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Der vierte Tag

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© 2005-2009, Alexander Glintschert
Zuletzt geändert: Sonntag, 11. Juli 2010

Besuch beim Grafen

Leider setzt sich das schlechte Wetter an den folgenden Tagen fort. So wird aus den Wanderungen, die ich mir vorgenommen hatte, bedauerlicherweise nichts, was zwar schade ist, mich jedoch nicht um meine gute Laune bringt. Es gibt hier in der Umgebung von Wernigerode und im Harz allgemein genügend Alternativen für Unternehmungen, die mich das schlechte Wetter bald vergessen lassen.

Des Abends sitze ich dann meist in meinem behaglichen Hotelzimmer beim gemütlichen Schein einer kleinen Lampe und halte die Ereignisse des Tages in meinem Reisebericht fest oder lese ein Buch. Draußen stöhnt der Wind ums Haus und rüttelt an den Fenstern. Meist regnet es, und daß der Regen an die Scheiben schlägt, verhindert nur der Balkon. Auch tagsüber fällt immer wieder Regen, und wenn es doch einmal aufhört, hängen die Wolken immer noch grau und schwer an den Berggipfeln und lassen den Wald in dichtem Nebel versinken. Lediglich ein einziger Tag bringt die Sonne noch einmal ein wenig zurück.

Nach einem erlebnisreichen Urlaubstag nehme ich das Abendbrot meist in meinem Hotel ein. Das Restaurant des Hauses ist wirklich außergewöhnlich gut, nur leider auch etwas teuer. Nachdem ich an den verschiedenen Abenden immer wieder ein anderes Gericht aus der Karte probiert habe, muß ich jedoch feststellen, daß das Essen seinen Preis auch durchaus wert ist, und das nicht nur, weil es mir sehr gut schmeckt, sondern auch, weil die Portionen eine angenehme Größe haben. Und das ist in Restaurants der gehobenen Preisklasse ja durchaus nicht immer selbstverständlich.

Lediglich an einem Abend genehmige ich mir ein Abendessen in einem Restaurant im Zentrum der Stadt. Es ist ein kleines gemütliches Lokal namens “Kleines Paradies”, und diesem vielversprechenden Namen wird es mit seiner rustikalen Küche, die hält, was die Karte verheißt, durchaus gerecht. Während ich hier sitze und in dieser Speisekarte blättere, umgeben von altertümlichen Möbeln und allerlei neckischem Krimskrams, von alten gerahmten “Hör zu”-Titelblättern mit Schauspielern und Sängern der fünfziger und sechziger Jahre, von Wänden, die mit alten Zeitungen aus dieser Zeit tapeziert sind, so daß man überall etwas zu lesen hat, schaue ich gelegentlich durch eines der kleinen Fenster auf die Straße, die von gelb leuchtenden Laternen erhellt wird, die einen freundlichen warmen Schein verbreiten. Wie ich so weiterblättere, stoße ich plötzlich auf eine Seite, die mich schmunzeln läßt. Schuld daran ist dieses kleine Wandergedicht:

    Für Wanderfreunde im Harz

    Sechs Tage Arbeit und Kultur,
    Am Sonntag aber “Nur Natur”.
    Sieh frank und frei ins Land hinaus,
    Schliff, Schick und Bildung laß zuhaus.

    Des Waldes feierliche Stille
    Belebe kräftig mit Gebrülle.
    Laß bitte keine Blumen steh’n!
    Was brauchen and’re sie zu seh’n?

    Das Gras, die Saat tritt ruhig nieder,
    Im nächsten Jahr wächst alles wieder.
    Durch Rindenschnitt in jedem Stamme
    Verew’ge Dich und Deine Flamme.

    Blechbüchsen, Scherben und Papier
    Laß liegen zu des Waldes Zier.
    Was sind dem Walde Tiere not?
    Wirf, hetze, fange, schlage tot!

    Rauch flott im Holze, schür’ ein Feuer!
    Das freut den Förster ungeheuer.
    Wo freundlich Rast und Stille winken,
    Laß knallend Deinen Motor stinken!

    Hältst Du Dich stets an solche Regel,
    Bist Du ein zünft’ger - Wanderflegel!

Wie eingangs bereits bemerkt, habe ich leider keine Gelegenheit mehr, erneut zu beweisen, daß ich keiner dieser Wanderflegel bin. Auch für den vierten Tag meines Urlaubs verspricht der Wetterbericht regnerisches Wetter, so daß ich beschließe, ihn in Wernigerode zu verbringen und das Schloß, das mir bereits am ersten Tag aufgefallen war, zu besuchen.

Zunächst schlafe ich jedoch erst einmal gemütlich aus, frühstücke in aller Ruhe und mache mich dann auf den Weg ins Stadtzentrum. In der Nähe des Marktes fuhr, wie ich bereits an den Tagen zuvor bemerkt hatte, eine Bimmelbahn ab, die Schloßbesucher hinauf zum Schloß brachte, und da es gerade wieder einmal Strippen regnet, habe ich keine rechte Lust, durch den Regen auf den Schloßberg hinaufzulaufen.

Die Bimmelbahn stellt sich als kleines gelbes, als Lokomotive gestaltetes Zugmaschinchen heraus, das zwei Anhänger hinter sich herzieht, die als geschlossene Waggons hergerichtet sind. Eine Fahrt kostet 2,50 Euro, wofür es aber noch einige Erklärungen des Fahrers zur Stadt und ihrer Geschichte gibt.

Schloß Wernigerode - KleinAuf dem Weg hinauf fahren wir an meinem Hotel vorbei und kurz darauf an einem großen Park. Ich erfahre, daß es sich dabei um den ehemaligen Lustgarten handelt, der als englischer Park angelegt worden war und in dem viele verschiedene, zum Teil seltene und kostbare Gehölze aus aller Welt beheimatet sind. Der Fahrer erwähnt desweiteren, daß der Park eine dendrologische Rarität in Deutschland, wenn nicht gar in Europa sei, und er stellt ihn in eine Reihe mit bekannten deutschen Parks wie beispielsweise Sanssouci. Nun, jetzt im Winter läßt sich das natürlich nicht beurteilen, und der Park wirkt mit seinen meistenteils kahlen Bäumen auch nicht so sehr beeindruckend, aber dafür kann er ja letztlich nichts. Will ich mir davon selbst einen Eindruck verschaffen, werde ich wohl im Sommer noch mal wiederkommen müssen.

Lang dauert die Fahrt nicht, bereits nach zehn Minuten sind wir am ehemaligen Unteren Tor angelangt. Den Rest muß ich dann zu Fuß zurücklegen. Kurz vor Erreichen des Endpunktes unserer Fahrt kommen wir an einem einzeln stehenden Fachwerkhaus vorbei, das sich mitten im Wald am Hang des Schloßberges erhebt, kurz unterhalb des Schlosses. Dieses Haus, das heute privat bewohnt wird, ist das sogenannte Alte Spielhaus. Ich erfahre, daß es für die Kinder der Fürstenfamilie errichtet worden war. Sie konnten hier nach Herzenslust spielen. Während ich das letzte Stück des Wegs zur Schloßterrasse hinaufsteige, überlege ich, wie merkwürdig es doch in der Welt so zuging und auch heute noch zugeht. Während die einen in ihrer ärmlichen Wohnung nicht einmal eine Spielecke für ihre Kinder einrichten können, leben andere in einem Schloß mit mehr als hundert Zimmern und lassen dennoch ein Spielhaus für ihre Kleinen bauen, einerseits, damit sie von ihnen nicht gestört werden, und andererseits, damit sie die kleinen Racker leichter auffinden und nicht in den endlosen Zimmerfluchten jedes Mal suchen müssen.

Schloß Wernigerode 2 - KleinAuf der Schloßterrasse angekommen, verschiebe ich den Ausblick über die Stadt auf später, da es immer noch regnet. Stattdessen kaufe ich mir eine Eintrittskarte, leihe mir einen sogenannten Audio-Guide aus und betrete das Schloß. So habe ich es am liebsten - auf eigene Faust, wenn möglich, mit einem solchen Audio-Guide ausgestattet, auf Besichtigungstour zu gehen. Ich kann mein Tempo selbst bestimmen, muß keiner Gruppe hinterherrennen, und bekomme dennoch alles Wissenswerte, das mich interessiert, aus berufenem Munde mitgeteilt. Nur Fragen kann ich natürlich keine stellen, aber man kann eben nicht alles haben.

Ich trete also an die Sperre vor dem Treppenhaus, schiebe meine Eintrittskarte in den Automaten und schlängele mich, als das grüne Licht aufleuchtet, ganz so, wie es die Bedienungsanleitung neben dem Automaten vorschreibt, durch das Drehkreuz. Dann steige ich die breite Wendeltreppe hinauf, bis ich einen Stock höhergekommen bin, und trete durch eine Tür - hinaus in den Hof.

Tatsächlich stehe ich nun im Innenhof des Schlosses, der ganz offensichtlich deutlich höher gelegen ist als die Schloßterrasse. Als ich mich umsehe, glaube ich mich für einen Augenblick ins Mittelalter versetzt. Festes Mauerwerk aus groben, unregelmäßig geformten Steinen hier, dort ein trutziger Turm, daneben ein Gebäude mit Fachwerk, reichhaltig verziert, mit Butzenscheibenfenstern, vor dem Turm eine Freitreppe, nicht besonders groß, aber dafür bewacht von vier Statuen wunderlicher Fabelwesen, am oberen Ende der Treppe ein prachtvoll verzierter Eingang mit nach oben spitz zulaufendem Bogen, jetzt jedoch leider durch ein Baugerüst halb verdeckt. Dieses ist es auch, was den kurzen Eindruck, in der Zeit zurückversetzt worden zu sein, verwischt und mich in die Gegenwart zurückbringt. Ganz korrekt war der Eindruck sowieso nicht, denn in seiner heutigen Form präsentiert sich das Schloß erst seit dem großen Umbau im 19. Jahrhundert, den Fürst Otto zu Stolberg-Wernigerode damals durchführen ließ. Dabei veranlaßte er, daß das Schloß, wie man es heute bezeichnet, im Stil des Historismus umgestaltet wurde. Herausgekommen ist ein Bauwerk, das sich mehr als mittelalterliches Gebäude präsentiert als manch original mittelalterliches Bauwerk selbst. Wie ich von meinem automatischen Begleiter erfahre, weist dieses Schloß noch eine andere Eigenart auf, die es von vielen Bauten ähnlicher Art in Deutschland abhebt und zur Rarität werden läßt: der Architekt Carl Frühling vermied bei seinem Entwurf peinlich genau jede Art von Symmetrie in der Anlage. Das hat zur Folge, daß man, ginge man einmal um das Schloß herum, immer wieder eine andere Ansicht des Schlosses sieht. Es zeigt immer wieder eine andere Silhouette. Das gilt selbst für den im Grundriß quadratischen Turm, wie ich beobachte. Eine Seite weist am oberen Ende einen erkerartigen Vorsprung auf, der den anderen Seiten fehlt, die sich jedoch wieder in anderen Details voneinander unterscheiden.

Nachdem ich mich im Hof umgesehen habe, beginne ich mit dem ersten von zwei ausgewiesenen Rundgängen, der mich zunächst in die Schloßkirche führt. Sie spielt in der Anlage des Schlosses eine zentrale Rolle. Wer irgendwohin in einen wichtigen Teil des Schlosses möchte, muß hier hindurch. Der Innenraum dieser kleinen Kirche ist großartig. Eine drei Seiten umfassende Empore, schöne, dezent bemalte Deckengewölbe, bunte Kirchenfenster, ein schneeweißer Altar und eine ebensolche Kanzel - das sind die Hauptanziehungspunkte für’s Auge des Betrachters. Altar und Kanzel bestehen aus Kalkstein und sind mit wunderschön gearbeiteten Figuren versehen. An einer Seitenwand steht ein geschnitzter und vergoldeter Altar aus einem frühen Jahrhundert - leider habe ich nicht behalten, aus welchem. Über der mittleren Empore befindet sich eine kleine Orgel, deren Pfeifen alle bemalt sind.

Durch eine Seitentür verlasse ich die Kirche und betrete die zentralen Räume des Schlosses, die von der Fürstenfamilie und ihren Gästen benutzt wurden. Es ist faszinierend zu sehen, wie das Prinzip der Einzigartigkeit, das in der äußeren Form des Schlosses durch Vermeidung jeglicher Symmetrie umgesetzt worden war, auch im Inneren das alles beherrschende Gestaltungselement ist. Jeder Raum verfügt über eine reichhaltig gestaltete Kassettendecke aus Holz, doch gibt es keine einzige auch nur ein zweites Mal. Das gleiche galt früher für die Parketts, von denen jedoch leider nicht mehr alle erhalten sind, und für die Wandgestaltung. Daß jeder Raum auf seine ganz eigene Art und Weise ausgestaltet ist, brauche ich kaum noch zu erwähnen.

Fasziniert durchwandere ich die Gesellschaftszimmer, die Arbeitsräume des Fürsten, die Bibliothek - in der es heute leider kaum noch ein Buch gibt, da die Fürstenfamilie in Zeiten größerer Geldnöte alle Bücher selbst veräußert hat - bis hin zu des Fürsten Wohn- und Schlafräumen. Während hier eher Zweckmäßigkeit und praktischer Nutzen die Einrichtung bestimmt zu haben scheinen, dominieren in den sich anschließenden Räumen der Fürstin, die über einen das Treppenhaus überbrückenden sogenannten Katzensteg mit den Räumlichkeiten des Fürsten verbunden sind, eher Extravaganz und Raffinesse die Einrichtung. Hier hat jeder Raum seine eigene Farbe. Der Wohnraum ist rot, ihr Arbeitszimmer in blau gehalten. Das Schlafzimmer des Fürstenpaares hingegen wird von türkisen Tönen dominiert. Die Tapete, die nur noch im roten Salon im Original erhalten ist und in den anderen Räumen im Zuge der Restaurierung nachgefertigt wurde, ist vom Architekten des Schlosses komplett mitentworfen worden, genau wie die gesamte Inneneinrichtung. Natürlich handelt es sich dabei nicht um Tapete im heutigen Sinne. Stattdessen sind die Wände dieser Räume mit Stoff bespannt, in den Familienwappen und Monogramme bzw. Initialen der Fürstin und des Fürstenpaares - je nach Raum - eingewebt sind. Einige der Möbel sind sogar mit dem gleichen Stoff bezogen.

Der Aufwand, der hier betrieben wurde, um diese Räume zu schaffen - von Einrichten möchte man in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen, das wirkt fast schon zu profan -, ist wahrhaft erstaunlich. Ich glaube, in diesen Räumen hat man nicht einfach nur gewohnt, geschlafen oder gearbeitet, hier wurden Wohnen, Schlafen und Arbeiten zelebriert. Aber der Vizekanzler Bismarcks, der Otto zu Stolberg-Wernigerode ja bekanntlich war, konnte sich das natürlich leisten.

Zum Abschluß führt mich der Rundgang noch durch das Ankleidezimmer der Fürstin und durch das Badezimmer, in dem es eine in den Fußboden eingelassene Badewanne gegeben haben soll, die man aber heute leider nicht mehr sehen kann. Schließlich stehe ich wieder auf dem Hof. Da ich weder müde noch hungrig bin, beschließe ich, den Besuch im Schloßcafé auf später zu verschieben, und begebe mich sofort zum Startpunkt von Rundgang 2.

Dieser führt mich eine Treppe im Turm aufwärts in den ersten Stock - oder ist es der zweite? Wie zählt man in einem an und auf einem Berg gelegenen Schloß, in dem man Treppen hochsteigen muß, um in den Hof zu gelangen, die Stockwerke? Oben angekommen, stelle ich fest, daß ein Teil der Räume wegen Umbauten irgendeiner Ausstellung leider unzugänglich ist. Irgendwann müssen solche Arbeiten halt durchgeführt werden, und daß man sie nicht im Sommer erledigen will, wenn man mit vielen Touristen rechnen kann, ist auch zu verstehen. Für diejenigen, die im Winter Urlaub machen, ist es trotzdem sehr schade.

Ich begebe mich also gleich wieder in die Kirche, wo ich nun, bei meinem erneuten Besuch hier, auf der Empore, direkt unter der Orgel, stehe. Jetzt kann ich die Bemalung der Orgelpfeifen aus der Nähe betrachten. Filigran gearbeitete Muster verzieren jede einzelne Pfeife und lassen sie fast zerbrechlich wirken. Von hier oben habe ich einen schönen Überblick über den Innenraum der Kirche. Am Eingang zur Empore ist die Wand mit einem Vorhang zugehängt, der in zahlreichen Falten zu Boden fällt. Als ich nähertrete und unwillkürlich die Hand ausstrecke, um den Stoff zu berühren, stelle ich überrascht fest, daß ich eine glatte Wand vor mir habe - der Vorhang ist nur aufgemalt. Erstaunlich, wie täuschend echt diese Malerei aus einigen Metern Entfernung und selbst noch aus der Nähe wirkt.

Langsam schlendere ich über die Empore auf die rechte Seite, an der ich vorhin im unteren Bereich der Kirche diese verlassen hatte. Auch auf dieser Etage befindet sich hier eine Tür, durch die es in die dahinter gelegenen Räume geht. Als ich diese Tür durchschritten habe, sehe ich, daß der Begriff Raum für das, was jetzt vor mir liegt, nicht im mindesten zutreffend ist. Staunend stehe ich mit offenem Mund, wie ich vermute, da und blicke in den Festsaal des Schlosses - den Kaisersaal. Schloß Wernigerode 7 - KleinDieser immens hohe Raum - ein anderes Wort fällt mir dann doch nicht dafür ein - mit der reich verzierten, fein gearbeiteten hölzernen Kassettendecke, den hohen Fenstern, die einen malerischen Blick auf die unten ausgebreitete Stadt eröffnen, und den prächtigen Wandgemälden ist beeindruckend, ja überwältigend. So etwas bekommt man wirklich nicht alle Tage zu sehen. Mit dem Rücken zum Fenster stehend, betrachte ich auf der linken Seite das Gemälde, das fast die gesamte Wand einnimmt. Es zeigt die symbolische Schlüsselübergabe der Stadt an den Grafen von Stolberg, die der Graf von Wernigerode mit seinem Erbvertrag veranlaßt hatte, weil er keinen männlichen Erben mehr hatte. Damit wurde aus dem Grafen von Stolberg der Graf zu Stolberg-Wernigerode. Da Fürst Otto die Bilder malen ließ, hatte er dafür gesorgt, daß sein auf dem Bild dargestellter Urahn seine eigenen Gesichtszüge trug. Auch seine Ehefrau mit ihren Kindern war am rechten Bildrand verewigt worden. Und noch eine “Unkorrektheit” im historischen Sinne war auf dem Bild begangen worden: Das Schloß befindet sich dort im Zustand des 19. Jahrhunderts - nach dem großen Umbau -, obwohl sich die Szene im 15. Jahrhundert abspielt. Leider weist das Bild bereits einige Schäden auf, die, wie ich feststelle, als ich näher herantrete, auf Risse, die sich in der Wand gebildet haben, zurückzuführen sind. Die gefährdetsten Stellen hat man bereits mit einer Art Klebeband gesichert, damit die bemalte Schicht nicht abfällt. Über kurz oder lang würde wohl eine umfassende Restaurierung erforderlich werden.

Mir direkt gegenüber, an der Längswand des Saals, befinden sich zwei weitere große Wandbilder. Zwischen ihnen hängt über einer Tür ein großer Hirschkopf mit prächtigem Geweih - das Wappentier derer zu Stolberg-Wernigerode. In der hinteren linken Ecke steht ein reichverzierter Kamin, in der rechten ein hohes Schaubüfett, das auserlesenes Silbergeschirr präsentiert. Beide sind umgeben von einer verzierte Kacheln imitierenden Wandmalerei. Der Blickfang des Saales schlechthin ist jedoch die reich gedeckte Tafel in der Mitte. Sie bietet vierzehn Personen Platz und ist mit dem feinsten Silbergeschirr und -besteck ausgestattet, ergänzt mit kostbaren Gläsern, wahrscheinlich aus Kristallglas. An jedem Platz stehen vier Gläser, vermutlich für Wein, Likör und Wasser - den Zweck des vierten kann ich nicht erraten, dafür kenne ich mich in der höfischen bzw. kulinarischen Etikette der feinen Kreise dann doch zu wenig aus.

Ich blicke über die Tafel und bekomme eine vage Vorstellung davon, welch prunkvolle Feste und Gala-Diners hier gegeben wurden. Fast erwarte ich, daß ein livrierter Diener durch eine der Türen eintritt und Gäste zu ihren Plätzen geleitet, wäre da nicht die Absperrung, die Besucher daran hindert, zum Tisch zu gehen und etwas zu berühren, und die mich daran erinnert, daß ich mich in einem Museum befinde. Rechts von mir bemerke ich eine weitere Tür, durch die der Rundgang weiterführt. Über ihr befindet sich ganz offensichtlich ein weiterer Raum, denn er ist mit dem Festsaal durch drei Bogenfenster verbunden, die jedoch keine Scheiben aufweisen. Dieser Raum ist sicher die sogenannte Musikantennische. Hier saß vermutlich, wenn Fürst und Fürstin im Saal ein rauschendes Fest oder einen Empfang gaben, ein kleines Orchester, vielleicht auch eine Streichergruppe, und musizierte für die hohen Herrschaften.

Ich verlasse den Festsaal schließlich durch die bereits erwähnte Tür, folge dem abgesteckten Rundgang durch eine weitere Zimmerflucht und gelange schließlich zu den Räumen, die damals den Gästen des Hauses vorbehalten waren. Hier scheint es nun in Bezug auf den Luxus überhaupt kein Halten mehr gegeben zu haben. Ausgestaltet worden sind alle diese Räume, wie ich erfahre, nach dem Geschmack Wilhelms I., da er der erste Gast in diesen Räumen sein sollte. Der Architekt Frühling war dafür extra nach Berlin gereist, um sich die Ausstattung der Räumlichkeiten anzusehen, die der Kaiser in seinen dortigen Schlössern bewohnte. Das nenne ich Arbeitseifer! Und so waren die Räume entstanden, deren Luxus und Prunk ich hier nun bestaune und die kaum zu überblicken sind. Angefangen von den auch hier wieder überaus prächtigen Kassettendecken über die geschnitzten Wandvertäfelungen bis hin zu den kostbaren Möbeln - alles ist von ausgesucht teurem Geschmack. Kein Wunder, daß Wilhelm I. gesagt haben soll, er habe sich auf Schloß Wernigerode immer sehr wohl gefühlt.

Im letzten Raum, dem Ankleidezimmer (oder ist es das Schlafzimmer?), gibt es sogar eine kleine Nische, die mit bunten Kacheln ausgekleidet ist und eines der ersten Wasserklosetts enthalten hatte. Deutlich ist an der Wand noch der Abdruck des Spülkastens auszumachen. Mit Wasser versorgt wurde das WC aus einem Becken, das immer wieder neu mit Wasser aufgefüllt werden mußte. Die Anzahl der Spülgänge, die man sich während einer Sitzung leisten konnte, war demnach beschränkt. Der Gang zum WC erforderte also gewissermaßen sorgfältige Planung. Sogar eine kleine Gaslampe soll das kleine Kabuff gehabt haben, damit der Kaiser seine stillen Stunden nicht im Dunkeln verbringen mußte, denn ein Fenster war natürlich nicht vorhanden. Erstaunlich ist, daß man dieses WC erst vor einigen Jahren bei Restaurierungsarbeiten wiederentdeckt hat. Zu DDR-Zeiten hatte man die Nische irgendwann mit einer Sperrholzplatte vernagelt und dann, so verwunderlich das auch ist, vergessen.

Der Rundgang führt mich nun weiter durch Räume, die der Vorstellung des höfischen Lebens gewidmet sind. Hier werden Ritterrüstungen, Jagdutensilien, Waffen, ein Wildschwein und eine Wildwaage gezeigt. Außerdem finden sich hier Möbel der verschiedensten Art. Interessant finde ich zwei Schränke, die als Unterbringung von Sammelobjekten dienten und speziell für diesen Zweck entworfen und hergestellt worden sind. Sie weisen eine Vielzahl kleiner Schubladen auf, in denen Mineralien, Muscheln oder ähnliche Gegenstände, die man damals so sammelte, aufbewahrt werden können, und zwar streng geordnet, denn alle diese Laden sind numeriert. Sogar abschließbar sind diese Schränke, und zwar mittels eines hochkomplexen Schließsystems mechanischer Art, das dafür sorgt, daß mit einem einzigen Schloß alle Laden abgeschlossen sind. Solche Schränke wären sicher auch für mich von großem Nutzen, aber ich bräuchte dann wohl auch ein Schloß zum Wohnen, wollte ich mir welche anschaffen.

Wenn ich mir überlege, daß praktisch die gesamte Innenausstattung des Schlosses - vom eigentlichen Bau einmal ganz abgesehen - speziell für den Fürsten zu Stolberg-Wernigerode angefertigt worden war, dann wird mir klar, welch unermeßlich hohe Kosten dieser Schloßumbau verursacht haben muß und wie reich jemand sein muß, der sich das leisten kann. Die Güter dieser Welt sind eben schon seit jeher sehr ungleichmäßig verteilt gewesen, und ich denke, es hat nichts mit Neid oder Mißgunst zu tun, wenn man sich die Frage stellt, ob das alles so gerechtfertigt ist.

Dem Rundgang weiter folgend, gelange ich schließlich in einen langen Flur. Hier ist der Stammbaum der Familie zu Stolberg-Wernigerode dargestellt, der auch heute noch weitergeführt wird. Er beginnt im 13. Jahrhundert und verzweigt sich mit den Jahrhunderten derart weit, daß offenbar hier nur der Hauptzweig wirklich weiterverfolgt wird. An einigen Seitenzweigen scheint er mir nämlich einige Lücken zu haben. Sollte ich mich doch noch einmal irgendwann entschließen, den Stammbaum meiner Familie zusammenzustellen, dürfte ich wohl nicht hoffen, derart weit in die Vergangenheit zurückzugelangen.

Ebenfalls in diesem Flur befindet sich eine Galerie von Bildern - insgesamt 25 Stück -, die Künstler und Familienmitglieder gemalt und dem Fürstenpaar zur Silberhochzeit geschenkt hatten. Jedes Bild repräsentiert ein Ehejahr und stellt wichtige Ereignisse dar, die in diesem Jahr geschehen waren. Diese Idee gefällt mir außerordentlich gut.

Nachdem ich durch einen weiteren langen Flur gegangen und durch eine letzte Tür getreten bin, befinde ich mich wieder im Treppenhaus, diesmal jedoch ganz oben. Hier ist nun auch der zweite Rundgang zu Ende. Ich steige eine Etage hinab und betrete noch einmal den Innenhof. Während ich noch überlege, ob ich dem Schloßcafé nun noch einen Besuch abstatten soll, bemerke ich in der Mitte des Hofes eine Tafel, die vorhin noch nicht dort gestanden hatte. Sie kündigt für 15 Uhr eine Führung durch Kellergewölbe und Turm an. Damit ist die Entscheidung auch schon gefallen. Ich werde mich bis 15 Uhr ins Schloßcafé setzen und dann die Führung mitmachen.

Das Café ist in Räumlichkeiten untergebracht, die früher als Ankleideräume gedient haben. Hier befand sich die Garderobe der Schloßbewohner. Ich kann mir richtig vorstellen, wie man stundenlang in diesen Räumen damit beschäftigt sein konnte, anzuprobieren und auszuwählen, was man anziehen wollte.

Schloß Wernigerode 8 - KleinKurz vor Beginn der Führung geselle ich mich zu den anderen Wartenden auf den Hof. Pünktlich um 15 Uhr erscheint der Schloßmitarbeiter, der die Führung durch die Kellergewölbe und auf den Turm mit uns machen will. Mit der Turmbesteigung beginnen wir, vorbei an der Orgel und der Turmuhr - ein hochkomplexes mechanisches Gebilde - steigen wir die hölzernen Stufen hinauf. Oben angekommen, müssen wir aufpassen, vom heftig blasenden Wind nicht vom Turm geweht zu werden. Immerhin hat es aufgehört zu regnen. Dafür können wir in aller Ruhe rund um den Turm gehen und den herrlichen Ausblick genießen. In der Ferne erhebt sich der Brocken mit seinen weiß verschneiten Hängen, den Gipfel in die Wolken gesteckt und dadurch unseren Blicken entzogen. Tief unter uns breitet sich Wernigerode aus und ich gewinne zum ersten Mal einen Eindruck von der doch nicht gar so kleinen flächenmäßigen Ausdehnung der Stadt.

Der Abstieg vom Turm setzt sich, kurz nachdem wir den Hof wieder erreicht haben, mit dem Abstieg in die Kellergewölbe fort. Hier gibt es außer einer leeren schmalen Gefängniszelle mit einem Richtblock nicht allzuviel zu sehen, da nur ein sehr kleiner Teil der Gewölbe, die noch aus den Zeiten der Romanik stammen und daher deutlich älter sind als der restliche Schloßteil, zugänglich ist. Interessant ist, daß sich keiner der Teilnehmer der Führung - inklusive des Führers - traut, einem Jungen, der nach dem Zweck des Richtblocks fragt, diesen zu erklären. Jeder, der es versucht, ergeht sich in vielsagenden Andeutungen, mit denen der Kleine ganz offensichtlich nichts anfangen kann.Schloß Wernigerode 13 - Klein “Kopf drauf - und dann ist da aber mehr ab als die Haare, hoho!” Schließlich gibt er seine Frage auf.

Nachdem wir wieder in den Hof hinaufgestiegen sind, verabschiedet sich unser Führer von uns. Die Gruppe verläuft sich im Nu und ich steige durch das Treppenhaus wieder zur Schloßterrasse hinab. Ich gebe meinen Audio-Guide an der Kasse zurück, genieße noch ein wenig die Aussicht von der Terrasse - der Brocken versteckt sich noch immer in den Wolken - und mache mich dann nach einem Blick auf die Uhr an den Abstieg zur Stadt. Ich bin mehr als vier Stunden auf dem Schloßberg gewesen.
 

 

 

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