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Bei uns läuft alles…

Dieser Beitrag ist Teil 1 von 6 der Beitragsserie "Aus den Notizen eines Bahnfahrers"
Aus den Notizen eines Bahnfahrers (I)

Bahn fahren. Die Fortbewegungsart für den aufgeklärten Menschen von heute.

Bahn fahren. Das sollen wir. Denn Bahnfahren ist grün, weil gut für die Umwelt. Und das Klima. Und sowieso. Und überhaupt.

Nun, dagegen hab‘ ich gar nichts. Nicht das geringste. Ich fahre eigentlich sogar sehr gerne Bahn. So sehr, daß ich, wenn ich bisher in der Welt unterwegs war, stets einen nicht geringen Teil der Reise mit der Eisenbahn bestritten habe. Mit dem Canadian war ich von Vancouver nach Toronto quer durch Kanada unterwegs. Von dort nach Montreal und Quebec ging es auch mit der Eisenbahn. In Australien hat mich der Ghan von Alice Springs nach Darwin befördert. Und das war nicht die einzige Eisenbahnfahrt auf diesem Kontinent. Eine Ganztagesbahnfahrt von Brisbane nach Sydney ist auch ein großartiges Erlebnis, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Und in Neuseeland habe ich mit dem TranzAlpine die Neuseeländischen Alpen überquert – von Greymouth nach Christchurch. Na gut, von Greymouth zum Arthur’s Pass war ich mit dem Bus unterwegs. Aber nur, weil auf der Strecke gerade Schienenersatzverkehr war. Dafür hat mich die Bahn aber von Picton, wo ein Schiff mich beim Eintreffen auf der Südinsel abgeladen hatte, nach Christchurch bringen dürfen. Was im übrigen eine großartige, ausgesprochen schöne Fahrt war. Und nahezu alle waren sie pünktlich. Und wo sie es nicht waren, gab es immerhin erstklassigen Service.

Kurz gesagt: ich liebe die Eisenbahn. Anders käme ich auch kaum durch die Lande. Ich hab‘ schließlich kein Auto. Nicht mal eine Fahrerlaubnis. (Ja, so hieß das damals bei uns in der DDR. Führerschein sagte man nicht. Wird wohl Gründe gehabt haben…)

Und so lag es natürlich nahe, daß meine erste Fahrt quer durch’s Land nach zweieinhalb Jahren Corona-Wahnsinn wieder mit der Eisenbahn vonstattengehen sollte. Für diesen großartigen Anlaß hatte ich mir sogar eine Fahrt in der ersten Klasse geleistet! An den in dieser Zeit nicht durchgeführten Fahrten hatte ich ja schließlich genug zusammensparen können…

Von meinem schönen Berlin sollte es nun also nach Bonn gehen. Früher bin ich da stets einmal im Jahr hingefahren, immer irgendwann zwischen Ende April und Anfang Juni, wenn die FedCon stattfand – DIE deutsche Convention für Science-Fiction-Fans jeden Alters. Und die war nun auch dieses Jahr endlich wieder einmal mein Ziel.

Ach ja, ich freute mich auf diese Reise. Endlich mal wieder rauskommen. Was anderes sehen. Na klar, ich liebe Berlin, aber manchmal tut etwas Abwechslung einfach gut. Und die Fahrt würde ja auch ganz bequem vonstatten gehen. Dachte ich. Am Hauptbahnhof in den ICE steigen, in der ersten Klasse – etwas ganz Besonderes für mich – gemütlich und bequem nach Köln gefahren werden, dort noch auf einen kurzen Sprung in die Regionalbahn hüpfen – und schon wäre ich da. Was könnte einfacher sein?

Wie sich herausstellte: vieles. Nahezu alles. Denn schließlich fuhr ich ja nicht mit irgendeiner Eisenbahn irgendwo in der Welt. Nein, ich fuhr mit Der Bahn. Die Bahn. Warum die beiden Buchstaben DB nicht mehr für Deutsche Bahn stehen dürfen, konnte mir bisher auch noch keiner schlüssig erklären. Jedenfalls heißt es seit geraumer Zeit nun Die Bahn. Und ich frage mich seitdem immer, ob denen eigentlich klar ist, daß sie damit ganz schön große Erwartungen wecken. Die Bahn. Nicht die deutsche Bahn, nicht die französische, nicht die indische. Nein, Die Bahn. Also wenn ich das lese, höre ich innerlich immer eine deutliche Betonung auf Die. Wie denn auch nicht? Ohne diese Betonung ergäbe dieser Eigenname ja überhaupt keinen Sinn. Oder würden Sie annehmen, daß ein Autohersteller, der in Konkurrenz zu Mercedes, BMW, Opel, Ford und all den anderen Marken tritt und sein Produkt einfach nur Das Auto nennt, damit wirklich nur sagen möchte, daß das eben ein Auto sei? Irgendeins? Wohl kaum.

Na, wie auch immer. Da stand ich nun also auf dem Berliner Hauptbahnhof und erwartete meinen InterCity Expreß, den mir Die Bahn hoffentlich pünktlich vorbeischicken würde. Nun, das tat sie. Und das war dann auch schon das Einzige, was auf dieser Fahrt wie erwartet funktionieren sollte. Aber das konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.

Frohgemut stieg ich also ein, suchte und fand meinen Sitz, verstaute meinen Koffer und nahm, wie es im Jargon Der Bahn heißt, meinen Platz ein. Und weil ich in diesem wunderbaren Land zwar sinnvollerweise ohne jegliche Beschränkung drei Tage auf einer Convention unter Tausenden von Leuten verbringen kann, aber nicht fünf Stunden Eisenbahn fahren darf, ohne wenigstens eine medizinische Maske zu tragen, setzte ich mir eine auf. Man muß es nicht verstehen, aber sich dran halten. Andernfalls wird es nicht nur teuer, sondern man auch vor die Zugtür gesetzt. Und damit ich das auch ja nicht vergaß, verkündete mir das eine Zugdurchsage auch gern und hinreichend oft. Inklusive der Konsequenzandrohung.

Derart konsequent war Die Bahn leider nicht, was ihren eigentlichen Zweck anging: die möglichst reibungslose und bequeme Beförderung der Fahrgäste, für die sie ja nicht unbedingt wenig Geld verlangt. Gut, die Preisgestaltung vermittelt oft den Eindruck, es handle sich um reine Fantasie, kann doch ein Zugticket für dieselbe Strecke preisliche Unterschiede von mehr als einhundert Euro aufweisen, je nachdem, ob man es Wochen im Voraus oder kurzfristig bucht, ob man sich auf den Zug festlegt oder nicht, ob man zu einer Veranstaltung fährt oder einfach nur so unterwegs ist, ob man… ach, der Gründe für derlei Flexibilität bei den Preisen gibt es viele bei Der Bahn. Und jedesmal, wenn ich die verschiedenen Kostenangaben sehe, frage ich mich, ob Die Bahn wirklich Züge ausfallen läßt, wenn auf diese Weise nicht genug Buchungen frühzeitig eintrudeln, spricht sie doch davon, daß Frühbucher bedeutende Rabatte bekämen, weil sie ihr aufgrund der früheren Kenntnis über die Ticketbuchung eine bessere Planung ermöglichten. Also Zugstreichung wegen zu wenig verkaufter Fahrkarten? Ich glaube, nicht. Oder? Hm. Andererseits würde das einiges erklären…

Nun saß ich also auf meinem Platz und der Zug fuhr pünktlich los. Weil ich mich noch einmal meiner Ankunftszeit vergewissern wollte, zog ich mein Mobiltelefon aus der Tasche und öffnete die App, die Die Bahn ihren Fahrgästen eigens bereitstellt: den DB Navigator. Und wer hätte es ahnen können – bei meinem Zug gab es zwei Hinweise. Der erste bedeutete mir, mich darauf einzustellen, daß die Auslastung des Zuges außerordentlich hoch sei. Danke, das hatte ich beim Einsteigen bereits selbst festgestellt, als ich mich langsam in der Menschenschlange durch den Mittelgang des Waggons vorwärts und auf meinen Platz zubewegte. Im ganzen Wagen war kein Sitzplatz mehr frei. Und das in der ersten Klasse! Da war es natürlich von Vorteil, daß ich beim Hereinkommen hatte bemerken können, daß es in meinem Waggon zwei Toiletten gab. Was uns Fahrgästen allerdings nicht das Geringste nützte, denn sie waren beide verschlossen. An den Türen prangte dafür jeweils ein Zettel, der verkündete, daß die Toiletten, zu denen sie Zugang hätten gewähren sollen, defekt seien. Nun gut, dann würde der Weg zum stillen Örtchen gegebenenfalls eben etwas weiter und die Wartezeit vor der Toilettentür etwas länger sein.

Der zweite Hinweis war dagegen von anderem Kaliber. Er teilte mir mit, daß aufgrund irgendeines Schadens an der Strecke unser Zug nicht in Bielefeld halten könne. Gleichzeitig sei für die Ankunft am Zielort Köln eine Verspätung von 75 Minuten zu erwarten.

Respekt! Kaum losgefahren und schon steht eine Verspätung von weit mehr als einer Stunde fest! Das war selbst für Die Bahn rekordverdächtig. Doch es sollte noch besser kommen… Zunächst einmal mochte sich so mancher Fahrgast ob solch einer Aussage wundern. Wieso sollte der Ausfall eines Haltes zu einer solch drastischen Verspätung führen? Nicht so ich. Mir war Derartiges bereits bei einer meiner früheren Fahrten nach Bonn einmal untergekommen. Von daher wußte ich angesichts der angegebenen Zeiten, daß der Halt in Bielefeld nicht einfach so ausfallen würde, sondern daß die Strecke wegen des Schadens wohl irgendwo gesperrt sein mußte, der Zug deswegen auf eine andere Route ausweichen und sich so die Verspätung einhandeln würde. Großartig. Na, wenigstens würde ich aber durchfahren können. Und weil ich in Köln keinen speziellen Anschlußzug erreichen, sondern nur in die Regionalbahn umsteigen mußte, die jedoch recht häufig fuhr, machte ich mir keine Sorgen. Gut, ich würde deutlich später als geplant ankommen, aber das machte nichts. Ich hatte für den Nachmittag sowieso nichts Besonders vor, und die Convention ging erst am nächsten Tag los.

Inzwischen hatte mein Zug das Einzugsgebiet von Berlin verlassen und war recht flott unterwegs. Die Elbe näherte sich, wurde erreicht und überquert. Ein interessantes Phänomen ist, daß dieser Fluß mich jedesmal, wenn ich nach Westen fahre, auf sich aufmerksam macht, und zwar unabhängig davon, ob ich die ganze Zeit aus dem Fenster sehe oder nicht. Selbst wenn ich lese, gedankenverloren Musik höre oder einen Laptop dabeihabe, auf dem ich gerade herumtippe – oft genug habe ich beobachten können, daß ich irgendwie immer hoch- und aus dem Fenster schaue, wenn mein Zug auf die Brücke fährt, die die Elbe überquert. Und zwar nicht erst, wenn ich auf der Brücke bin. Nein, kurz davor. Nahezu jedesmal. Irgendwie faszinierend. Auf der Rückfahrt klappt das merkwürdigerweise weniger zuverlässig…

Wie auch immer. Wenig später erreichte der Zug Wolfsburg, das er kurz darauf schon wieder verließ. Irgendwie habe ich jedesmal, wenn ich hier durchfahre, den Eindruck, die Stadt verpaßt zu haben. Am Bahnhof sind auf der einen Seite nur große Betonklötze zu sehen und auf der anderen hinter einem Kanal der ewig lange Fabrikbau des Volkswagenwerks.

Mein Zug hatte Wolfsburg bereits ein ganzes Stück hinter sich gelassen, da bemerkte ich bei einem Blick auf den nächsten Monitor, der sich über dem Mittelgang an der Waggondecke befand und wissenswerte Informationen zur Fahrt verbreitete, daß sich die Anzeige des Fahrtziels klammheimlich geändert hatte. Hatte dort bisher neben „Hamm Hbf.“ als finales Ziel der Reise „Köln Hbf.“ gestanden, so prangte letztere Angabe nun in knalligem Rot und war – durchgestrichen. Was zur Hölle…?

Ich wartete auf eine Durchsage. Es kam keine. Ein Blick in die App brachte mir die gleiche Information. „Fahrtziel entfällt“ stand dort noch. Na großartig! Von den übrigen Fahrgästen hatten offenbar bisher nur wenige bereits auch etwas von der Änderung bemerkt. Und noch immer keine offiziellen Informationen per Durchsage. Nach und nach sprach sich die neue Entwicklung nun aber im Waggon herum, denn zuerst langsam, dann immer schneller machte sich Hektik breit. Was zunächst mit einem Murmeln hier und da begann, schwoll schließlich an und wurde zu einem ausgeprägten Stimmengewirr. Es wurde gerätselt, was wohl los war, überlegt, wie man reagieren sollte, und gefragt, was wohl besser war: weiterfahren oder umsteigen? Und warum, zum Henker, gab es immer noch keine Informationen vom Zugpersonal?

Schließlich tauchte doch noch ein Schaffner auf. Zugbegleiter heißen die ja heutzutage. Naturgemäß hatte er es sehr schwer, durch den Waggon zu kommen, wurde er doch auf Schritt und Tritt von allen Seiten mit Fragen bestürmt.

„Ich will nach Köln! Fährt der Zug noch dorthin?“
„Nein!“
„Aber ich muß doch nach…“
„Dann steigen Sie in Hannover aus, fahren mit dem nächsten ICE nach Frankfurt und von dort über die Rennstrecke nach Köln. Von dort kommen sie dann wie gewohnt weiter.“

So ging das in einer Tour. Ich nutzte inzwischen die Zeit, bis der Schaffner bei mir ankommen würde, mit der Navigator-App zu recherchieren, was wohl die günstigste Verbindung sei, bekam aber nur heraus, daß ich bis Hamm fahren sollte, um mich dann mit zwei weiteren Regionalbahnen nacheinander bis Bonn durchzuschlagen. Das würde mir eine Ankunftszeit bescheren, die zweieinhalb Stunden nach der ursprünglich geplanten lag. Weil mir das wenig verlockend erschien, reihte auch ich mich kurzerhand unter die Fragesteller ein.

„Entschuldigen Sie bitte! Ich will nach Bonn. Wie fahre ich da am besten?“
„Da steigen Sie auch in Hannover aus, fahren von da nach Frankfurt und dann nach Siegburg/Bonn. Das geht am schnellsten!“

Immerhin, der Mann hatte Ahnung. Und ich nach dieser Auskunft nur noch wenig Zeit, denn Hannover war gleich erreicht, wie uns Fahrgästen eine Durchsage aus den Lautsprechern nun verkündete. Diese nahm sich alle Zeit der Welt, um uns in aller Ruhe zunächst die geplante Ankunftszeit und dann alle Anschlüsse und Umsteigemöglichkeiten  mitzuteilen, anschließend dasselbe nochmal auf Englisch. Und dann – endlich – wurde nun auch offiziell die Information über das entfallende Fahrtziel Köln durchgegeben. Wer es jetzt erst erfuhr, hatte praktisch keine Zeit mehr für eine ausreichende Planung seiner alternativen Route. Jedenfalls nicht vor Hannover.

Während ich meine Sachen zusammenpackte, lauschte ich den Gesprächen der Fahrgäste um mich herum. Einige wollten erfahren haben, daß eine Zugentgleisung in oder hinter Hamm die Ursache des ganzen Aufstands war. Jemand meinte sogar zu wissen, daß diese beim Rangieren stattgefunden habe und dabei irgendwie auch noch die Oberleitung beschädigt worden sei. Was davon stimmte – keine Ahnung. Eigentlich war’s mir auch egal. Ich kam nicht wie geplant weiter. Das war alles, was ich wissen mußte. Jetzt ging es darum, die alternativen Anschlüsse zu erreichen.

Der Umstieg in Hannover gestaltete sich dank der Informationen, die ich noch im Zug aus der Navigator-App gezogen hatte, einigermaßen unkompliziert. Treppe runter, rüber zum nächsten Bahnsteig, Treppe rauf. Reichlich zehn Minuten hatte ich nun Zeit, herauszubekommen, wo in dem neuen Zug die Abteile der ersten Klasse sein würden, und dann zum entsprechenden Bereich des Bahnsteigs zu gelangen. Angesichts der Länge eines ICEs ist eine entsprechende Vorbereitung durchaus sinnvoll, will man nicht – im schlimmsten Fall – den gesamten Bahnsteig entlanghetzen, wenn der Zug schon angekommen ist. Ich begab mich also zum Wagenstandsanzeiger und anschließend, als ich die nötige Information hatte, zum einen Ende des Bahnsteigs. Die erste Klasse sollte – wie gewöhnlich – am dortigen Ende des Zuges zu finden sein. Eine Platzkarte hatte ich nun natürlich nicht mehr, daher war es durchaus wichtig, bereits vor Ort zu sein, wenn der Zug einfuhr, wollte ich mir auch nur die geringste Chance auf einen Sitzplatz erhalten.

Gute fünf Minuten stand ich dann auf dem Bahnsteig herum und erwartete den Zug, als mein Blick auf den Anzeiger fiel, der den Zug ankündigte. Das Fahrtziel war Chur. Lag das nicht in der Schweiz? Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erregte eine Laufschrift meine Aufmerksamkeit. „Bitte beachten Sie die geänderte Wagenreihung…“ entzifferte ich und war mit einem Mal hellwach. Geänderte Wagenreihung? Wie geändert? Stand ich hier etwa falsch? Oh Mann…

Während eine Durchsage bereits die baldige Einfahrt meines Zuges verkündete, suchte ich das kleine Zug-Piktogramm, mit dem auf den Zielanzeigern üblicherweise die Wagenreihung grob vereinfacht dargestellt wird. Die genaue Position eines bestimmten Wagens ist darauf zwar nicht erkennbar, doch immerhin der ungefähre Ort der Wagenklassen in Bezug auf den Bahnsteig. Da! Ich hatte es gefunden! Erste Klasse – am Ende des Bahnsteigs. Natürlich am jenseitigen! Ich war also tatsächlich hier völlig falsch und hatte nun nur noch höchstens eine Minute Zeit, dorthin zu gelangen, bevor der Zug einfuhr. Großartig…

Während ich nun in genau der Hektik, die ich hatte vermeiden wollen, den gesamten Bahnsteig entlangtobte – was wegen der diesen inzwischen sehr zahlreich bevölkernden zukünftigen Mitreisenden alles andere als einfach war und eher einem Slalom als einem schnellen Lauf ähnelte -, fragte ich mich wieder einmal, ob die das bei Der Bahn eigentlich absichtlich machen. Immerhin kommt das, wenn ich Zug fahre, überdurchschnittlich häufig vor. Wieder einmal ging mir die Vorstellung durch den Kopf, wie zwei Planer, die den Zug zusammenstellen, einander angrinsen und gemeinschaftlich beschließen, heute einfach mal die Wagenreihung umzudrehen. „Weißt Du“, sagt der eine zum anderen, „das wird wieder lustig. Die rennen dann immer so schön!“

Genau das tat ich nun auch. Rennen. Von einem Ende des Bahnsteigs zum anderen. In Gedanken wünschte ich den beiden Planern in meiner Vorstellung allerlei unerfreuliche Dinge an den Hals. Nicht, daß es mir etwas geholfen hätte, aber immerhin konnte ich so meinen Ärger etwas kanalisieren.

Ich traf etwa zeitgleich mit dem Zug an meinem Zielort ein. Da die Wartenden auf dem Bahnsteig kaum einmal bereit waren, den diesen entlang eilenden Mitreisenden freiwillig auch nur einen Zentimeter Platz zu machen, hatte ich mich in der Regel vor ihnen vorbeidrängen müssen, was zur Folge hatte, daß ich nun unverhofft einer der ersten an der Tür war. So gelang es mir erfreulicherweise, einen Sitzplatz an einem Tisch in der ersten Klasse zu ergattern – praktisch denselben, den ich auch in meinem ursprünglichen Zug innegehabt hatte. Kurz darauf war der Waggon bis auf den letzten Sitz mit Fahrgästen gefüllt. Für die übrigen blieben nur noch Stehplätze.

Uff. Glück gehabt. Das war knapp. So konnte ich die nächsten zwei Stunden Fahrt nun wenigstens im Sitzen verbringen und hatte nichts auszustehen. Die damit verbundene Ruhe nach der Hektik am Bahnhof von Hannover war sehr angenehm. Hätte ich allerdings gewußt, was Die Bahn noch für mich in petto hatte, ich wäre dafür in diesem Moment noch viel dankbarer gewesen…

In Frankfurt, das hatte ich bereits den Informationen in der App entnommen, standen mir nur wenige Minuten Zeit für den Umstieg in den nächsten ICE, der nach Essen fahren und mich nach Siegburg/Bonn bringen sollte, zur Verfügung. Glücklicherweise würde ich wenigstens nicht den Bahnsteig wechseln müssen, denn der Abfahrtsort würde das gegenüberliegende Gleis sein. Dachte ich jedenfalls.

Kaum war ich jedoch ausgestiegen, vernahm ich auch schon eine Durchsage, die mir verkündete, daß der ICE Nummer Sowieso in Richtung Essen etwa fünf Minuten Verspätung haben und heute vom Gleis Acht fahren werde. Gleis Acht! Das war ganz sicher nicht an meinem Bahnsteig. Ich war begeistert, bedeutete das doch, daß ich die nächste Rennerei vor mir hatte. Vom Ende des Bahnsteigs, an dem ich mich aufhielt und das weit außerhalb der großen Bahnhofshalle gelegen war, mußte ich nun zunächst zu einer Treppe gelangen. Das erwies sich schon bald als außerordentlich weiter Weg, da sich der nächste Abgang erst irgendwo innerhalb der Halle befand. Dort angekommen, mußte ich feststellen, daß sich aufgrund der engen Treppe die Reisenden an ihrem oberen Ende massiv stauten – ein Traum, wenn man es eilig hat. So blieb mir genug Zeit, eine nebenan angebrachte Anzeigetafel zu überfliegen und herauszufinden, daß neben dem von mir anvisierten Zug nach Essen tatsächlich nun Gleis Acht als Abfahrtsort angegeben war. Ich hatte mich also nicht verhört.

Schließlich war auch ich an der Reihe, die Treppe benutzen zu können. So schnell es angesichts der vielen Menschen eben ging, eilte ich hinab, der Ausschilderung folgend durch den engen Tunnel hinüber zum Nachbarbahnsteig und die dortige Treppe wieder hinauf, dabei immer darauf achtend, weder mit meinem Rucksack noch mit meinem Koffer meine Mitmenschen mehr als unbedingt nötig zu belästigen. Oben angekommen, gewahrte ich einen ICE, der an Gleis Acht bereitstand, und direkt vor mir eine weit offen stehende Tür. Eins, zwei, fix war ich drin und atmete tief durch. Geschafft.

Ich weiß nicht, was mich mißtrauischer machte – die Tatsache, daß der Zug trotz der angekündigten Verspätung bereits da war, oder die, daß ich mich bei dieser aufs Geratewohl ausgewählten Tür tatsächlich in der ersten Klasse befand. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen!

Ging es auch nicht. Ein Blick auf den kleinen Monitor neben der Tür belehrte mich, daß ich mich im falschen Zug befand. Dort stand nicht Essen, sondern, soweit ich mich angesichts der Hektik, in die ich gleich darauf erneut ausbrach, korrekt erinnere, Hamburg. Auch das noch! Samt Koffer und Rucksack machte ich kehrt und stand kurz darauf wieder auf dem Bahnsteig. Aber wenn das hier auf Gleis Acht der Zug nach Hamburg war, überlegte ich, wie sollte dann der Zug nach Essen mit nur fünf Minuten Verspätung ebenfalls von hier abfahren, war doch seine eigentliche Abfahrtszeit bereits heran? Da stimmte doch was nicht!

Ich schaute auf den Anzeiger, der sich auch hier neben der Treppe befand, und glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können. Essen, Gleis Sieben, stand dort. Gleis Sieben? Da kam ich doch gerade her! Wollen die mich foppen? Während ich mich ein weiteres Mal fragte, ob die bei Der Bahn sowas eigentlich absichtlich machen, bahnte ich mir bereits hektisch den Weg zurück. Treppe runter, durch den Tunnel, Treppe rauf! Diesmal brauchte ich keine Beschilderung, um den Weg zu finden. Oben angekommen, stellte ich fest, daß tatsächlich ein ICE auf Gleis Sieben bereitstand. Und obwohl ich immer noch in Eile war, nahm ich mir diesmal die Zeit, auf den Zielanzeiger zu schauen. Essen Hbf. Na immerhin. Und wo ist die erste Klasse? Na wo wohl. Am Ende des Bahnsteigs. Immerhin an dem, der sich in der Bahnhofshalle befand. Da war der Weg wenigstens nicht ganz so weit.

Eine offene Tür mit der nebenstehenden großen Eins empfing mich am letzten Wagen des Zuges. Ich stieg ein und begab mich auf Platzsuche. Als ich schließlich an der nächsten Tür und gleichzeitig am Ende des Zuges angekommen war, mußte ich wohl oder übel einsehen, daß kein einziger Sitz mehr frei war und ich die weitere Fahrt über würde stehen müssen. Na gut. Mittlerweile konnte mich das auch nicht mehr wirklich erschüttern. In einem Anflug von Galgenhumor fiel mir der gute alte Spruch wieder ein, den wir in den Zeiten der DDR bereits auf die Deutsche Reichsbahn angewandt hatten, der nun aber auch perfekt auf Die Bahn zu passen schien:

Die Bahn – Genießen Sie die Fahrt in vollen Zügen!

Glücklicherweise würde diese Fahrt nur runde fünfundvierzig Minuten dauern. Das könnte ich wohl aushalten.

Doch noch fuhr der Zug nicht. Ich verstaute meinen Koffer und meinen Rucksack, so gut es ging, damit sie sich nicht im Weg befanden, und stand dann im Türraum des Waggons. Auf dem Boden neben mir hatte sich eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß niedergelassen, die in kurzen Abständen auf den Schaffner, der draußen auf dem Bahnsteig neben der Tür stand, einredete. Aus dem, was sie sagte, konnte ich entnehmen, daß ihr auf dem Weg zum Zug der Wind die Fahrkarte aus der Hand gerissen und auf ein Gleis geweht hatte, so daß sie sie nicht wiederbekommen konnte. Nun sei ihre Freundin unterwegs, eine neue zu kaufen. Ob wir denn warten könnten? Der Schaffner war die Ruhe selbst. So sehr, daß er überhaupt nicht reagierte. Die gute Frau erhielt keinerlei Antwort und wurde von ihm komplett ignoriert. Unbeeindruckt von ihren ständigen Fragen machte er sich gerade bereit, mit seiner Kelle Abfahrtbereitschaft zu signalisieren, als in letzter Minute eine weitere Frau zur Tür gerannt kam, eine Fahrkarte hereinreichte und die Reisende auf dem Boden damit zur in diesem Moment erleichtertsten Frau der Welt machte. Dann schloß sich auch schon die Tür hinter dem inzwischen eingestiegenen Schaffner und der Zug setzte sich in Bewegung.

Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, denn der nächste Halt war der Flughafen Frankfurt. Zu meiner übergroßen Freude erhoben sich kurz vor Erreichen des Bahnhofs mehrere Fahrgäste von ihren Plätzen und begaben sich in Richtung Türen, was mir Gelegenheit gab, doch noch einen Sitzplatz zu ergattern. Erfreulicherweise fand ich einen, der erst ab Siegburg wieder reserviert war, was mir vollkommen ausreichte, denn weiter wollte ich nicht mitfahren. Ich holte meinen Koffer und meinen Rucksack aus der Nische, in die ich sie verfrachtet hatte, und setzte mich – dankbar, meinen Stehplatz im Türraum aufgeben zu können, hatte doch das bisher Erlebte das Kind der Frau offenbar so aufgewühlt, daß es die nächste Zeit im wesentlichen aus voller Kehle schreiend verbrachte. Ein Umstand, den ich nicht unbedingt aus nächster Nähe hätte miterleben wollen, was ich ohne den Sitzplatz aber wohl gemußt hätte, denn die Mutter hatte es vorgezogen, auf dem Boden des Türraums sitzen zu bleiben.

Während ich nun auf meinem Platz saß und versuchte, mich von der Hektik des Umstiegs in Frankfurt, die mich einiges an Schweiß gekostet hatte, zu erholen, konnte ich schräg über mir auf dem Monitor unter der Waggondecke die angezeigten Texte und Bilder studieren. Neben Uhrzeit, Zugnummer und aktueller Geschwindigkeit – phasenweise erreichte der Zug tatsächlich 300 km/h, so daß sich der Begriff Rennstrecke für diesen Teil der Fahrt als durchaus zutreffend erwies – zeigte mir Die Bahn auch jede Menge Werbung – für sich und ihre angebotenen Dienste.

DB Navigator:
Schneller den richtigen Platz finden
Mit der aktuellen Wagenreihung in der App.

Offenbar, so ging es mir durch den Kopf, ist die Änderung der Wagenreihung für Die Bahn mittlerweile ein Normalzustand. Warum sonst sollte sie ihrer App eine Funktion spendieren, die die – wohlgemerkt – aktuelle Wagenreihung präsentiert und diese auch noch bewerben? Und nützlich wäre eine solche Funktion ja auch nur dann, wenn man überhaupt einen Platz hat, den man finden möchte. Das war, was mich betraf, bei dem heutigen Chaos, das Die Bahn veranstaltet hatte, ja nur bei einem von drei Zügen der Fall.

Während ich noch darüber nachdachte, zeigte der Monitor bereits die nächste Werbung:

Jetzt mehr veganer & vegetarischer Genuss an Bord.
Schauen Sie gerne in der Bordgastronomie vorbei.

Nun, das reizte mich nicht so sehr. Ich fragte mich nur, warum da eigentlich nicht stand, daß durchaus nicht jeder in der so gepriesenen Bordgastronomie willkommen war, galt doch diese Aufforderung nur Leuten, die der 3G-Regel genügten. Man müßte also bereits vor Antritt der Fahrt wissen, daß einen später im Zug der Hunger ereilte. Zumindest, wenn man zu jenen gehörte, die einen Test benötigten. Was eigentlich, wenn man das ernst nehmen wollte, nach aktueller Erkenntnislage alle sein müßten. Aber lassen wir das.

Mittlerweile war wieder etwas anderes zu lesen:

Von Amsterdam über Frankfurt bis Zürich.
Geschäftsreisen macht man mit der Bahn.

Ein bitteres Lachen bahnte sich unwillkürlich seinen Weg durch meine Kehle. Also wenn Die Bahn Geschäftsreisenden denselben Service angedeihen ließ, den ich heute auf meiner Fahrt erleben durfte, dann würde sie sich unter diesen sicher kaum viele Freunde machen.

Als ich in Siegburg/Bonn den Zug schließlich verließ, war ich froh, daß meine von Der Bahn veranstaltete Odyssee nun ihr Ende gefunden hatte. Das war selbst dann noch der Fall, als mir klar wurde, daß sie mich, wenn man es genau nimmt, gar nicht dorthin gebracht hatte, wofür ich bezahlt hatte. Gebucht hatte ich eine Fahrt bis zum Bonner Hauptbahnhof. Nun aber stand ich in Siegburg, das zwar zum Einzugsgebiet von Bonn gehört, von dem aus es aber noch einer guten dreiviertelstündigen Fahrt mit der städtischen Straßenbahn bedurfte, um zum Bonner Hauptbahnhof zu kommen – einem Verkehrsmittel, das mit Der Bahn nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Immerhin war ich all dem Streß, dem ich ausgesetzt war, zum Trotz nur wenig später als ursprünglich geplant am Ziel meiner Fahrt angekommen.

Ob dieser mein Bericht über meine heutige Fahrt mit Der Bahn dazu beitragen wird, ihre Etablierung als verkehrstechnische Alternative zum Auto zugunsten von Mitwelt und Klima zu befördern? Ich bezweifle es. Was man ihm jedoch ohne weiteres entnehmen kann, ist ein Eindruck, was dabei herauskommt, wenn man für das Gemeinwohl notwendige Unternehmen wie Die Bahn auf Gedeih und Verderb auf Profit trimmt oder gar gänzlich privatisiert.

Nachtrag

Die von mir mit Spannung erwartete Rückfahrt vier Tage später – was würde da wohl passieren? – verlief zu meinem Glück deutlich entspannter. Von einem guten Rundum-Service kann jedoch auch dabei keine Rede sein.

Den Anfang machte die von einem Privatunternehmen betriebene Bahnhofstoilette am Hauptbahnhof von Köln. Abgesehen davon, daß der gesamte riesige Bahnhof offenbar nur über ein einziges Etablissement dieser Art verfügt – ich konnte jedenfalls kein zweites finden -, erwies sich dieses als unbenutzbar. Der Bereich für die männlichen Vertreter der Schöpfung war komplett gesperrt, so daß die Damen gezwungen waren, den ihren zu teilen. Das wiederum hatte aber zur Folge, daß – der blödsinnigen Idee eines zeitweiligen Neun-Euro-Tickets für einen darauf überhaupt nicht vorbereiteten öffentlichen Nahverkehr sei Dank – der Andrang derart groß war, daß die Schlangen an der Toilette endlos waren. Dort konnte sich gelassen nur anstellen, wer bis zur Abfahrt seines Zuges wenigstens noch eine Stunde Zeit und es überdies hinsichtlich der Verrichtung seines Bedürfnisses nicht übermäßig eilig hatte. Das Personal schien in der Zeit, in der ich mir das Drama vor dem Zugang zu der Anstalt anschaute, mehr damit beschäftigt sein, die Wartenden zu kanalisieren, zu betreuen und bei der Bedienung der Zugangsautomaten zu unterstützen, als daß es Zeit für die Reinigung der Anlage hätte aufbringen können.

Daß die Wagenreihung auch bei dieser Fahrt wieder einmal umgekehrt zu der eigentlich am Wagenstandsanzeiger angegebenen war, ist fast nicht notwendig zu erwähnen. Das scheint bei Der Bahn  sowieso schon der Normalzustand zu sein.

Für die Fahrgäste der ersten Klasse hatte sich Die Bahn dieses Mal etwas Besonderes ausgedacht, damit sie ihren Platz auch ausreichend würdigten, wenn sie ihn denn erreicht hatten. Für eineinhalb Waggons der ersten Klasse  – einen mußte sie sich mit dem Bordbistro teilen – gab es so statt zwei lediglich eine einzige funktionierende Tür, die sich ganz am Ende des Zuges befand. Wie einer der Fahrgäste treffend bemerkte: „Wir können froh sein, wenn nur die Tür kaputt ist.“

Immerhin waren diesmal die Toiletten funktionsfähig. Als der Zug in Hamm eintraf, stiegen plötzlich jede Menge Fahrgäste zu. Wie ich ihren Unterhaltungen entnehmen konnte, hatte man sie eine Stunde zuvor aus ihrem Zug gescheucht, der seine Fahrt aus irgendwelchen Gründen nicht mehr fortsetzte. Das kam mir bekannt vor. Mir blieb in diesem Augenblick nur, mit ihnen Mitleid zu haben und gleichzeitig froh zu sein, daß dieses Mal nicht mir dies Ungemach widerfuhr.

Die trotz pünktlicher Abfahrt am Ende zu Buche schlagende Verspätung von etwas mehr als einer halben Stunde muß bei Der Bahn in heutiger Zeit wohl schon als pünktliche Ankunft gelten, auch wenn gegen Ende der Fahrt die per Durchsage bekanntgegebenen Informationen über nicht mehr erreichbare Anschlußzüge lang und länger wurden.

Zu guter Letzt kam ich dann wohlbehalten wieder zu Hause an. Als Fazit dieser meiner Wochenendreise mit Der Bahn bleibt jedoch am Ende leider nur ein weiterer ironischer Werbespruch aus den Zeiten der guten alten Deutschen Reichsbahn:

Die Bahn – Bei uns läuft alles, bald laufen auch Sie!