vor Augen habe, stelle ich fest, daß wir auf eine Fahrrinne zuhalten, die sich dort auftut und in das Land hineinführt. Weit kann ich allerdings nicht in sie hineinsehen, da mein Blick von einem großen, sie überspannenden metallenen Ungetüm aufgehalten wird. Und wieder meldet sich der Kapitän des Schiffes gerade rechtzeitig mit weiteren Erklärungen zurück.
Was ich dort vor mir sehe, erfahre ich aus seinem Vortrag, ist die Meiningenbrücke, die über die gleichnamige Meerenge führt. Über jene, das weiß ich bereits von der Informationstafel, die ich am Prerower Hafen studiert hatte, gelangt man vom Bodstedter Bodden in den Zingster Strom und den Barther Bodden hinüber. Unsere Fahrt, so erklärt der Kapitän zu meinem Bedauern, wird dort allerdings nicht hinführen, sondern wir werden hier umkehren und die Heimfahrt antreten. Doch zuvor gibt es noch einiges Interessantes zu erzählen, was unser Schiffsführer auch ausgiebig tut. So weiß ich nun, daß die Brücke die Halbinsel Zingst mit dem Festland verbindet. 1908 hat man mit ihrem Bau begonnen, da man für die zu dieser Zeit errichtete Darßbahn an dieser Stelle einen Übergang schaffen mußte. Bereits zwei Jahre später konnte man die Brücke einweihen, auch wenn man für die endgültige Fertigstellung noch zwei weitere Jahre brauchte. Von solchen Bauzeiten können wir trotz bedeutend weiterentwickelter Bautechnik merkwürdigerweise im heutigen Deutschland nur träumen, das für den Bau einer Brücke gerne auch einmal zehn Jahre benötigt[1]Zehn Jahre für den Bau einer Brücke! Was unglaublich klingt, ist leider Realität, wie die in diesem Jahr (2023) fertiggestellte Schiersteiner Straßenbrücke beweist.. Aufgrund des die Meerenge umgebenden flachen Landes war es allerdings nicht möglich, eine Brücke zu errichten, die hoch genug wäre, um Schiffe unter ihr passieren zu lassen. Da die Passage zwischen den verschiedenen Boddengewässern jedoch nicht blockiert werden durfte, hatte man sich dafür entschieden, einen Teil als Drehbrücke zu gestalten.
Mit dem Ende der Darßbahn kam schließlich auch das Ende der Meiningenbrücke als Eisenbahnüberführung. Sie wurde daher zur Straßenbrücke umfunktioniert. Da sie jedoch sehr schmal ist und wegen ihrer massiven Metallkonstruktion auch nicht verbreitert werden konnte, war es lediglich möglich, den Verkehr über sie in eine einzige Richtung fließen zu lassen, so daß sich die verschiedenen Fahrtrichtungen abwechseln mußten. Weil das aber mit der wieder zunehmenden Beliebtheit von Darß und Zingst als Urlaubsziel und dem damit verbundenen Anstieg des Verkehrs mehr und mehr zum Problem wurde, entschloß man sich im Jahre 1980, neben der Meiningenbrücke eine Behelfsbrücke zu errichten, die der anderen Fahrtrichtung diente. Lange Jahre bestand diese lediglich aus einer Pontonbrücke, die man ausschließlich im Sommer benutzen konnte, weil sie in jedem Winter außer Betrieb gesetzt wurde. An diesen schwimmenden Übergang kann ich mich noch sehr gut erinnern. Wenn wir in jedem Jahr mit unserem Auto – einem kleinen Trabant 601 S – nach Prerow in den Urlaub fuhren, gehörte ein Besuch im nicht allzu weit entfernten Barth eigentlich immer dazu. Die Fahrt dorthin und wieder zurück ist mir bis heute unvergeßlich. Auf der Hinfahrt ging es immer über die Pontonbrücke, was mir stets ein gewisses Ruseln im Bauch bescherte. Was, wenn die schwimmende Fahrbahn unter unserem Gewicht und dem der anderen Autos plötzlich im Wasser versank? Das regelmäßige Rumpeln, wenn wir über die Fugen der einzelnen Brückensegmente fuhren, machte die Sache nicht angenehmer. Und wenn wir Pech hatten und gerade an der Brücke ankamen, wenn ein Schiff passieren wollte, dann mußten wir eine ganze Weile warten, bis wir hinüberfahren konnten, denn da die Pontonbrücke die Meerenge komplett blockierte, mußte sie erst ausgeschwommen werden, damit das Schiff hindurchfahren konnte. Bis das geschehen und die Brücke dann wieder an Ort und Stelle war, konnte schon einige Zeit vergehen. So war ich stets froh, wenn wir auf der Rückfahrt den Weg über die Meiningenbrücke nehmen konnten. Diese machte nicht nur einen bedeutend stabileren Eindruck, sondern mit ihren metallen Fachwerkträgern, die zu beiden Seiten den Blick auf die umgebende Landschaft in viele kleine Einzelbilder zerlegten, die wie ein Film am Autofenster vorbeizuziehen schienen, die Fahrt über die Meerenge zu einem überaus interessanten Ereignis.
Dieser Zustand blieb bis 2011 erhalten. Ab 2012 konnte für den Straßenverkehr dann eine zweispurige Brücke genutzt werden, die die Meiningenbrücke endgültig vom Autoverkehr befreite. Die Schiffsdurchfahrt ermöglicht ein Klappmechanismus. Diese Brücke hatte ich auf meiner Fahrt von Barth nach Prerow am Tage meiner Ankunft passiert und dabei einen Moment der Enttäuschung erlebt, als ich feststellen mußte, daß mir das in meiner Jugend so spannende Erlebnis, die Landschaft als Film zu erleben, versagt bleiben würde. So ist auch die Drehbrücke heute nicht mehr in Betrieb. Aufgrund ihres Alters und weil die Meiningenbrücke nicht mehr für den Verkehr genutzt wird, läßt man sie heute ständig offen. Als wir mit unserem Schiff noch ein Stück in die Meerenge hinein- und auf die Brücke zu fahren, kann ich sie am linken Ufer sehen. In ihrer Mitte befindet sich an ihrem höchsten Punkt das aufgesetzte Häuschen für den einstigen Brückenwärter.
Heute will man, wie ich bereits weiß, die Darßbahn wiedererrichten, wodurch Prerow seinen Bahnanschluß zurückerhalten soll. Für die Meiningenbrücke hat man vorgesehen, sie als kombinierte Eisenbahn- und Straßenbrücke neu zu erbauen. Es bleibt allerdings zu hoffen, daß man die alte Brücke, die sich am rechten Ufer noch ein ganzes Stück ins Land hinein fortsetzt, um dort sich anschließende Sumpfgebiete zu überspannen, dennoch erhält. Zum einen dürfte sie durchaus einigen Wert als technisches Denkmal besitzen. Zum anderen, und das kann ich aus meinen eigenen Erinnerungen unmittelbar bestätigen, stellt sie für die hiesige Gegend durchaus ein Wahrzeichen dar, dessen Vernichtung sicher nicht nur ich als herben Verlust empfinden würde.
Der Kapitän hat mittlerweile nicht nur seine Ausführungen rund um die Meiningenbrücke beendet, sondern auch das Schiff gewendet, so daß wir nun zwischen den schilfbewachsenen Ufern wieder aus der Meerenge heraus- und zurück in den Bodden fahren. Wieder weht uns der Wind, der sich zuletzt eine kurze Pause gegönnt hatte, heftiger um die Ohren und ich ziehe mich wieder auf meinen Platz an der Reling in der Mitte des Schiffes zurück, wo die Aufbauten des Oberdecks ein wenig vor der Kraft des luftigen Gesellen schützen. Die Fahrt geht zurück zu der zwischen den Schmidtbülten gelegenen Mündung des Prerower Stroms. Als wir die ersten Ausläufer der kleinen Inselchen erreichen, erinnert uns der Kapitän freundlicherweise daran, den Blick auf den Schilfgürtel an Steuerbord, also zur rechten Seite unseres Schiffes, zu richten. Dort hatten wir, als wir zuvor in Richtung Bodden unterwegs gewesen waren, zwischen den dichten Halmen kurz eine Kegelrobbe gesichtet. Leider war sie erst recht spät zu entdecken gewesen, so daß wir schon fast an ihr vorbeigefahren waren, bevor wir sie richtig sehen konnten. Glücklicherweise ist unser Schiff groß und massiv genug, daß es nicht sofort kentert, als nun nahezu alle Passagiere zur Steuerbordseite stürzen, um zu schauen, ob die Robbe wohl noch im Schilf liegt. Da ich deren Vorhandensein im Schilf nicht vergessen und mich demzufolge bereits dort plaziert hatte, kann ich es nun ruhig angehen lassen und einfach nur nach dem Tier Ausschau halten, das dort entspannt am Ufer gelegen und es der Sonne erlaubt hatte, ihm den Pelz zu wärmen. Offenbar war dieser Platz derart gemütlich, daß es in der Zwischenzeit nicht in Erwägung gezogen hatte, ihn zu verlassen. So ist es uns vergönnt, es nun näher in Augenschein zu nehmen.
Still und ruhig liegt die Robbe im Schilf. Ob dort eine natürliche Lücke bestanden oder ob sie irgendwie die Halme niedergedrückt hatte, um sich den Liegeplatz zu schaffen, kann ich nicht so recht ausmachen. Ich bin aber sowieso mehr von ihrem niedlichen Gesicht fasziniert. Ruhig, doch interessiert blickt uns die Robbe mit ihren runden schwarzen Knopfaugen entgegen, regt jedoch keinen Muskel. Zu beiden Seiten ihrer Schnauze stehen ein paar Barthaare waagerecht ab und verleihen ihr irgendwie ein ehrwürdiges Aussehen. Der massive Körper ist von dichtem, braunem Pelz bedeckt. Ganz offensichtlich liegt das Tier auf der Seite, denn ich kann eine der Flossen erkennen, die es angewinkelt und am Körper angelegt hat. Das ausgewachsene Tier macht einen recht massiven Eindruck und ist so groß, daß sich das hintere Ende seines Leibs im Schilf verliert, so daß ich den Schwanz nicht sehen kann. Die ganze Zeit, die unsere Vorbeifahrt dauert, rührt es sich nicht und verzieht auch keine Miene. Wären nicht seine Augen, die uns unentwegt anschauen, ich fragte mich ernsthaft, ob es überhaupt noch am Leben sei. So aber habe ich keinerlei Veranlassung, daran zu zweifeln.
Kaum ist die Robbe aus unserem Blickfeld entschwunden, sind wir auch schon am Ende der kleinen Insel angekommen, deren Ufer ihr als Liegeplatz dient. Und hier an der Spitze des Eilands entdecke ich inmitten des Schilfs einen aus dessen Halmen aufgeschichteten kreisrunden Hügel, der allem Anschein nach auf dem Wasser zu schwimmen scheint. Vermutlich ruht er jedoch auf einem Fundament von abgeknickten Schilfhalmen, denn das schneeweiße Etwas, das auf ihm ruht und meine Aufmerksamkeit geweckt hatte, entpuppt sich beim Näherkommen als ausgewachsener Schwan, der es sich hier gemütlich gemacht, seinen Kopf zurückgelegt und auf das Gefieder seiner zusammengefalteten Flügel gebettet hat. Ich blicke direkt in das traute Heim eines Schwanenpaars, das sich hier, unzugänglich für jede Art von Landtier und damit insbesondere für räuberische Wesen, sein Nest gebaut hat, in dem es nun seine Jungen ausbrütet. Bald schon werden sie schlüpfen und von ihren Eltern liebevoll aufgezogen werden. Es wird eine ganze Zeit dauern, bis sie ihr anfänglich graues Gefieder gegen das strahlende Weiß erwachsener Schwäne werden tauschen können.
Bei dem Gedanken daran fällt mir unweigerlich Hans Christian Andersens Märchen vom häßlichen jungen Entlein ein, das als Außenseiter bei einer Schar Enten aufwächst, die es wegen seiner vermeintlichen Häßlichkeit verachten und hänseln, bis es vor ihnen in die Einsamkeit flieht. Nach einigen Abenteuern und dem Beinahe-Tod im eisigen Winter, den es nur durch die Hilfe eines Bauern übersteht, erkennt es sich eines Tages im Spiegel des Wassers als strahlend schöner Schwan. Ich habe die Geschichte schon als Kind gelesen und gemocht. Doch erst in späteren Jahren habe ich sie – auch durch eigene Erlebnisse – als Sinnbild auf die menschliche Gesellschaft begriffen, in der Außenseiter so oft von der Gemeinschaft verachtet und ausgeschlossen werden, einfach nur, weil sie auf die eine oder andere Weise anders sind. Und oft gibt es nur sehr wenige Menschen, die ihnen offen und unvoreingenommen begegnen und ihnen auf ihrem Weg helfen. Daran hat sich seit der Zeit, in der Andersen dieses Märchen schrieb, wie es scheint, nur wenig geändert.
Während ich noch meinen diesbezüglichen Gedanken nachhänge, dringt plötzlich lautes Geschnatter an mein Ohr, das, wie ich unschwer erkennen kann, nicht vom Schiff, sondern eindeutig von oben kommt. Ich hebe meinen Blick und entdecke ein Paar Graugänse, das in diesem Augenblick, die Hälse lang vorgereckt und die Flügel weit ausgebreitet und heftig schlagend, über das Schiff hinwegfliegt. Dabei stoßen die beiden Vögel unablässig schnatternde Geräusche aus – ein Verhalten, das ich in den vergangenen Tagen stets beobachtet habe, wenn ich die Gelegenheit hatte, Vögel wie diese an mir vorüberfliegen zu sehen. Und immer habe ich mich dabei gefragt, was diese Tiere wohl dazu veranlassen mag, ihre Flüge mit diesem ständigen Geschnatter zu begleiten. Ob sie sich wohl über die Richtung verständigten? War es ein Streit oder eine Unterhaltung? Wollten sie ihr Kommen ankündigen? Oder schnatterten sie einfach nur gerne? Ich weiß es nicht. Doch irgendwie mag ich diese kleinen Gesellen und finde sie witzig.
Die Fahrt zurück ist alles andere als langweilig. Normalerweise schätze ich es nicht sonderlich, wenn eine Wanderung, ein Ausflug oder gar eine Reise denselben Weg zurückführt, den ich gekommen bin. Es kommt mir dabei oftmals so vor, als würde ich Zeit verschwenden. Schließlich bin ich doch auf dem Weg, den ich dabei wiederholt nehmen muß, schon einmal unterwegs gewesen. Was soll denn daran interessant sein? Viel lieber möchte ich während der gesamten Unternehmung etwas Neues entdecken, mir Unbekanntes sehen. Jetzt jedoch, da ich den Weg, den wir nehmen, nun einmal nicht beeinflussen kann, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich dreinzufinden und das Beste daraus zu machen. Und das tue ich! Hatte ich auf der Hinfahrt meist den Erklärungen des Kapitäns gelauscht und war mit dem, worauf ich mein Augenmerk richtete, seinen Hinweisen gefolgt – warum auch hätte ich sie ignorieren sollen? -, so habe ich nun reichlich Gelegenheit, mir den jeweiligen Gegenstand meines Interesses selbst auszusuchen, denn da wir auf diesem Abschnitt des Prerower Stroms ja bereits unterwegs gewesen waren, beschränkt sich unser Schiffsführer nun im wesentlichen darauf, uns auf zu beobachtende Tiere hinzuweisen. Ich richte daher meine Aufmerksamkeit auf die zu beiden Seiten des Schiffes an uns vorüberziehende Landschaft. Und die erweist sich auf der Zingster, nun an Steuerbord gelegenen Seite oftmals als interessanter. Im Hintergrund der grüne, von Kiefern dominierte Wald, davor die noch nicht zu neuem Leben erwachten und daher vorwiegend braunen Felder, hier und da von kleinen und größeren Tümpeln durchzogen und im Vordergrund der mal mehr, mal weniger breite Schilfstreifen am Ufer – das ist gewissermaßen die Leinwand, auf der sich immer wieder wechselnde Bilder abzeichnen.
Das erste besteht in einem einzeln stehenden Baum, der sein Leben, wie es scheint, schon lange beendet hat. Übrig blieb davon nur das knorrige Gerippe toter Äste, die in alle Richtungen in die Gegend ragen. Anhand der sich bereits ablösenden weißen Rinde sind die Überreste unschwer als die einer Birke zu erkennen, deren Holz bereits Moos angesetzt hat. Einer der dickeren Hauptäste ist abgeknickt. Traurig hängt er zu Boden. Und obwohl klar ist, daß der Frühling noch nicht weit genug fortgeschritten ist, um die Birken bereits wieder ihr grünes Kleid überstreifen zu lassen, kann ich auf den ersten Blick erkennen, daß dieses Exemplar hier dieses nie wieder anziehen wird. Doch so ist der Kreislauf des Lebens. Und selbst im Tode noch erfüllt der alte Baum in der Natur seinen Zweck – als Lebensraum und Nahrung für die ihn zersetzenden Lebewesen, angefangen von dem auf ihm wachsenden Moos bis zu den sich meinen Blicken entziehenden Kleinstorganismen, die ganz sicher in seinem Holz Quartier bezogen haben.
Ein Stück weiter zeichnet die Natur, obwohl die Protagonisten dieselben sind, ein ganz anderes Bild. Wald, Feld, Schilf und Birken. Doch diesmal ist es nicht ein einzelner Baum, sondern es haben sich gleich mehrere am Ufer aufgereiht. Und obwohl auch sie keinerlei Blätter tragen, ist ihnen die innewohnende Lebenskraft schon von weitem anzusehen. Ihre weiße Rinde verleiht ihnen einen Schimmer, der aus der Ferne wirkt, als seien sie von Rauhreif überzogen. Es ist ein seltsamer Anblick, der mich mit seinem Kontrast beeindruckt. Das sich fröhliche wiegende Schilf mit dem sich sacht kräuselnden blauen Wasser davor, im Hintergrund das gelbbraune Feld mit dem sattgrünen Waldstreifen dahinter – und mittendrin diese wie vom Frost erstarrt wirkenden weißen Bäume, die aussehen, als hätte der Winter sie noch nicht freigeben wollen, wohl wissend, daß er es bald schon wird müssen. Die warmen Strahlen der Frühlingssonne lassen das mehr als deutlich spüren.
Kaum sind wir an den Birken vorüber und haben die nächste Biegung des Stroms hinter uns gelassen, malt die Natur auch schon das nächste Bild. Diesmal ist es jedoch kein Stilleben, das sich meinem Auge bietet, denn im Zentrum der Darstellung stehen drei niedliche Gesellen, die urplötzlich hinter dem dichten Schilfstreifen auftauchen, als unser Schiff sich ihnen nähert, und erschreckt in das sich anschließende Feld hineinlaufen. Doch so ganz entschieden, die Gegend am Strom zu verlassen, sind die drei Rehe, von denen die Rede ist, nicht, wie es scheint, denn schon nach wenigen Metern bleiben sie stehen, als seien sie unentschlossen, was sie nun tun sollen. Als ich genauer hinsehe, stelle ich fest, daß eines ein kleines Geweih auf dem Kopf trägt. Offensichtlich handelt es sich um einen Rehbock. Ob die drei vielleicht eine Familie sind? Oder Geschwister? Ich weiß es nicht, finde den Gedanken aber irgendwie sympathisch, so daß ich mir die drei fortan in eine solchen Beziehung zueinander vorstellen möchte.
Inzwischen hat auch unser Kapitän die drei Tiere am Ufer entdeckt und weist die Passagiere mit einer Durchsage darauf hin. Wieder stürmen alle unverzüglich auf die Steuerbordseite. Da die Rehe jedoch schnell hinter uns zurückbleiben und schließlich aus unserem Blickfeld verschwinden, verlieren die meisten Teilnehmer schon bald das Interesse an der Aussicht und zerstreuen sich wieder über das Deck. Ein Umstand, der mir sehr willkommen ist.
Ich verbringe die Zeit unserer weiteren Fahrt an der Reling, wobei ich hin und wieder einmal die Seiten wechsle, um auch einen Blick auf das andere Ufer und die dortige Landschaft werfen zu können. Ich beobachte weitere Schwäne, betrachte den Lauf des Stroms, wie er sowohl voraus als auch hinter uns liegt, schaue erneut über uns hinweg ziehenden Graugänsen hinterher und genieße einfach die Ruhe und Schönheit des Landes um mich herum. Schließlich durchmißt unser Schaufelraddampfer noch einmal den großen Bogen des Prerower Stroms, der ihn auf einhundert Meter an die hinter den Dünen liegende Ostsee heranbringt, die sich allerdings meinen Blicken entzieht. Und dann haben wir auch schon wieder den alten Bootshafen erreicht. Wir ziehen daran vorbei, der alte Bahnhof grüßt zu mir herüber, und kurze Zeit später legen wir auch schon am Kai des Prerower Hafens an. Langsam steige ich die Stufen der Treppe zum Unterdeck hinunter und begebe mich zum Ausgang, wo ich beobachten kann, wie die Leinen festgemacht werden und man den Landungssteg auslegt, über den ich, als der Weg vom Schiffspersonal schließlich freigegeben wird, das Schiff verlasse. Ein letzter Blick vom Kai zurück zum Schiff – mach’s gut, Baltic Star! – und das Land hat mich wieder.
Was nun? Der Tag ist noch relativ jung, zwei Uhr nachmittags ist noch nicht einmal erreicht. Nach der langen Zeit der Untätigkeit an Deck des Schiffes, in der ich nichts anderes zu tun hatte, als zu sitzen oder zu stehen und mir die an uns vorüberziehende Landschaft anzusehen, habe ich jetzt doch noch etwas Lust, mir ein wenig die Beine zu vertreten. Und bereits nach kurzem Überlegen habe ich auch eine Idee. Wenn ich schon einmal in dieser Gegend bin, dann kann ich mir doch die Hohe Düne und den Zingster Isthmus, also die Engstelle zwischen Prerower Strom und Ostsee, einmal aus der Nähe ansehen.
Gedacht, getan. Ich schlage den Weg entlang der Landstraße, die Prerow mit Zingst verbindet, ein und habe nach wenigen Minuten wieder den Alten Bahnhof erreicht, der sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet. Da ich ihn heute morgen bereits eingehend betrachtet habe und die Ankunft eines Zuges noch in weiter Ferne liegt, halte ich mich hier nicht weiter auf, sondern wandere weiter die Straße entlang. Gleich hinter dem Bahnhofsgebäude, an das sich ein kleiner Parkplatz anschließt, muß ich eine einmündende Straße überqueren, die die zweite Zufahrt zu dem mir bereits bekannten und als Kirchenort bezeichneten Teil Prerows bildet. Gleichzeitig läßt sich über sie aber auch die in Prerow ansässige Ostseeklinik erreichen, eine im Jahre 1998 hier eröffnete medizinische Rehabilitationseinrichtung, in der sowohl orthopädische als auch Atemwegs- und Hauterkrankungen behandelt werden. Ihr Haupteingang befindet sich unmittelbar am Beginn der abzweigenden Straße.
Mein Weg führt mich weiter die Landstraße entlang, verläuft hinter dem Abzweig jedoch erfreulicherweise ein Stück von dieser entfernt im Wald. Der Waldboden macht das Laufen angenehm. Auf der anderen Seite der Straße kann ich nun zwischen den Bäumen immer wieder das Glitzern einer Wasseroberfläche durchscheinen sehen. Dort hat sich der Prerower Strom bis auf wenige Meter der Straße angenähert. Der alte Bootshafen bleibt zurück, und kurz darauf mündet von links ein Weg, an dem einer der charakteristischen Prerower Wegweiser die Richtungen anzeigt. Da Prerow hier definitiv zu Ende ist, dürfte es der letzte seiner Art auf dieser Seite des Ortes sein. Bedauerlicherweise ist er nicht von einer bunten Schnitzerei gekrönt, wie sie andernorts in Prerow seine zahlreichen Geschwister zieren. Ob sie abhanden gekommen ist oder man ihm nie eine spendiert hat, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis. Aufgrund seiner etwas abgeschiedenen Lage scheint mir seine Aufgabe vordergründig darin zu bestehen, auf die benachbarten Orte Prerows hinzuweisen. Sowohl Zingst und Wieck als auch das weiter entfernt liegende Born finden sich auf seinen Richtungsanzeigern. Doch auch der nahegelegene Hafen und die Seemannskirche sind natürlich verzeichnet.
Um die Hohe Düne zu finden, brauche ich allerdings die Hilfe eines Wegweisers nicht. Ich folge einfach weiter dem Weg entlang der Straße. Und da dieser nun bereits mit einem kleinen Anstieg aufwartet, weiß ich, daß ich nicht fehlgehe. Ich bin bereits auf der Hohen Düne unterwegs. Den Ausführungen des Kapitäns während der Fahrt hatte ich entnehmen können, daß es hier einen Aussichtspunkt geben mußte, den zu suchen ich mir nun zum Ziel gesetzt habe. Das erweist sich als leichtes Unterfangen, denn ich habe gerade einmal fünfzig weitere Meter zurückgelegt – der Anstieg liegt inzwischen hinter mir -, da erreiche ich einen weiteren Abzweig, der nach links in den Wald und weiter auf den Hügel, an dem ich unterwegs bin, hinaufführt. Und richtig – kaum bin ich diesem Weg, dessen sandigen Untergrund man mit einer Art grobmaschigem Seilnetz befestigt hat, um die Düne davor zu schützen, förmlich zertreten zu werden, ein paar Meter gefolgt, da sehe ich ihn nach einer Biegung auch schon vor mir: den Aussichtspunkt. Es handelt sich um eine einfache, erhöhte, hölzerne Plattform, wie ich sie auch schon auf meiner Wanderung am Darßer Ort zu sehen bekommen hatte. Es führt eine steile Treppe hinauf, die zu beiden Seiten mit Geländern versehen ist, die den Aufstieg für jene erleichtern, die nicht mehr ganz so sicher und gut zu Fuß unterwegs sind.
Oben angekommen, blicke ich in die Runde. Wenn ich eine phänomenale Aussicht erwartet hatte, so werde ich etwas enttäuscht. Das liegt allerdings nicht an der falschen Wahl des Aussichtspunktes, denn dieser ist durchaus auf dem höchsten Punkt der Hohen Düne errichtet worden. Die Bäume des umliegenden Kiefernwaldes, die zwar alle keine Riesen sind, haben es jedoch mit der Zeit zu einer Höhe gebracht, die es schwer macht, über sie hinwegzublicken. Eigentlich gelingt das nur noch in zwei Richtungen. In der einen, der südöstlichen, kann ich die Windungen des Prerower Stroms erkennen, die dieser nach seinem Vorbeifluß am Zingster Isthmus in Richtung des Bodstedter Boddens vollführt und auf denen gerade wieder ein Schiff seine Bahn zieht. Es ist das modernere der beiden Ausflugsschiffe, das ich am Morgen hatte abfahren lassen, ohne an Bord zu gehen. Es ist offensichtlich zu seiner zweiten Tour an diesem Tag aufgebrochen. In der Ferne kann ich über einem dunklen Streifen, der den Horizont bedeckt, bei genauem Hinschauen wieder die Silhouette der Barther Sankt-Marien-Kirche erkennen. Sie ist wahrlich von weither zu sehen. Der ganz in der Nähe, sozusagen zu meinen Füßen gelegene große Bogen des Prerower Stroms entzieht sich hingegen aufgrund der Bäume rings um mich herum meinen Blicken. Wie so oft im Leben ist das Naheliegende wieder einmal nicht ohne weiteres zu sehen.
Die andere Richtung, die mir etwas offenbart, ist die nördliche. Dort kann ich über den Baumwipfeln die gerade Linie des Horizonts verfolgen, vor der das tiefblaue Meer seine leicht gekräuselten Fluten ausbreitet. In wenigen Jahren wird aber wohl auch das nicht mehr möglich sein, denn bereits jetzt verschwindet der Horizont hier und da hinter einzelnen, hoch aufragenden Wipfeln.
Nachdem ich mich ausgiebig umgeschaut habe, steige ich die Treppe schließlich wieder hinab und gehe den Weg, der lediglich bis hierher führt und dann endet, zurück zur Straße. Ich folge ihr noch ein Stück in Richtung Zingst. Der Weg, der immer noch ein wenig abseits durch den Wald verläuft, senkt sich bereits langsam wieder ab. Hin und wieder verbreitert er sich ein Stück bis zum Rand der der Straße zuwandten Seite der Düne. An diesen Stellen hat man ein hölzernes Geländer angebracht und ein paar Bänke aufgestellt, von denen aus man wie von einem zwischen den Bäumen gelegenen Balkon über den Strom und das dahinterliegende Land schauen kann. Hier ist von der näheren Umgebung sogar etwas mehr zu sehen als von der höhergelegenen Aussichtsplattform auf der Hohen Düne, da sich vor mir nur noch die Straße und ein zwei bis drei Meter breiter Streifen bis zum Strom befinden. Ich setze mich kurz auf eine der Bänke, halte es jedoch angesichts des beständigen Verkehrs auf der Straße nicht allzu lange hier aus.
So folge ich dem Weg weiter, bis ich schließlich die Landenge erreicht habe. Leider bin ich hier bereits wieder so weit von der Düne herabgestiegen, daß ich Strom und See nicht gleichzeitig sehen kann. Genau an dieser Stelle befindet sich jedoch ein Dünenübergang, der zum Strand führt. Dahinter setzt sich der Weg direkt auf einem Deich fort, welcher von hier aus die Straße nach Zingst begleitet.
In der Hoffnung, vielleicht vom Kamm der Düne beide den Isthmus begrenzenden Gewässer noch einmal gleichzeitig sehen zu können, wende ich mich nach links und stapfe durch den Sand. Ich werde nicht enttäuscht. Oben angekommen erblicke ich vor mir die Weite des Meeres, während ich hinter mir auf den großen Bogen des Prerower Stroms hinunterschaue, von dem sich mir allerdings nur ein kleiner Ausschnitt zeigt. Dennoch bin ich zufrieden und begebe mich, da ich nicht denselben Weg zurücklaufen möchte, nun hinunter auf den Strand.
Auf den ersten Blick unterscheidet er sich nicht sehr von jenem, den ich angetroffen habe, als ich am Hauptübergang zur Ostsee hinuntergegangen bin. Hinter mir die Düne, unter meinen Füßen der breite Sandstreifen und vor mir das sacht ans Ufer plätschernde Meer. Noch immer ist nur wenig Wind zu spüren, so daß es wie in den Tagen zuvor keine hohen Wellen gibt. Menschen laufen nahe am Wasser den Strand entlang, andere sitzen weiter oben im Sand und genießen die Sonne, die aus dem strahlend blauen Himmel auf uns herablächelt und durchaus schon angenehme Wärme verbreitet. Was hier allerdings fehlt, sind die Strandkörbe. Und natürlich gibt es hier auch keine Baustelle.
In den Meeresboden hineingerammte Pfosten sind allerdings auch hier zu sehen. Im Gegensatz zu denen der gerade im Bau befindlichen Seebrücke bestehen diese hier jedoch aus Holz und ragen nur wenige Zentimeter über die Wasseroberfläche. Dafür stehen sie dicht an dicht und bilden eine lange Reihe, in der sie weit ins Meer hinausragen, wo sie dann allerdings abrupt enden. Als ich den Strand hinauf- und hinunterblicke, stelle ich fest, daß sich derartige Reihen hölzerner Pfosten in regelmäßigen Abständen wiederholen. Während es in westlicher Richtung vielleicht noch fünf dieser Reihen sind, hören sie gen Osten hingegen nicht auf, sondern verlieren sich in der Ferne, wo ein Ende nicht abzusehen ist. Ganz offensichtlich hielt man es für notwendig, den Strand zwischen Prerow und Zingst mit diesen Buhnen vor Erosion zu schützen. Als ich mich der direkt vor dem Strandzugang liegenden Buhne nähere, bemerke ich in einiger Entfernung vom Ufer eine Möwe, die sich dort auf einem der Holzpfähle niedergelassen hat. Sie rührt sich auch nicht, als ich mich nähere, sondern schaut mir nur interessiert entgegen. Vermutlich weiß sie aus Erfahrung, daß die meisten dieser Zweibeiner, die Tag für Tag den Strand aufsuchen, es nicht wagen, so wie sie auf den Pfosten entlang hinaus auf’s Meer zu laufen. Und wenn ich einer von denen sein sollte, die es wagemutig doch versuchen, dann bliebe ihr immer noch genug Zeit, um die Flügel auszubreiten und davonzufliegen. Das würde ich ihr auf keinen Fall nachmachen können.
Nun, das habe ich auch nicht vor. An der Wasserlinie angekommen, entledige ich mich kurzerhand meiner Schuhe und Strümpfe, um an diesem schönen warmen Frühlingstag wenigstens einmal mit den Füßen ins Wasser zu kommen. Zur Sicherheit kremple ich meine Hosenbeine ein Stück hoch. Die Socken stecke ich in die Schuhe, die ich in der Hand behalte. Tatsächlich ist das Wasser gar nicht mal so kalt, wie ich befürchtet hatte. Bereits nach wenigen Minuten ist es ganz angenehm, mit den nackten Füßen auf dem Sand zu laufen und sie hin und wieder von einer besonders kecken Welle umspülen zu lassen. Die Möwe schaut meinem Treiben eine Weile von weitem zu, verliert jedoch schließlich das Interesse und blickt in eine andere Richtung. Sie unterscheidet sich ein wenig von den Exemplaren, die mir bisher so begegnet waren. Besonders fällt mir ihr schwarzer Kopf auf, der sie stark von jenen anderen Möwenarten abhebt. Ich erweise ihr die Ehre, ein Foto von ihr zu machen, das ich ihr allerdings nicht zeigen kann, da sie nicht geruht, sich mir einmal zu nähern. Dafür gelingt es mir später anhand dieser Aufnahme, sie als Lachmöwe zu identifizieren.
Jede Buhne endet, wie ich bei genauerer Betrachtung sehen kann, mit einem letzten Holzpfosten, der ein wenig weiter aus dem Wasser ragt als die anderen. Als ich auf meinem Weg den Strand entlang zur nächsten Pfostenreihe gelange, bemerke ich eine schwarze Silhouette an deren Ende. Mit bloßem Auge kann ich lediglich erkennen, daß es sich um einen schwarz gefiederten Vogel handelt, der sich dort niedergelassen hat. Erst mit der Hilfe meines Teleobjektivs – es ersetzt mir bei solchen Gelegenheiten stets das Fernglas, das ich so nicht zusätzlich noch mit mir herumtragen muß – kann ich ihn schließlich als Kormoran identifizieren. Ich muß gestehen, daß mir diese Vogelart, bevor sie mir hier an der Ostsee nun bereits zum zweiten Male begegnete, gar nicht so bekannt war. Natürlich hatte ich den Namen bereits gelesen, nicht zuletzt in Geschichten und Romanen, in denen er erwähnt wurde, doch wo Kormorane eigentlich lebten, entzog sich bisher meinem Wissen. So finde ich durch eigenes Erleben wieder einmal die alte Erkenntnis bestätigt, daß Reisen, bei denen man sich aufmerksam und interessiert in der Welt umschaut, eben doch bildet – oftmals mehr und nachhaltiger, als es jede Schule könnte.
Ein Stück weiter westwärts – ich habe mich entschlossen, am Strand zurück in Richtung Prerow zu laufen – steigen die Dünen hinter dem Strand zu bedeutender Höhe an. Ich befinde mich jetzt etwa gleichauf mit der Hohen Düne. Und dort, am hinteren Ende des Strandes, entdecke ich etwas, das mein Interesse weckt. Und so wende ich mich für einen kurzen Abstecher vom Wasser ab und stapfe den Strand hinauf. Normalerweise geht dieser hier am Nordstrand an seinem hinteren Ende mit sanftem Anstieg langsam in die Düne über. Dünengras nimmt die Gelegenheit wahr, sich anzusiedeln, erst vereinzelt, dann dichter, bis der Strand schließlich in der grasbewachsenen Düne aufgegangen ist. Wenn der Wind sacht über die Halme streicht, beugen sich diese bereitwillig, richten sich dann aber wieder auf. Sie machen so die Luftbewegungen sichtbar, was, wenn man Gelegenheit hat, einen längeren Dünenabschnitt im Blick zu behalten, den Eindruck vermitteln kann, die Wellen des Meeres setzten sich auf der Düne fort. War ich diesen Anblick vom Prerower Nordstrand bereits von verschiedenen Stellen, an denen ich ihn aufgesucht hatte, gewohnt, bin ich nun einigermaßen überrascht, daß sich mir bei meinem Blick zur Düne ein völlig anderes Bild bietet. Hier, am östlichen Ende Prerows, nahe der Hohen Düne, bildet der Sand eine regelrechte Wand. Doch ist diese keineswegs glatt und lotrecht. Vielmehr bricht sie in mehreren Stufen ab, tritt hier hervor und dort zurück, bildet Vorsprünge, auf denen sich Muschelschalen abgelagert haben – wie sind die wohl dahin gekommen? – und zeigt eine Gliederung in feine und feinste Schichten, als bestünde die Düne aus unzähligen riesigen, doch hauchdünnen, übereinandergelegten Platten.
Man könnte sagen, diese Sandwand zeigt im Kleinen durch die Witterung hervorgerufene Gestaltungsformen, die denen ähneln, die man im Großen in Sandsteingebirgen beobachten kann. Doch während sie dort infolge der steinernen Verfestigung eine große Stabilität erreicht haben, sind diese hier äußerst fragil. Unwillkürlich bin ich versucht, mit dem Finger die Festigkeit der Wand zu prüfen, doch als ich gewahr werde, daß ich gewissermaßen dabei zusehen kann, wie sich die Wand stetig verändert, lasse ich es bleiben. Bereits ein sacht auffrischender Wind wirbelt nämlich an ihrer Oberfläche Sandkörner auf und bringt kleine Abschnitte erst in Unordnung und dann ins Rutschen. Eine Berührung auch nur mit meinem kleinen Finger würde dieses von der Natur geschaffene Sandkunstwerk augenblicklich schwer beschädigen.
Fasziniert von diesen Beobachtungen kehre ich schließlich wieder ans Wasser zurück, wo ich meinen Weg in Richtung Prerow fortsetze. Dabei genieße ich noch einmal die Berührung des Wassers sowie das angenehme Gefühl, wenn meine nackten Sohlen den feuchten Sand berühren. Sie hinterlassen darin Abdrücke, die von der nächsten Welle bereits wieder ausgelöscht werden, so als sei ich nie hier gewesen. Und ein bißchen ist das ja auch so, denn für die Natur spielt meine Anwesenheit schließlich keine Rolle. Doch auch wenn ich hier an diesem Strand heute keine immerwährenden Spuren hinterlasse, in meinem Geist, meiner Erinnerung bleibt dieser Nachmittag erhalten. Jedesmal, wenn ich an ihn denke, spüre ich wieder den Sand zwischen den Zehen, wie sie sich mit jedem Schritt ein Stück hineingraben, fühle ich das Naß, wie es sanft meine Füße umspült, und vermeine ich wieder die salzige Meeresluft zu atmen, die tief in meine Lungen strömt. Ich spüre wieder die warme Sonne und den sanften Wind auf meiner Haut und fühle mich allein durch diese Erinnerung angenehm berührt und erfrischt. Und irgendwie ist es, als sei ein Teil von mir an diesem Strand geblieben, denn ich sehe mich dort selbst, blicke mir versonnen nach, schaue zu, wie ich mich weiter und weiter entferne, bis ich schließlich nicht mehr zu erkennen bin. Dann richtet sich mein Blick auf’s Meer hinaus und ich schaue versonnen in die Ferne…
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Zehn Jahre für den Bau einer Brücke! Was unglaublich klingt, ist leider Realität, wie die in diesem Jahr (2023) fertiggestellte Schiersteiner Straßenbrücke beweist.
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