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Der zweite Tag

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© 2005-2009, Alexander Glintschert
Zuletzt geändert: Sonntag, 11. Juli 2010

Auf den Brocken und wieder hinunter

Für diesen Tag, den zweiten meines Urlaubs, habe ich mir vorgenommen, eine Tour auf den Brocken zu machen. Nun bin ich nicht so vermessen zu glauben, ich könnte da an einem Tag hinauf- und wieder herunterlaufen. In so guter Wanderverfassung bin ich leider nicht. Mindestens eine Strecke würde ich also anstatt zu Fuß mit einem Verkehrsmittel zurücklegen, das steht fest. Und was liegt da näher, als eine Fahrt mit der Brockenbahn zu unternehmen? Eine solche Fahrt gehört zum Brocken einfach dazu.

Brockenbahn - Dampflok 2 - KleinDie Brockenbahn ist eine Schmalspurbahn, die wohl jeden Eisenbahnnostalgiker in Begeisterung versetzen dürfte. Nahezu jeder Zug wird von einer schnaufenden Dampflok gezogen, die große Wolken weißen, manchmal, bei steileren Anstiegen, auch schwarzen Rauchs ausstößt, die sich dann in den Baumkronen der Wälder zu verfangen scheinen. Ein romantisch schöner Anblick, besonders, wenn diese Wälder tiefverschneit sind.

Doch soweit ist es noch nicht. In Wernigerode, wo ich die Fahrt beginne, liegt nämlich kein Krümelchen Schnee. Dennoch bin ich guter Dinge, die weiße Pracht heute noch zu sehen zu bekommen, hat mir doch einer der Angestellten im Hotel - vielleicht war es sogar der Chef höchstselbst, aber das weiß ich nicht mit Sicherheit; er sah jedenfalls sehr wichtig aus -, der mich am Vortag auf mein Zimmer geführt hatte, versichert, auf dem Brocken liege “satt Schnee”, wie er sich ausdrückte.

Das Wetter läßt nichts zu wünschen übrig. Sonne und ein strahlend blauer Himmel versprechen einen herrlichen Tag. In gemächlichem Bummeltempo zuckelt der Zug durch Wernigerode und schließlich in ein Tal hinein, in dem es langsam bergan geht. So richtig vorstellen kann ich es mir ja nicht, wie der Zug die bestimmt gut 700 Meter Höhenunterschied überwinden will, um bis auf den Brocken hinaufzukommen. Andererseits dauert so eine Fahrt gut eineinhalb Stunden - das sollte doch ausreichen, um die Bahn selbst so einen Berg wie den Brocken hinaufsteigen zu lassen.

So romantisch, wie ich mir die Fahrt vorgestellt habe, ist sie dann auch. Zumindest auf der ersten Hälfte. Später steigen nach und nach so viele Leute zu, daß sie am Ende wie die Heringe in einer Sardinenbüchse im Zug stehen. Sogar auf den Außenplattformen der Waggons ist schließlich kein Fußbreit Platz mehr zu ergattern. Für diese Mengen an Urlaubern fahren die Züge einfach viel zu selten. Da ich jedoch so glücklich bin, in Wernigerode, dem Startbahnhof der Fahrt, eingestiegen zu sein, habe ich noch einen Sitzplatz bekommen können, und so lasse ich mich’s nicht verdrießen und mir auch den zweiten Teil der Fahrt in aller Gemütlichkeit gefallen.

Und dazu habe ich auch allen Grund. Kaum sind wir aus Wernigerode heraus, beginnt der Wald. Von nun an geht es stetig bergan. Fahren wir anfangs in ein Tal hinauf, so verlassen wir dieses bald, und der Zug schlängelt sich immer am Hang der Berge entlang. Kurve folgt auf Kurve. Mal fahren wir an einer steilen, hoch aufragenden Felswand entlang, dann wieder an einem sanfter ansteigenden Hang mit dichtem Wald. Von einem Augenblick zum anderen bricht dieser plötzlich ab und gibt den Blick frei, so daß dieser auf ein herrliches Panorama fällt - auf der einen Seite das umliegende Gebirge mit seinen weiß bestäubten Gipfeln, auf der anderen in der Ferne die Ebene vor dem Bergland, von der Sonne weithin beschienen.

Jede Kurve bringt die uns ziehende, fauchende und weiße Rauchwolken ausspuckende Lokomotive in mein Blickfeld, die mit ihrem glänzend schwarzen Leib mit den leuchtend roten Streifen wie ein gutmütiger Riese wirkt. Je höher wir steigen, desto mehr vereinzelte Schneereste ziehen an uns vorbei, die sich bald zu größeren Feldern und schließlich zu einer dünnen, aber zusammenhängenden Decke verdichten. Es dauert gar nicht lange, und die ersten Schneehauben zeigen sich auch auf Bäumen und Sträuchern.

Schließlich erreichen wir den Flecken Drei Annen Hohne. Was der Name bedeuten mag, erschließt sich mir leider nicht. Hier müssen wir allerdings eine ganze lange Weile warten, ehe es weitergeht. Wahrscheinlich muß hier ein Anschlußzug abgepaßt werden, denn von hier zweigt die Brockenbahn von der sogenannten Harzquerbahn ab, die weiter nach Nordhausen führt. Als wir die Fahrt schließlich fortsetzen, sitze ich nicht mehr allein auf meiner Bank. Der Zug ist bereits merklich voller geworden, aber noch muß niemand stehen. Trotz der Kälte draußen ist es im Waggon angenehm warm. Allerbeste Voraussetzungen also für eine weiterhin schöne Fahrt. Und daß sie das wird, dafür sorgt die Landschaft, die sich vor den Fenstern des Zuges ausbreitet. Brocken - Winterwald - KleinHöher und höher klettert der Zug, dichter und dichter wird draußen die Schneedecke, dicker und dicker werden die Zipfelmützen und Hauben, die Mutter Natur aus Schnee gefertigt und Bäumen und Sträuchern aufgesetzt hat. Den Waldboden kann ich schon längst nicht mehr sehen. Nur hier und da lugt noch ein Felsen aus dem Schnee hervor; schwarz und düster hebt er sich von all der weißen Pracht ab.

Vereinzelt sind im Schnee Spuren auszumachen. Ob von Fuchs, Reh oder Hase, das ist für mich Großstädter vom fahrenden Zug aus nicht zu erkennen, so langsam die Fahrt auch vorangeht. Nur daß sie nicht von Menschen stammen, kann ich mit Sicherheit sagen.

Als wir Schierke erreichen, haben wir bereits eine gute Stunde Fahrt hinter uns. Mittlerweile befinden wir uns in der tiefverschneitesten Winterlandschaft, die ich seit Jahren gesehen habe. Der Zug wird nun brechend voll. Eine Stecknadel, von jemandem fallengelassen, dürfte den Boden wohl kaum erreichen, denke ich.

Doch was sich nun vor dem Fenster meinem Auge bietet, entschädigt mich allemal für das Gedränge im Zug. Schnaufend dampft die Lokomotive weiter bergauf und zieht uns in eine Landschaft, wie sie geradewegs aus Andersens “Schneekönigin” entnommen sein könnte. Während die Bäume immer kleiner und verkrüppelter werden - schließlich nähern wir uns mehr und mehr der Baumgrenze -, nimmt ihr Umfang dennoch immer mehr zu. Die Ursache dafür ist jedoch nicht etwa ausgleichende Gerechtigkeit, die die Natur hier vielleicht walten ließe. Im Gegenteil. Je höher wir kommen und je kleiner die Bäume werden - etwas anderes als Nadelbäume hält sich hier oben sowieso nicht mehr -, desto dicker wird die Schneeschicht, die diese Bäume überzieht. Frage ich mich zunächst noch, wie all dieser Schnee auf diesen Bäumchen überhaupt Halt findet, so bemerke ich bald, daß es sich längst nicht mehr um Schnee handelt, der auf ihnen lastet. Nein, sie sind allesamt von einer dicken Eisschicht eingehüllt, die sie völlig starr hatte werden lassen. Nicht einmal ein starker Windstoß hätte auch nur die leiseste Bewegung ihrer Zweige verursacht. Sie bilden einen Wald erstarrter, skurril geformter, wunderlicher Eisskulpturen. Von der schweren Last des Eises niedergebeugt, formen sie Figuren, in denen das phantasievolle Auge alle möglichen Fabelwesen erblickt. Hier eine Galerie von Greifen, uns mit gesenktem Kopf und angelegten Flügeln entgegenblickend, dort eine Brockenhexe mit knorriger Nase, die auf ihrem Besen angeritten kommt. An einigen dieser Eisfiguren haben sich Eiszapfen gebildet, die wie Schmuckstücke wirken, die sich diese Wesen zur Feier des Tages angelegt haben.

Und über all dem scheint die Sonne aus einem Himmel herab, wie er blauer nicht sein könnte. Ihre Strahlen brechen sich tausendfach in all den Schnee- und Eiskristallen um uns herum. Da ist ein Glitzern, Leuchten und Spiegeln ringsum, daß das Auge geblendet den Blick abwenden muß.

Schließlich lichten sich die Reihen der Skulpturen und hören endlich ganz auf. Der Zug durchfährt eine lange letzte Kurve zwischen hohen Schneewänden, verliert mehr und mehr an Fahrt und hält schließlich an. Wir haben den Gipfel erreicht.

Der Ausstieg gestaltet sich etwas schwierig. Der Bahnhof ist total vereist. Und damit meine ich nicht nur die Bahnsteige. Auch das Bahnhofsgebäude trägt eine dicke Eisschicht, und zwar an nahezu allen Seiten. Wenn man nun bedenkt, daß plötzlich Hunderte von Menschen aus dem Zug auf diesen Eisbahnhof strömen, die alle im selben Moment, da sie den ersten Fuß auf den Boden setzen, feststellen, daß sie es mit einem glatten, nur spärlich mit Sand bestreuten Boden zu tun haben, auf dem ein Vorwärtskommen nur bei äußerst vorsichtigem Auftreten möglich ist, wenn man desweiteren in Betracht zieht, wie völlig planlos und unkoordiniert, nur mit sich selbst befaßt und auf ihre Umwelt nicht achtend sich viele Leute durch die Welt und insbesondere in größeren Menschenmengen bewegen, dann bekommt man einen schwachen Eindruck davon, was kurz nach dem Halt des Zuges und dem Öffnen der Türen auf diesem Bahnhof los ist. Ein Gedränge und Geschiebe, ein Rufen, Winken und Schreien, ein Schubsen und Stoßen - auf dem Bahnsteig ist kein Vorwärtskommen mehr.

Doch schon haben einige Findige erfaßt, daß infolge des starken Schneefalls auch die Gleise stark verschneit sind, so daß man auf ihnen bequem laufen kann. Prompt tun sie das auch und ein großer Teil der Menge folgt ihnen. Nun ist aber, weil sich das Aussteigen eine ganze lange Weile hinzieht, mittlerweile die Lokomotive abgekoppelt worden, um sie über das Nachbargleis zum anderen Ende des Zuges zu führen. Kaum ertönt also das warnende Pfeifen der Lok, verschärft sich die Situation um ein Vielfaches, denn nun versuchen alle, die gerade auf dem Nachbargleis stehen, wieder auf den Bahnsteig zurückzugelangen. Dieser ist aber immer noch voller Menschen, denn es sind ja in der Zwischenzeit weiterhin Leute aus dem Zug ausgestiegen. Das Drängeln und Schieben hebt also erneut an, wenn es denn überhaupt schon einmal nachgelassen hatte - und diesmal wird von zwei Seiten geschoben und gestoßen. Links drängen Leute aus dem Zug, rechts wollen andere vom Gleis auf den Bahnsteig zurück. Ein Wunder, daß niemandem etwas Ernstes geschehen ist.

Brocken - Gipfel - KleinIrgendwie komme auch ich endlich aus diesem Chaos heraus, ohne mir etwas zu brechen. So schnell es geht, wende ich mich von dem Trubel ab und als erstes dem Gipfel zu, der im strahlenden Sonnenschein vor mir liegt. Ich kann nicht gerade behaupten, es handele sich bei dem, was ich nun zu sehen bekomme, um ein ausgesprochen schönes Ensemble. Es besteht aus einem turmartigen Bau - dem Brockenhotel -, einem hohen Sendemast - einem rein technischen Bau aus Stahl - und einem etwas futuristisch anmutenden Gebäude - dem Brockenhaus. Architektonisch nicht besonders beeindruckend - für meinen Geschmack jedenfalls. Interessanter ist da schon die Vollvereisung der Wetterseite der Gebäude, in Verbindung mit den riesigen Eiszapfen, die sich an den Dachkanten gebildet haben. Ein bißchen komme ich mir vor wie im arktischen Winter - wären da nicht die Hunderte von Leuten um mich herum.

Ich umrunde den Gipfel einmal und genieße den weiten Ausblick in das umliegende, tief unter mir liegende Land. Leider verschwimmt es schon in aufkommendem Dunst, der einen bevorstehenden Wetterumschwung ankündigt. Und in der Tat ziehen auch schon die ersten Wolken über den Himmel heran, die mit ihrem dunklen, drohenden Grau von schlechterem Wetter künden, so als ob mir mulmig werden solle, weil sie es über uns zu bringen gedenken.

Brocken - Rundblick - KleinEine eingehende Besichtigung der Ausstellung des Brockenhauses, die immerhin über drei Etagen reicht, spare ich mir. Sie kostete mich sicher ein oder zwei Stunden - doch ich will lieber noch ein wenig durch die Winterlandschaft wandern, denn wegen ihr bin ich ja schließlich unter anderem hierher gefahren.

Doch bevor ich mich dafür auf den Weg mache, will ich mir noch eine kleine Stärkung gönnen. Und so begebe ich mich in den großen Saal in der Brockenherberge bzw. im Brockenhotel, um eine Kleinigkeit zu essen. Als ich das Restaurant betrete, springen mir zwei Dinge ins Auge: erstens - es ist ein Selbstbedienungsladen, und zweitens - ich bin in einer Mensa gelandet, wie sie ungemütlicher wohl nicht sein kann.

In meinem Reiseführer steht dazu: “Unten bietet der große Saal mit Wandmalereien aus den zwanziger Jahren als Gaststätte zweihundert Menschen Platz.” Nun, da muß ich mich also nicht über meinen Eindruck wundern, denn was soll man erwarten, wenn das einzig Erwähnenswerte zu einem Restaurant die Zahl der Gäste ist, die es gleichzeitig aufnehmen kann. Aber genau das ist es, was einem sofort augenfällig wird, wenn man am Eingang am oberen Ende einer kurzen Treppe steht und in den Saal blickt. “Hier passen aber viele Leute rein”, mag der erste Gedanke so manch eines Besuchers sein, der so wie ich jetzt hier oben steht.

Unterstrichen wird dieser Eindruck noch durch die Aufteilung und Gestaltung des Raumes. Man betritt den Raum an einer der Schmalseiten, so daß man ihn, da man am Eingang leicht erhöht steht, der gesamten Länge nach überblicken kann. Am gegenüberliegenden Ende bemerke ich auf der rechten Seite die Geschirrückgabe, die allerdings nur aus ein paar fahrbaren Kästen besteht, in die man sein Tablett hineinschieben kann und die bei den dauernd anstürmenden Menschenmassen natürlich ständig nah an der Überfüllung sind. Links daneben hat ein Wernigeröder Mercedes-Autohaus zu Werbezwecken zwei Autos auffahren lassen. Ein wenig “Mittagessen im Autohaus”-Atmosphäre kann ja nicht schaden. Gebracht hat es wenig, denke ich. Mir fällt jedenfalls niemand auf, der stehenden Fußes zur Brockenbahn eilt, um zurück nach Wernigerode zum Autokauf zu dampfen.

Die beiden Längsseiten des Saales werden von einer Fensterfront rechts und der Essenausgabe links eingenommen. Letztere versprüht den Charme einer Mensa- oder Schulessen-Ausgabestelle. Das Essensangebot entspricht dabei eher einem mittelguten Schnellimbiß als einem sich als Restaurant bezeichnenden Etablissement. Die Preise sind das Einzige, was dem Restaurantstatus angemessen ist. Die erwähnte Fensterfront gibt einen malerischen Ausblick - auf den Wirtschaftshof. Ist etwas Schöneres denkbar?

Um diesen Gesamteindruck purer Gemütlichkeit abzurunden, sind die Tische für die Gäste in Form langer Reihen von Tafeln aufgestellt. Es gibt größere mit vielleicht zwanzig Plätzen und kleinere mit etwa zehn. Immerhin hat man sie quer im langgestreckten Saal aufgestellt und nicht längs. Sonst wären sie wohl endlos lang. Dafür stehen zwei benachbarte Tafeln so eng beieinander, daß zwischen ihnen niemand mehr durchgehen kann, wenn sie voll besetzt sind. Bedenkt man nun, daß hier eher Familien erscheinen als Gruppen mit zwanzig Personen, wird schnell klar, daß an jeder Tafel ständig Leute essen, während andere mit dem Essen bereits fertig sind und die Tafel verlassen wollen. Das Resultat ist ein dauerndes Geschiebe, Gerangel, Gefluche und Geschubse. Und weil die Tafeln alle nur von einer Seite - dem breiten Mittelgang - zugänglich sind, hat natürlich jeder das Bestreben, möglichst nah an diesem einen Platz zu ergattern, damit er nicht derjenige ist, der sich dann seinen Weg zwischen Tischen und Stühlen erkämpfen muß. Daher gibt es praktisch jederzeit freie Plätze, die aber nicht erreichbar sind, weil sie von weiter vorn an der Tafel Sitzenden blockiert werden.

Ich kann also jedem, der Sehnsucht nach Schulessen oder Mensagefühl hat, nur wärmstens empfehlen, auf den Brocken zu fahren und dieses Restaurant zu besuchen. Es lohnt sich!

Nachdem ich mir hier eine Portion Kartoffelpuffer gegönnt habe - von denen mir, das sei zur Ehrenrettung dieses Restaurants doch noch angemerkt, statt der versprochenen drei ganze vier Stück spendiert werden -, mache ich mich auf den Weg. Ich habe vor, vom Gipfel zum Bahnhof nach Schierke zu laufen, um dort dann den Zug zurück nach Wernigerode zu nehmen.

Brocken - Schneemauern - KleinIch reihe mich also in den Strom der Wanderer - oder sollte ich besser vorsichtiger sagen, der Laufenden? - ein, die die Brockenstraße abwärts pilgern. Kinder versuchen sich im Schlittenfahren, was ohne weiteres möglich ist, da die Straße keine sogenannte schwarze Räumung erfahren hat und somit über eine plattgewalzte und festgefahrene, aber immerhin einigermaßen gestreute Fahrbahn verfügt. Mit dem Schlitten aus der Kurve zu fliegen, ist praktisch nicht möglich, da die Straße von fest vereisten Schneewänden gesäumt wird, die an manchen Stellen mehr als einen Meter hoch aufragen.

Anfangs kommen mir eine ganze Menge Leute entgegen, die bergauf wandern. Ich frage mich, von wo sie wohl losgelaufen sein mochten und ob sie es wirklich auf sich genommen hatten, den Berg hinaufzusteigen. Meine Vermutung ist, daß es sich eher um Leute handelt, die vom Brockenbahnhof aus bergab gelaufen waren, irgendwann kehrtgemacht hatten und nun wieder aufwärts zum Bahnhof zurückgingen. Wie mir wenig später scheint, liege ich mit dieser Vermutung wohl richtig, denn je tiefer ich komme, desto weniger Entgegenkommende treffe ich an. Auch der Strom der in meine Richtung Wandernden dünnt langsam mehr und mehr aus.

Brocken - Skulpturen 2 - KleinNach einer kurzen Weile kehren die Eisskulpturen wieder, unter denen ich unschwer kleine verkrüppelte Nadelbäume ausmachen kann. Immer wieder einmal bleibe ich stehen, um eine besonders absonderlich wirkende Figur zu betrachten. Mit ein wenig Phantasie kann man sich hier ein ganzes Heer zu Eis erstarrter Brockenhexen vorstellen, die in mannigfacher Vielfalt von Gestalten hier überwintern mußten. Spätestens in der Walpurgisnacht würden sie jedoch wieder zum Leben erwachen, auf dem Brocken ein großes Feuer entfachen und ein rauschendes Fest mit allerlei schauerlichen Ritualen feiern. Dann wäre es für unsereinen sicher besser, nicht in der Nähe zu sein.

Je tiefer ich komme, desto mehr wandeln sich die Eisfiguren wieder in richtige Bäume um, die aber immer noch dicke Hauben aus Schnee tragen. Wenig später führt die Straße dann durch einen Winterwald mit hohen Bäumen, die ab und zu den Blick durch eine Schneise freigeben, so daß das umliegende Bergland mit silberweißen bewaldeten Hängen sichtbar wird. Auf einer Höhe von etwa 900 Metern zweigt nach links ein Weg von der Straße ab, mitten hinein in den Wald. Ein Wegweiser bedeutet mir, ihm zum Bahnhof Schierke zu folgen.

Brocken - Skulpturen 4 - KleinDa ich nur wenig Lust verspüre, die ganze Strecke auf der Straße zu wandern, und da der Weg gut sichtbar im Schnee ausgetreten ist, beschließe ich kurzerhand, ihn einzuschlagen. Nur wenig später weiß ich genau, wie richtig diese Entscheidung war. Was nun folgt, ist wohl der schönste Teil der Wanderung. Der Pfad - denn viel breiter als ein Pfad ist dieser Weg nicht - führt mitten durch den tiefverschneiten Wald. Doch wo die Räumfahrzeuge die Fahrbahn der Straße mitten in die Schneedecke hineingefräst hatten, so daß sie zwischen hohen Schneewänden entlanglief, ist der Schnee auf dem Weg nur festgetrampelt. Und so laufe ich hier direkt auf der Schneedecke entlang. Schnell merke ich, daß es besser ist, auf diesem festgestampften Pfad zu bleiben, denn als ich einmal einen Fußbreit davon abweiche, um einen entgegenkommenden Wanderer vorbeizulassen, stecke ich gleich bis zum Schienbein im Schnee.

Ich bin noch nicht allzulange Zeit auf dem Pfad, da bin ich bereits nahezu allein. Nur noch sehr vereinzelt kommt mir jemand entgegen, und einige Leute, die zu Anfang noch einige Meter hinter mir gewesen waren, lassen sich auch schon bald nicht mehr blicken. Der Schnee knirscht und knarrt unter meinen Schritten, und als ich einen Moment stehenbleibe, erstirbt auch dieses Geräusch. Ich stehe nun mitten im tiefverschneiten Wald, und kein Laut ist mehr zu hören. Alles ist vollkommen still, doch inmitten der weißen Landschaft auf eine freundliche, alles umfassende und umhüllende Weise. Nirgendwo ein Rascheln, kein Zwitschern eines Vogels. Nur vollkommene Stille. Ruhe und Frieden.

Brocken - Winterwald 3 - KleinEs ist ein wundervolles Gefühl, und der Frieden, der mich umgibt, überträgt sich auf mich. Tief atme ich die kalte, klare Luft. Schon lange habe ich mich nicht mehr so gelassen und ruhig gefühlt. Langsam wandere ich weiter und genieße die Ruhe. Nur von fern höre ich manchmal vereinzelt den langgezogenen Pfiff einer Dampflok.

Nach eineinhalb Stunden bin ich fast am Ziel. An einer Wegkreuzung weist mich ein weiterer Wegweiser zum Bahnhof Schierke und zeigt an, daß ich nur noch etwa einen Kilometer Weg vor mir habe. Allerdings verspüre ich noch längst keine Lust, schon am Ziel meiner Wanderung anzukommen. Und so setze ich sie kurzentschlossen zum Bahnhof Drei Annen Hohne fort.

Ich wandere so eine weitere knappe Stunde durch den Winterwald. Der Weg führt auf gleichbleibender Höhe am Hang der Berge entlang. Nach einer Weile kreuzt er einen Bach, der mich dann ein Stück begleitet. Munter plätschert er über Steine und unter überhängenden Eisschichten talwärts. Das lustige Rauschen des Baches stört die Stille und den Frieden des Waldes nicht im geringsten, sondern ergänzt sie sogar auf wunderbare Weise.

Brocken - Winterwald 7 - KleinWo Sonnenstrahlen die Baumkronen durchdringen und auf die Schneedecke treffen, brechen sie sich in tausenden kleiner Lichtreflexe. Verwundert bücke ich mich zu einer solchen sonnenbeschienenen Stelle im Schnee und bemerke zu meinem Erstaunen, daß die Oberfläche keineswegs eben und glatt ist, wie es von weitem den Anschein hat. Vielmehr besteht sie aus einer Schicht von Myriaden winzig kleiner Eiskristalle. Die gesamte Oberfläche der Schneedecke sieht aus wie ein Kristallmeer, ähnlich Salzkristallen, wie man sie manchmal in Bergwerken zu sehen bekommt. Doch genauso vergänglich wie der Schnee selbst ist auch seine kristallene Oberfläche, denn als ich aus einem Reflex heraus mit dem Finger über die Kristalle streichen will, bleibt nur eine eingekerbte Spur im Schnee zurück. Ich spüre die Kristalle kaum, als mein Finger diese Spur zieht. Manchmal ist es eben besser, einfach nur still und ehrfürchtig zu bewundern als direkt zu fühlen und zu erfahren, denn wie schnell ist das Schöne dadurch oft zerstört...

Bald darauf komme ich erneut an eine Wegkreuzung. Hier widerstehe ich der Versuchung, einem weiteren Wegweiser in Richtung Wernigerode zu folgen. Noch eine zusätzliche reichliche Stunde Weg würde für den ersten Tag mit Sicherheit zuviel des Guten sein. Und so mache ich mich an den Abstieg nach Drei Annen Hohne.

Der Weg führt nun wieder eine Straße entlang, die jedoch ziemlich steil abfällt. Und so, wie ich mit ihr an Höhe verliere, ändert sich auch das Aussehen der Winterlandschaft. Der Schnee wird zusehends pappiger und weicher, vereinzelt rutscht er bereits von den Bäumen. Wenig später liegt auf den Baumkronen gar kein Schnee mehr, und wenn auch die Schneedecke immer noch geschlossen ist, scheint sie hier doch schon sehr viel dünner zu sein. Kurz vor meinem Ziel zeigt sie dann jedoch auch einige Lücken hier und da.

Vom steilen Abstieg doch etwas ermüdet, erreiche ich schließlich den Bahnhof, wo, als hätte er nur auf mich gewartet, ein Zug nach Wernigerode zur Abfahrt bereitsteht. Er wird offenbar hier eingesetzt, denn er ist nahezu leer, so daß ich ohne Schwierigkeiten einen Sitzplatz bekomme, was mir, wie ich gestehen muß, jetzt mehr als recht ist.

So geht eine schöne Wanderung zu Ende, die ich so gar nicht von vornherein vorgehabt, sondern mir stattdessen spontan zusammengestellt habe. Aber oft sind es ja gerade die spontanen Dinge, die, aus dem Bauch heraus kommend, die schönsten sind. Denn folgt man ihnen, folgt man sich selbst.

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